„Hunger hurts but starving works"
Sie stand im Aldi vor der Süßigkeitenabteilung und suchte. Es juckte ihr in den Fingern sich einfach drei Tafeln Schokolade zu krallen, damit zur Kasse zu marschieren und eine direkt beim Verlassen des Ladens zu öffnen und aufzuessen. Ihr leerer Magen schrie danach, schrie nach etwas zu essen, doch war an Sahras Seite eine Person, die ihr verbot den Schreien nachzugeben. Ana stand neben ihr und hatte ihre Hand ergriffen. Sie hielt sie zurück.
„Was wäre mit denen?", fragte Sahra gedanklich und holte eine Packung Kaugummis aus dem Regal. Ana warf einen Blick darauf.
„Sind die zuckerfrei?"
Sie drehte die Packung und schaute auf die Zutatenliste.
„Nein", sagte sie.
„Dann nimm andere."
Sie stellte die Packung zurück und ergriff eine andere. Ja, diese waren zuckerfrei. Sie nahm noch eine zweite. Dann hätte sie einen kleinen Vorrat zuhause und müsste nicht ständig neue kaufen. Mit Ana, die ihr folgte, ging sie zur Kasse. Mit den Augen tastete sie die in der Wartezone aufgestellten Süßigkeiten ab. KinderCountry, Überraschungseier, Duplo, Kinderriegel, TicTacs, und kleine Pringles Döschen. Ana stellte sich in ihr Blickfeld und schirmte sie von dem Regal ab.
„Nicht dran denken Sahra", sagte sie sanft, „nicht dran denken."
Sie bezahlte und verließ den Laden.
„Nimm am besten jetzt schon einen Kaugummi, dann ist dein Mund beschäftigt", sagte Ana, als Sahra die beiden Dosen in ihre Mappe stecken wollte. Also öffnete sie eine der beiden Packungen und angelte einen Kaugummi heraus. Sie schob ihn in den Mund, lutschte kurz und biss dann drauf. Der minzige Geschmack gepaart mit der kalten Luft war keine gute Kombination. Fast bereute sie es den Kaugummi in den Mund genommen zu haben. Ana nahm wieder ihre Hand.
„Komm", sagte sie, „ab nach Hause." Sie machten sich auf den Weg.
Zuhause angekommen fand Sahra eine leere Wohnung vor. Ihre Mutter war anscheinend noch auf Arbeit. Ana grinste.
„Na perfekt. Niemand hier, der dich zum essen zwingen könnte."
Essen...
„Hör auf daran zu denken! Du hast einen Kaugummi intus, der deinen Appetit zügeln sollte. Komm, trink am besten zwei, drei Gläser Wasser, dann ist dein Magen zumindest erstmal voll." Sahra nickte und zog ihre Jacke und Schuhe aus. Doch so ganz ohne Jacke merkte sie, dass es in der Wohnung irgendwie kalt war. Sie räumte ihre Mappe in ihr Zimmer und drehte die Heizung aufs Maximum auf.
„Eigentlich wäre es besser, du würdest die Heizung abdrehen. Dann wird es kalt und du verbrennst wieder ein paar Kalorien", sagte Ana und schaute sie missbilligend an. Doch Sahra schüttelte den Kopf.
„Ne, Kälte kann ich absolut nicht aushalten. Letzte Nacht war schon schlimm genug." Ana seufzte, schwieg aber. Da die Heizung Sahra zu lange brauchte um wärmer zu werden holte sie aus ihrem Schrank noch einen dunkelroten Kapuzen Pullover heraus und zog ihn sich über. Jetzt war es besser. Danach ging sie in die Küche um zu trinken. Ein Glas. Zwei Gläser. Drei Gläser. Das Wasser schwappte in ihrem Magen und bereitete ihr ein Übelkeitsgefühl. Sie zwang sich zu noch einem halbem Glas, doch mehr ging nicht. Sie schluckte kräftig, doch wollte die Flüssigkeit nicht da bleiben, wo sie war. Sie spürte, wie sie ihre Speiseröhre wieder hinaufkletterte und begann Magensäure zu schmecken. Sie presste eine Hand auf den Mund und schluckte noch einmal mit aller Kraft. Nicht übergeben Sahra, nicht übergeben. Das Wasser wanderte wieder nach unten. Sie verbannte es zurück in ihren Bauch. Übrig blieb nur der eklige Geschmack der Magensäure, doch der Kaugummi kämpfte dagegen an. Sie drückte sich die andere Hand auf den Bauch und ging in ihr Zimmer. Obwohl sie heute nicht großartig viel, außer Schule, gemacht hatte, fühlte sie sich ausgelaugt und kraftlos. Ana, die sich auf die Couch gesetzt hatte, beachtete sie nicht weiter und legte sich einfach nur noch auf ihr Bett, richtete sich aber prompt wieder auf. Wenn sie lag fühlte sie das Wasser in ihrem Bauch drücken, was äußerst unangenehm war. Nein, liegen ging nicht. Ana sah sie an.
