Kalt, so kalt
Ich öffne meine Augen. Es ist schon ein Weilchen her, als ich das letzte Mal hier in diesem weißen Raum, den Ort an dem ich Ana zum ersten Mal begegnete, war. Er ist noch genauso strahlend wie zuvor. Keine erkennbaren Wände oder Decke und der weiße Boden unter mir. Doch etwas ist anders. Die Luft. Sonst war sie immer warm und kuschelig, doch jetzt ist sie eisig kalt. Ich zittere. Meine Zähne klappern und über meinen gesamten Körper zieht sich eine starre Gänsehaut. Schlotternd schlinge ich meine Arme um den Oberkörper. Ich blicke mich um. Wo ist Ana? Und warum ist es hier so kalt?
„Ich bin hier", ertönt Anas Stimme hinter mir. Hinter mir, natürlich. Sie ist doch immer hinter mir. Weiter zitternd drehe ich mich zu ihr um. Da steht sie, in den selben Klamotten wie eh und je. Schwarzer Rock, blaue Bluse. Barfuß. Helle Haut, beinahe so strahlend wie der Raum. Doch bin ich verwundert. Sie steht kerzengerade aber zugleich elegant da und lächelt mich an. Aber sie zittert nicht. Sie friert nicht. Bibbernd frage ich: „W-w-warum i-ist es hier so-so k-kalt?" Mit den Händen reibe ich schnell über meine Oberarme um sie zu wärmen. Ana lächelt mich an.
„Das liegt daran, weil dir auch außerhalb dieses Traums kalt ist. Die Temperatur in deinem Zimmer spiegelt sich in deinem Traum wieder. Du hast keine Decke und das Fenster steht offen. Du frierst dir gerade einfach wortwörtlich den Arsch ab." Sie kichert. Meine Zähne klappern immer heftiger aufeinander, während ich frage: „U-u-und w-war-rum frierst d-du n-nicht?" Sie kichert wieder.
„Sahra, ich bin immer noch einfach nur eine Erscheinung deines Unterbewusstseins. Ich kann keine Kälte empfinden. Du könntest mitten in der Arktis stehen und ich würde nicht frieren."
Ich nicke. „A-ah ja."
Mit jeder Sekunde scheint es kälter zu werden.
„A-Ana", sage ich und ich spüre, wie meine Beine unkontrolliert zittern. „I-ich ha-halte das ni-nicht aus. I-Ich ka-kann K-K-Kälte absolut n-nicht ab." Ich setze mich auf den kalten Boden und ziehe die Beine an. Mir ist so unerträglich kalt. Ana kommt auf mich zu und hockt sich neben mich. Sie nimmt meine Hand. „Halte durch Sahra, halte durch. Ja, es ist scheiße kalt, ja du frierst entsetzlich, aber es muss sein. Sahra, es muss sein, damit du dünn wirst, ja? Damit du so dünn wirst, wie du werden willst. Du musst nur durchhalten." Ich zittere weiter und schließe die Augen. Ich muss nur durchhalten, ich muss nur durchhalten, ich muss nur durchhalten, ich muss nur durchhalten.
Nein! Nein, ich kann das nicht. Es geht einfach nicht. Ich reiße die Augen auf und starre Ana an. Hektisch schüttel ich den Kopf.
„Nein! Das kann ich nicht!" Diese Kälte kann ich nicht aushalten. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich aus dieser Situation entfliehen kann. Ich muss aufwachen und mir meine Decke holen. Ana schüttelt den Kopf. „Nein Sahra, tu das nicht. Du musst durchhalten. Du musst Kalorien verbrennen. Du darfst jetzt nicht schwach werden." Doch ich schüttle nur den Kopf. Ich kann das nicht. Ich brauche meine Decke wieder. Ich brauche die Wärme, die Geborgenheit. Verzweifelt schüttel ich noch einmal den Kopf, atme einmal tief durch und bringe mich dann zum aufwachen.
