Ihre beste Freundin

Sahra weinte. Schon wieder. Mit dem Kopf auf den Knien und fest in der Decke eingewickelt weinte sie.
Wie konnte das nur passieren? Wieso war sie plötzlich so schwach geworden? Weshalb hatte sie sich nicht stoppen können? Warum hatte sie das alles gegessen?
Und was war mit Ana? Ihre Augen weiteten sich vor Angst und sie erstarrte. Was würde Ana nur dazu sagen? Ana wird sauer sein. Sogar richtig sauer! Sie wird schreien und toben, sobald sie das nächste Mal auftauchte. Aber das wäre nicht einmal das Schlimmste. Angeschrien zu werden könnte sie verkraften. Das Schlimmste wäre, dass sie Ana enttäuscht hatte. Und zwar in einem unvorstellbar hohem Maß.
Sie hatte ihre Versprechen Ana gegenüber gebrochen. Sie hatte gegessen. Sie hatte viel gegessen! Sie hatte Süßes gegessen! Und dadurch hatte sie zugenommen. Ana wird so wahnsinnig enttäuscht sein.
Eine neue Tränenwelle brach über sie herein und ihr Schluchzen wurde lauter.
Warum war sie schwach geworden? Sie wollte doch stark bleiben. Sie wollte doch durchhalten. Sie wollte doch... abnehmen.
Und jetzt hatte sie alles zunichte gemacht.
Sie umschlang ihre Beine und zog die Knie noch ein Stück näher an ihren Körper heran, um das Gesicht noch weiter darin zu vergraben.

Plötzlich spürte sie etwas. Dieses Etwas berührte ihren Unterarm. Ihr Kopf zuckte nach oben und die Kinnlade fiel ihr hinab. Da saß... da saß Ana!
Da saß Ana, neben ihr auf der Couch und blickte sie an. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, als Sahra sie mit großen Augen anstarrte.
Wie? Was? Was machte Ana hier?! Sie war doch... sie war doch nur in ihrem Kopf, wie konnte sie also aus Fleisch und Blut vor ihr stehen?!
Oder viel eher sitzen.
Wie war das möglich?
Ihre Stimme zitterte, als sie anfing zu sprechen: „A-Ana?" Ana lächelte sie weiter an und begann mit der Hand Sahras Unterarm zu streicheln.
„Was... wie... ich meine ähm, wie ist das möglich? Ich meine..." Sie hatte vor Verwirrung aufgehört zu weinen und schaute Ana nur mit aufgerissenen, verwunderten Augen an.
„Wie es möglich ist, dass du mich siehst, obwohl du nicht träumst?", half Ana ihr auf die Sprünge
Okay, sie träumte also nicht. Kurz hatte Sahra sich gefragt, ob sie vielleicht eingeschlafen sei, aber anscheinend war dem nicht so.
„Nun, das ist einfach: Ich bin dir erschienen." Ana lächelte eine Spur breiter während sie immer noch beruhigend ihren Arm strich.
„Aber, ich meine, wie–"
„–ist es möglich, dass ich dir erschienen bin? Lass es mich erklären: Die Bindung zwischen dir und mir ist stärker geworden. So stark, dass du mich jetzt auch in deinem „realen" Leben sehen kannst, ohne zu schlafen." Mit der linken Hand setzte sie das Wort „real" in Anführungszeichen.
„Ich kann dir jetzt in voller Gestalt erscheinen, oder um es kurz zu sagen: du halluzinierst."
Sahra schaute jetzt nur noch ungläubiger. „Was? Ich halluziniere? Heißt das nicht, dass ich krank bin?"
Ana nahm ihre rechte Hand in die ihre und strich mit dem Daumen über den Handrücken. „Nun, kommt darauf an, würdest du mich als eine Krankheit bezeichnen?"
„Natürlich nicht! Du bist doch keine Krankheit, du bist meine...", sie brach ab und schaute auf ihre Knie.