„Na wenn liegen nicht geht, dann kannst du doch etwas machen um Kalorien zu verbrennen, nicht?" Sahra stöhnte laut auf und sah sie mit einem echt-jetzt-Blick an.
„Das meinst du doch jetzt nicht im ernst, oder? Ana, ich fühle mich absolut erschöpft. Ich kann gerade wirklich nichts mehr machen." Mit einem Seufzen erhob sich Ana, lief zum Bett und setzte sich neben sie.
„Sahra, du musst aber etwas machen, sonst nimmst du zu, verstehst du? Irgendetwas musst du machen." Sahra lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. „Und was soll ich bitte machen?", fragte sie seufzend.
„Irgendetwas halt. Spazierengehen zum Beispiel." Sie sah Ana an.
„Ne. Sorry, aber echt ne. Es ist kalt draußen und ich habe absolut gar keinen Bock darauf jetzt raus zu gehen."
„Na dann bleib drinnen und lauf in deinem Zimmer hin und her. Das hast du doch schon mal gemacht, weißt du noch?" Sie nickte. Ja, das wusste sie noch. Das hatte sie gemacht nach dem Tag, an dem sie unfassbar viel Sport gemacht hatte und danach einen höllischen Muskelkater hatte. Da war sie kraftlos und ausgelaugt wie heute gewesen und hatte nach einer Möglichkeit gegoogelt, wie sie Kalorien verbrennen konnte ohne Sport zu machen. Spazieren gehen. Wie viel verbrauchte man da noch mal in einer Stunde? Einhundert Kilokalorien? Zweihundert? Es war zu lange her, als dass sie sich an diese Einzelheit noch erinnern konnte.
„Komm schon", sagte Ana und lächelte. „In deinem Zimmer umherzugehen wirst du ja wohl noch schaffen." Langsam nickte sie. Ja, das müsste sie doch noch schaffen. Auch wenn sie absolut lustlos war, irgendetwas musste sie machen. Und da Sport nicht ging und sie nicht frieren wollte, blieb das als einzige Option übrig. Also erhob sie sich, Ana streckte sich auf ihrem Bett aus, setzte sich ihre Kopfhörer auf um Musik zu hören und begann mit dem Laufen.
„You took my light, you drain me down, but that was then and this is now, now look at me!", sang Sahra mit ihrem Handy in der Hosentasche vor sich hin, dann holte sie tief Luft und schmetterte den Refrain: „This is the part of me that you never gonna ever take away from me! This is the part of me that you never gonna ever take away from me!" Doch unterbrach sie sich, als sie die Wohnungstür hörte. Sie pausierte den Song und ging in den Flur um ihre Mutter zu begrüßen, nur stand da noch jemand anderes im Flur. Elisa, eine Arbeitskollegin und gute Freundin von Marlene war zusammen mit ihrer Mutter in die Wohnung gekommen.
„Na Maus", sagte Marlene lächelnd, „alles gute bei dir?"
„Äh, ja", sagte Sahra langsam. Elisa drehte sich zu ihr um. „Na Sahra, wie geht–", sie verstummte. Sie betrachtete Sahra einmal von oben bis unten und runzelte die Stirn.
„Sag mal, kann es sein, dass du abgenommen hast?", fragte sie. Marlene wandte sich auch zu ihr. Sie musterte ihre Tochter. Tatsächlich, sie sah irgendwie anders aus. Dünner. Kurz schwiegen sie sich an, während Marlene und Elisa Sahra beäugten. Doch sie wusste, was sie zu antworten hatte, bei solchen Fragen. Das, was sie auch Maria in der Sportumkleide gesagt hatte.