Sahra öffnete die Augen. Sie lag in Embryonalstellung auf ihrem Bett und zitterte. Die Gänsehaut brannte ihr auf der Haut. Mit eiskalten Fingern tastete sie auf ihrem Nachttisch nach dem Lichtschalter ihrer Lampe. Sie fand ihn und knipste das Licht an. Schlotternd richtete sie sich auf und blickte zur Couch. Ihre Decke! Schneller als sie es sich zugetraut hätte, sprang sie von der Matratze auf und stürzte zur Couch. Sie wollte einfach nur noch ihre Decke haben. Gerade streckte sie die Hand sehnsüchtig aus, um die Decke zu ergreifen, da packte sie jemand von hinten an der Schulter und riss sie herum. Anas Gesicht war nur eine Handbreite von ihrem eigenen entfernt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie sie an und schüttelte den Kopf.
„Nicht Sahra, tu es nicht", flüsterte sie. Sahra verzog das Gesicht.
„Ich kann das nicht", hauchte sie zurück. „Ich halte das nicht aus." Sie drehte sich um, um die Decke zu nehmen, doch Ana ergriff ihre Hand.
„Bitte Sahra, nein. Du wirst es morgen früh bereuen, glaub mir."
„Das ist mir egal!", Sahra war lauter geworden. „Ana, wirklich, ich schaffe das nicht." Ana verstummte sah sie aber weiter bittend an.
„Warte kurz", sagte sie und blickte gedankenverloren zur Decke, „lass mich kurz überlegen." Sahra hielt inne, sie wollte sich gerade wieder umdrehen, und schaute Ana an, während diese nachdachte. Sie strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken. Dann klarte sich ihr Blick wieder und sie sah Sahra mit einer erhellten Miene an.
„Wie wäre es", fing sie an und begann zu lächeln, „wenn ich heute Nacht bei dir schlafen? Vielleicht hilft es dir ja zu wissen, dass ich bei dir bin und dann kannst du der Kälte besser standhalten. Was denkst du?" Sahra runzelte die Stirn. Könnte ihr das wirklich helfen? Sie sah zwischen Ana und der Decke hin und her. Wärme oder Kälte? Aufgeben oder stark bleiben?
„Sahra", sagte Ana bittend, „lass es uns wenigstens versuchen, ja? Okay?"
Sie zögerte. Sollte sie? Sollte sie weiter frieren? Aber dadurch würde sie Kalorien verbrennen. Aber sie hielt das nicht aus. Sie hielt das einfach nicht aus.
„Komm schon", flüsterte Ana, „lass es uns bitte versuchen." Und mit leicht geöffneten Mund, immer noch im hin und her mit sich selber, nickte sie.
Ana lächelte sie erleichtert an.
„Okay", sagte sie. „Na dann, komm." Sie zog Sahra zurück zum Bett.
„Ah, warte." Ana hielt inne. „Mit diesen Klamotten", sie zeigte auf ihren Rock und die Bluse, „ist schlafen ja nicht wirklich bequem. Hättest du etwas dagegen einzuwenden, wenn ich mir etwas anderes anziehe?" Sahra schüttelte den Kopf und lächelte matt.
„Warum sollte ich da etwas gegen haben?" Ana zuckte mit den Schultern, lächelte zurück und begann die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen. Wie gebannt sah Sahra ihr dabei zu. Gleich könnte sie ihren makellosen Körper wieder sehen. Ana kicherte.
„Du kannst meinen Körper gerne jederzeit sehen, du musst nur fragen." Sie zwinkerte ihr zu. Sahra verdrehte belustigt die Augen. Als Ana die Bluse auszog kam darunter statt des schwarzen BHs ein weites weißes Top zum Vorschein. Auch trug sie unter dem Rock eine hellgraue Stoff Hotpant.
„Meine Schlafsachen", erklärte sie. Sahra nickte. Ana schmiss ihre Klamotten auf die Couch.
„Na dann, ab ins Bett", grinste sie. Sie legte sich auf die Matratze, sehr nahe an die Wand, sodass noch genügend Platz für Sahra blieb. Mit der Hand klopfte sie vor sich auf das Bett. Sahra musste schmunzeln und legte sich zu ihr. Ana lächelte sie an und strich ihr über den Arm.
„Mach das Licht aus", sagte sie sanft. Sahra streckte sich zu dem Lichtschalter. Das Licht erlosch. In der Schwärze der Nacht konnte sie Anas Silhouette kaum noch erkennen doch sie spürte ihre Hand noch immer auf ihrem Arm. Ein paar Minuten lagen sie schweigend da, bis ihr eine Frage in den Sinn kam.