„Deine was?", fragte Ana mit sanfter Stimme. Sahra holte tief Luft und sagte: „Meine Freundin." Sie schaute auf und setzte nach: „Oder nicht?"
„Doch. Das bin ich. Ich möchte dir natürlich nichts vorschreiben, aber ich würde sogar behaupten, dass ich deine beste Freundin bin."
Jetzt lächelte auch Sahra und wischte sich die Tränen ab. „Ja, du bist meine beste Freundin."
„Na siehst du, das freut mich. Aber jetzt kommen wir zu einem unangenehmen Thema. Der Grund, warum ich hier bin." Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich in ernst um, sie strich jedoch weiter über Sahras Arm und Handrücken. „Du kannst dir bestimmt denken, warum ich hier bin."
Neue Tränen stiegen ihr in die Augen und sie vergrub ihr Gesicht wieder in den Knien. Dann schluchzte sie: „Ja, ja ich weiß. Ich weiß, ich weiß." Ihre Atmung wurde schneller und Ana legte einen Arm um sie.
„Sch, sch, ganz ruhig. Ganz ruhig. Ich bin nicht hier um dich anzuschreien. Beruhige dich, es ist okay, ja? Es ist okay." Sahra blickte ihr in die Augen. „Du... wirst mich nicht anschreien?"
„Nein, werde ich nicht. Versprochen", lächelte sie beruhigend.
„Aber warum nicht?", fragte sie und ihre Stimme wurde leicht hysterisch, „Warum nicht?! Ich habe es doch mehr als verdient! Ich habe gefressen und gefressen, mir Süßigkeiten in den Hals gestopft, die Versprechen an dich gebrochen und dadurch zugenommen! Ich habe versagt, ich bin schwach geworden, ich habe dich enttäuscht! Das ist nicht okay! Ist es überhaupt nicht! Das ist schlimm! Das ist falsch! Das ist schlecht! Ich hasse mich! Ich hasse mich so sehr dafür!"
Dann brach sie erneut in Tränen aus, heftiger als zuvor. Ana zog sie zu sich, drückte ihren Kopf gegen ihre Schulter und strich ihr immer wieder über den Rücken. „Sch... ganz ruhig Sahra, ganz ruhig. Ich werde dich nicht anschreien. Auch wenn du meinst, es verdient zu haben, ich werde es nicht tun. Deswegen bin ich nicht hier. Ich bin hier, um mit dir in Ruhe darüber zu reden. Um dir zu erklären, was da vorgefallen ist und warum es passiert ist. Und auch, um dir Tipps zu geben, wie du das in Zukunft verhindern kannst." Sie strich Sahra über die Wange und hob ihr Kinn an, „Okay?"
„Okay", schniefte sie.
„Also, was dir gerade passiert ist, war ein sogenannter Fressanfall, kurz FA. Das sind Phasen, in denen man sich mit Essen sozusagen Druckbetankt. Man stopft alles in Reichweite in sich hinein, ohne darauf zu achten, was und wieviel man davon isst. Man verliert die Kontrolle über sich und sein Essverhalten, das hast du sicherlich gemerkt, oder?" Sahra wischte sich über die Augen. „Ja, ja habe ich. Ich... ich habe einfach gegessen und gegessen und konnte nicht aufhören. Ich habe in diesem Moment irgendwie nichts gedacht. Also so wirklich gar nichts, nur daran, dass ich mehr essen wollte. Sonst hätte ich mich doch bestimmt gezügelt, oder nicht?", fragte sie, jetzt fast ängstlich.
„Nun, ja, du konntest nicht mehr klar denken, das ist richtig. Aber ob du hättest aufhören können, dass weiß ich leider nicht. Was ich aber weiß ist, dass du keinen übermäßig großen Fressanfall hattest, sondern einen, der sich noch in Grenzen hielt."
Jetzt war sie verwirrt. „Was, aber... mir kam das so viel vor, was ich gegessen hatte. Mein Bauch hat richtig weh getan, er tut immer noch weh. Mir ist richtig schlecht davon geworden. Und das war wirklich nur ein „mäßiger" Fressanfall?" Sie nahm ihren Kopf von Anas Schulter und schaute sie an.