„Ach naja, ich versuche mich momentan gesünder zu ernähren, lasse Nutella und so weg und versuche mehr Obst und so zu essen. Vielleicht liegt es ja daran." Sie zuckte möglichst unwissend mit den Achseln. Elisa nickte. „Ah ja", sagte sie, dann lächelte sie wieder. „Pass aber auf dich auf, ja? Nicht dass du uns noch zu dünn wirst."
Ana, die hinter Sahra durch die Zimmertür getreten war, lachte spöttisch auf.
„Zu dünn!", spuckte sie verächtlich aus. Sahra warf ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu.
„So Sahra, möchtest du mit uns vielleicht Kaffee trinken?", fragte ihre Mutter fröhlich. Sie setze wieder ein Lächeln auf und sagte: „Ach ne, ich hab gerade schon etwas gegessen."
„Na gut", sagte Marlene und ging in die Küche um Tee zu kochen. Sahra verschwand mit Ana wieder in ihrem Zimmer.
„Zu dünn!", äffte Ana Elisa erneut nach. „Alter, die soll ihre verdammte Fresse halten bei Themen von denen sie nichts versteht!" Sahra sah sie fragend an.
„Was meinst du damit?" Ana beruhigte sich wieder und sagte mit sanfter Stimme: „Ach naja, es hat etwas mit dem Zehnten Gebot zu tun."
„Oh, und wie heißt das zehnte Gebot?", fragte Sahra prompt und und sah sie gespannt an. Ana lächelte ihr zu.
„Dafür Sahra, bist du noch nicht bereit."
„Aber–"
„Glaub mir. Du bist noch nicht bereit dafür. Es wird noch etwas dauern, bis ich dich in das letzte Gebot einweihe. Aber hab Geduld, ja? Hab Geduld." Sie strich ihr über den Oberarm. Sahra seufzte, nickte aber. Dann musste sie wohl warten. Ana legte sich zurück auf das Bett. Kurz zögerte Sahra, dann fragte sie mit einem Lächeln: „Du hast mitbekommen, dass Mama und Elisa aufgefallen ist, dass ich abgenommen habe, oder?" Ana nickte.
„Ja, das habe ich mitbekommen."
„Also ich freu mich darüber." Sahras Lächeln verbreiterte sich.
„Das darfst du auch ruhig", sagte Ana ebenfalls lächelnd und richtete sich auf die Unterarme gestützt auf.
„Aber reicht das denn schon? Ist das denn schon genug?"
Ihr Lächeln verblasste und sie senkte den Kopf.
„Nein", flüsterte sie. „Nein, ist es nicht."
„Siehst du? Und jetzt hopp, tu was dafür, dass du dein neues Ziel erreichst und lauf weiter, ja? Lauf weiter."
Und Sahra lief weiter.
Gegen Acht Uhr Abends, die Sonne war schon seit Stunden untergegangen, verabschiedete sich Elisa und machte sich auf den Weg nach Hause. Zurück blieb Marlene, die gedankenverloren im Wohnzimmer saß und Sahra, die in ihrem Zimmer über ein Notizbuch gebeugt war und den heutigen Tag vermerkte.
Heutiges Datum, der 10.12. und das Gewicht von heute morgen. 45,7 Kilogramm. Dann ihre aufgenommenen Kalorien. Zum Frühstück: nichts. Zum Mittag: nichts. Zum Vesper: nichts außer einem Kaugummi. Zum Abendbrot: nichts. Und auch keine Snacks. Sie warf einen Blick zu ihrem Schrank, in dem die verklebte Box lag. Nein, keine Snacks. Insgesamt an diesem Tag: Fünf Kalorien (wegen des Kaugummis). Und, Ana hatte gesagt, sie solle noch eine neue Kategorie einfügen, verbrauchte Kalorien. Also die Kalorien, die sie durch Sport oder Bewegung den Tag über verbrannt hatte. Den Grundumsatz nicht dazugezählt.
Sie warf einen Blick auf die Health App auf ihrem Handy. Sie war heute 15.440 Schritte gelaufen, was 365 verbrannte Kalorien waren. Sie notierte diese Zahl. Gut. Das war gut. Und so sollte es auch morgen ablaufen. Fasten und ein paar Kalorien durch rumlaufen verbrennen. Das war der Plan. Und am Donnerstag Nachmittag durfte sie endlich wieder essen. Ana umschloss ihre Hand die den Stift hielt, da sie begonnen hatte leicht zu zittern.