„Ähm, sag mal Ana, du bist ja nur eine, naja, äh, Halluzination von mir. Du kannst weder Türen öffnen noch Gegenstände hochheben, noch sonst so etwas."
„Ja", sagte Ana.
„Wie kann es dann sein, dass ich deine Berührung spüre oder, dass du mich festhalten kannst?" Sie hörte neben sich ein Kichern. „Hab mich schon gefragt, wann du das mal fragen würdest. Es ist so; dein Unterbewusstsein hat mich erschaffen. Ich bin eine Personifikation, ja? Und da ich in Gestalt eines Menschen auftrete habe ich auch menschliche Eigenschaften, die dein Unterbewusstsein deinem Bewusstsein simuliert. Es ist wie im Traum. Wenn du etwas träumst, dann spürst du auch dort Berührungen. Du spürst, wenn dich jemand anfasst, wenn der Wind durch deine Haare weht oder den Widerstand, wenn du gegen eine Wand rennst. Das ist das, was dir dein Unterbewusstsein vorspielt. Es lässt dich Berührungen spüren die eigentlich nicht real sind. So etwas kann das Unterbewusstsein. Und noch vieles mehr. Es ist sogar so fähig, dass es ganze Menschen, wie mich, erschaffen kann, mit eigenen Persönlichkeiten und mit eigenem Charakter und so weiter, und sie für dich, dein Bewusstsein, deine Wahrnehmung zum Leben erweckt." Sahra machte große Augen, die man in der Dunkelheit allerdings nicht sehen konnte.
„Echt jetzt?", fragte sie.
„Ja", sagte Ana, „aber es kommt noch besser: Ich habe dir doch mal gesagt, dass ich Dinge weiß, die du nicht weißt, weil diese Information nur in deinem Unterbewusstsein vorhanden sind, erinnerst du dich?"
„M-hm", machte Sahra.
„Und genau das kann dein Unterbewusstsein machen. Ich handele wie eine eigenständige Person, doch in Wahrheit werde ich von dir gesteuert, aber dein Bewusstsein, also du, bekommt davon nichts mit. Das macht alles dein Unterbewusstsein ohne dass du davon überhaupt weißt. Ich bin quasi eine Marionette und du bist, ohne es zu wissen, mein Puppenspieler." Sahra starrte sie mit offenem Mund an. Gott, das war alles so verwirrend.
„Ja, verwirrend, ich weiß, aber es geht noch mehr: Wenn dein Unterbewusstsein jetzt noch eine Person erschaffen würde, nennen wir sie mal Mia, könnten Mia und ich uns unabhängig von dir Unterhalten und uns austauschen. Wir könnten sogar ein Geheimnis vor dir haben, welches du nicht wissen würdest. Denn du kannst auf die Infos deines Unterbewusstseins nicht bewusst zugreifen, so könnten Mia und ich Dinge wissen, die du nicht weißt, obwohl wir eigentlich ein Teil von dir sind." Ana verstummte. In Sahras Kopf kreiselten die Worte umher. Das war viel auf einmal. Zu viel.
„Verstehst du?", fragte Ana und Sahra hörte das Grinsen heraus.
„Ich glaube schon", sagte sie langsam.
„Nur mal so als Beispiel", fuhr Ana fort. „Wenn du eine Kamera hier im Zimmer aufstellen würdest die dich filmt, während wir beide irgendetwas machen, dann würdest du die ganze Zeit nur mit der Luft interagieren. Du würdest die Luft umarmen und ohne ersichtlichen Grund könntest du deinen Arm nicht mehr bewegen, wenn ich ihn festhielte. Einfach, weil dein Unterbewusstsein dir das alles simuliert. Je stärker unsere Bindung ist, desto realer werde ich für dich."
„Ah ja...", sagte Sahra.
Sie hatte während Anas Erklärung die Kälte fast vollständig verdrängt, zu sehr hatte sie sich auf das Gesagte konzentriert. Und auch jetzt zitterte sie nicht mehr so gewaltig wie zuvor. Wahrscheinlich gewöhnte sie sich langsam an die Temperatur. Ana nahm ihre Hand.