„Dass dein Bauch danach weh tut ist normal. Und ja, es war tatsächlich nur ein mäßiger Fressanfall. Es gibt Menschen, die essen bei einem Fressanfall mehrere Pizzen und dann noch Schokoladen Tafeln, oder was auch immer sonst noch in ihrer Reichweite ist, hinterher. Es ist dabei vollkommen egal was man isst, Hauptsache man isst weiter. Das ist eben dieser Kontrollverlust. Bei regelmäßigen FAs führt es meist, unumgänglich, zu Übergewicht."
Sahra musste schlucken. Übergewicht, Scheiße. Nein, das wollte sie doch nicht. Sie wollte dünn und nicht fett werden. „U-und wie kann man das verhindern?" Ihre Stimme zitterte wieder. Ana seufzte. „Das ist schwierig. Es geht dabei eigentlich nur um Selbstbeherrschung. Bei einer Diät sind Disziplin und Selbstbeherrschung, oder Selbstkontrolle, das A und O. Man muss sich selber in den Griff kriegen, man muss selber auf sich achten, man muss von selbst widerstehen. Und das ist der Punkt, an dem viele scheitern. Sie scheitern bei der Selbstbeherrschung und daran, eben nicht zur Schokolade, sondern zum Apfel zu greifen. Sich selbst zu sagen „Heute wird nichts mehr gegessen". Sich selbst dazu zu bringen Sport zu machen und nicht nur faul rumzusitzen Da ist der Knackpunkt, an dem viele scheitern." Sie schaute Sahra ernst in die Augen. „Es liegt jetzt an dir, ob du scheiterst, oder nicht."

Sahra hielt für einen kurzen Moment die Luft an. War sie denn nicht schon gescheitert? Sie hatte doch schon versagt. Sie war doch bereits schwach geworden.
Aber wollte sie das? Nein! Natürlich nicht! Sie wollte stark sein, sie wollte ihre Selbstkontrolle verbessern, sie wollte nicht noch mal diesem Verlangen nachgeben, sie wollte es durchziehen! „Nein, ich will nicht scheitern."
„Sag „ich werde"."
„Ich werde nicht scheitern! Ich werde disziplinierter sein, ich werde in Zukunft meine Finger von Süßem lassen, ich werde es schaffen! Ich werde es schaffen dünn zu werden."
Ana lächelte wieder. „Schön. Sehr schön. Das sind deine Versprechen, aber wirst du es auch schaffen, diese einhalten zu können?" Sie zog die Augenbrauen hoch. Sahra setzte sich aufrecht hin und sagte mit kräftiger Stimme: „Ich will. Ich werde."
„Gut. Das ist gut. Also dann, welche Gegenmaßnahmen willst du jetzt ergreifen?" Sahra war mal wieder verwirrt. „Gegenmaßnahmen?"
„Gegen den Fressanfall. Was willst du jetzt dagegen tun?"
„Oh, äh, ich... ich werde Sport machen", sagte sie hastig. Ana nickte. „Genau, und wie viel?"
„Äh...", sie überlegte
„Bis du nicht mehr kannst", sagte Ana.
„Bis ich nicht mehr kann?" Anas Augen blitzten gefährlich auf. „Ja, bis du nicht mehr kannst. Du wirst jetzt Sport machen, bis du umfällst."
Sie zögerte kurz. „Äh, okay, wenn du das sagst."
„Ja, das sage ich." Ana erhob sich von der Couch und Sahra folgte. Sie ging zu ihrem Kleiderschrank und kramte nach neuen Sportsachen für sich. „Gut so", grinste Ana. „Ah, und eins noch,", Sahra drehte sich zu ihr um, „Stay strong." Sie lächelte und erwiderte „Stay strong."
Dann blinzelte sie und Ana war verschwunden.

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