„Schh", sagte sie. „Nicht weiter ans Essen denken. Das wird dich nur schwach werden lassen." Sahra nickte. Ihr Magen knurrte laut auf. Sie drückte eine Hand dagegen.
Scheiße, das konnte sie nicht aushalten. Noch nie war ihr bewusst gewesen, wie sehr ein leerer Magen schmerzen konnte. Das Hungergefühl schien sie von innen zu verschlingen und ihr Magen zog sich zusammen. Mit flehendem Blick sah sie Ana an.
„Bitte...", dachte sie und presste die Lippen aufeinander. „Bitte... ich hab so hunger."
„Nein Sahra, du darfst nichts essen", sagte sie sanft. „Merk dir meinen Spruch: „Hunger hurts but starving works". Merk es dir, sage es dir immer wieder auf, ja? Fasten wirkt. Fasten wird dir helfen. Du musst nur durchhalten." Sahra ließ den Kopf hängen, nickte aber. Ana lächelte sie an.
„Sehr gut. Und außerdem, nach dem ersten Tag fasten fängt man an sich an den Hunger zu gewöhnen. Es wird dann nicht mehr so schwierig sein noch etwas länger zu fasten, glaub mir. Und jetzt komm, geh etwas trinken, damit dein Bauch schweigt. Ich komm auch mit in die Küche." Sie nickte erneut und stand auf. Ana nahm ihre Hand und führte sie durch das Zimmer. Sahra öffnete die Tür und, sie vergewisserte sich, dass ihre Mutter im Wohnzimmer war, ging durch den Flur in die Küche. Ihr war absolut nicht nach trinken zumute, dennoch würgte sie ein volles Glas herunter. Dann trank sie ein paar Schlucke vom zweiten Glas, doch wollte es wieder nicht dort bleiben, wo es hingehörte. Sie drückte sich eine Hand auf den Mund und schluckte das aufkommende Wasser und die Magensäure wieder runter. Es floss wieder in ihren Magen und nur der eklige Geschmack blieb zurück. Sie warf Ana einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Mehr konnte sie nicht trinken. Ana nickte und lächelte wieder. Die beiden gingen zurück ins Zimmer.
Währenddessen saß Marlene im Wohnzimmer auf der Couch und sah fern. Doch hörte sie nur mit halben Ohr zu. Ihr ging nicht mehr aus dem Kopf, was Elisa gesagt hatte. „Sag mal, kann es sein, dass du abgenommen hast?"
Daraufhin hatte sie ihre Tochter ebenfalls gemustert und da war es ihr auch aufgefallen. Sahra sah dünner aus. Und ihre Antwort dann: „Ach naja. Ich versuche mich momentan gesünder zu ernähren. Lasse Nutella und so weg" – ja, Nutella aß sie gar keine mehr – „und versuche mehr Obst und so zu essen." – ja, Obst aß sie jetzt immer zum Frühstück – „Vielleicht liegt es ja daran."
Ja, vielleicht lag es daran. Sie wollte ihrer Tochter natürlich keinen Vorwurf machen, sie fand es gut, dass sie sich mit ihrer Ernährung auseinandersetzte, doch dass die so stark abgenommen hatte gefiel ihr irgendwie nicht. Wie viel wog sie wohl? Und dazu kam noch, dass sie sie nun fast gar nicht mehr beim essen sah. Morgens aß sie einen Apfel oder eine Banane oder so aber manchmal nahm sie das Essen auch mit auf ihr Zimmer, da sie ihre Tasche noch packen musste, und aß es dort. Dann nach der Schule behauptete sie immer, sie habe schon gegessen. Klar, ihre Brotdose war leer. Natürlich aß sie in der Schule und bestimmt auch Zuhause, sie bekam es einfach nur nicht mit.
Sahra aß doch und die Gewichtsabnahme konnte sie sicherlich auch irgendwie erklären. Da steckte nichts hinter, ihrer Tochter ging es gut. Sie zwang sich den Fernseher anzulächeln. Ihrer Tochter ging es doch ganz bestimmt gut.
Und während sie das dachte hielt sich Sahra den schmerzenden, leeren Bauch und versuchte sich auf das YouTube Video zu konzentrieren, welches sie zur Ablenkung schaute, während Ana neben ihr saß und ihr lächelnd immer und immer wieder über den Rücken strich.
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