„Schlaf gut", sagte sie. Eine Welle plötzlich aufkommender Müdigkeit erfasste Sahra und sie gähnte.
„Gute Nacht", murmelte sie und schloss die Augen.
Am nächsten Morgen als sie aufwachte war der Platz neben ihr leer. Ana war weg. Die Kälte ergriff sie wieder und sofort begann sie erneut zu zittern. Sie überlegte. Wenn Ana nicht da war könnte sie sich doch die Decke zurückholen, oder nicht? Außerdem fand sie, sie hatte jetzt genug gefroren. Einmal wollte sie jetzt noch unter ihre kuschelige Decke, wenigstens ganz kurz. Sie stand auf und schloss das Fenster. Das reichte mit der kalten Luft. Voller Vorfreude trug sie ihre Decke zurück zum Bett, breitete sie aus und schlüpfte drunter.
Oh Gott, das war so ein gutes Gefühl! Sie wickelte die Decke fest um sich und zog sie bis über die Nase hoch. Die Decke begann sich durch ihre Körpertemperatur langsam aufzuwärmen. Sie seufzte tief. Das war gerade einfach nur das schönste Gefühl auf Erden. Doch etwas regte sich in ihr. Eine Frage.
Musste sie schon aufstehen? War sie vielleicht vor ihrem Wecker wach geworden? Wie viel Zeit hätte sie dann jetzt noch? Und wenn nicht, hatte ihr Wecker dann etwa schon geklingelt und sie hatte ihn überhört? Sie zog ihr Handy hervor. Es war 5:52 Uhr. Ihr blieben also noch acht Minuten. Nicht viel Zeit, aber die wollte sie so lange wie nur möglich genießen. Sie schloss noch mal die Augen.
Als sie aufstand hatte ihr Wecker bereits das zweite Mal geklingelt. Nun war es schon Zehn Minuten nach Sechs. Sie hatte das Gefühl der Wärme und Geborgenheit einfach noch einen Moment länger auskosten wollen. Doch ewig konnte sie nicht liegen bleiben. Sie musste in die Schule. Schnell schnappte sie sich Klamotten und spurtete ins Badezimmer. Toilette, ausziehen, Waage. Kurz hielt sie inne. Wollte sie überhaupt wissen, wie viel sie wog? Nach dem Fressanfall gestern?
„Aber ich muss mich wiegen. Die Anzeige der Waage ist das Wichtigste."
Vorsichtig stellte sie sich auf die Platte. Die Zahlen auf dem Display sprangen hin und her, dann stand das Ergebnis fest. 45,7 Kilogramm. Sie presste die Lippen aufeinander. Scheiße, das war ein halbes Kilo mehr als gestern. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Ganz ruhig Sahra, ganz ruhig. Das ist nur das ganze Essen von gestern was noch in deinem Darm liegt, das ist morgen oder übermorgen wieder raus, dann bist du auch wieder leichter. Du hast gefressen, ja, aber das wird wieder. Das wird schon wieder. Du musst jetzt nur die nächsten Tage so wenig wie möglich essen, dann regelt sich das schon wieder. Sie biss sich auf die Lippe und räumte die Waage zurück, dann zog sie sich an. Die Küche war leer, als sie sie betrat. Auf dem Tisch lag ein Zettel. „Ich muss heute später zur Arbeit, stehe also später auf. Hab einen schönen Tag. Kuss, Mama." Sie fing an zu grinsen. Perfekt. Dann konnte sie das Frühstück weglassen, ohne dass ihrer Mutter etwas auffiel. Stattdessen trank sie zwei Gläser Wasser und füllte sich noch ihre Trinkflasche auf. Sie sah auf die Uhr. Obwohl sie heute zehn Minuten später aufgestanden war brauchte sie sich nicht zu hetzen. Dadurch, dass sie nicht frühstückte sparrte sie morgens immer ordentlich Zeit, was wirklich vorteilhaft war. Sie wollte sich gerade noch Kaugummis einpacken, da bemerkte sie, dass die Packung leer war. Missmutig verzog sie das Gesicht. Dann musste sie sich heute wohl neue kaufen. So steckte sie sich noch etwas Geld ein und trug ihre Tasche in den Flur. Der Plan für heute: fasten.
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