Herr Bahlea schöpft Verdacht

Frierend erwachte Sahra. Sie hatte diese Nacht erneut ohne Decke und mit offenem Fenster verbracht. Gestern war sie zwar die Zwanzigtausend Schritte noch gelaufen, bis spät in die Nacht hinein, doch hatte Ana gesagt es wäre besser auch beim Schlafen noch ein paar Kalorien zu verbrennen. Zudem hatten sie beide, Ana und Sahra, noch überlegt, wie es jetzt die nächsten Tage weitergehen sollte. Der ursprüngliche Plan, bis Donnerstag Nachmittag zu fasten, war nicht aufgegangen, also hatte Ana vorgeschlagen, dass sie nun versuchen sollte den gesamten Donnerstag und Freitag zu fasten. Als Ausgleich. Sahra hatte dem Zugestimmt und dieses Mal wollte sie das auch schaffen. Mit fasten nahm sie in kurzer Zeit verdammt gut ab, das musste sie beibehalten. Ana hatte ihr auch erklärt, woran das lag. Die hohe Gewichtsabnahme rührte daher, dass die ganze alte Nahrung, die sie die Tage zuvor zu sich genommen hatte und sich in ihrem Darm befand, ausgeschieden wurde und nicht durch neue Nahrung ersetzt wurde. Das bedeutete, dass sie zwar Gewicht verlor, jedoch nicht an Körperfett, nur an unverwertbaren Reststoffen.
Zumindest vorläufig nicht. Wenn sie aber über einen längeren Zeitraum nichts aß, zapfte der Körper die Energiereserven an, was bedeutete, sie nahm dann auch tatsächlich ab. Aber, wie Ana ihr bereits gesagt hatte, musste man aufpassen, wenn man länger fasten würde. Esse man danach nämlich wieder ganz normal, setze der JoJo-Effekt ein und das wollte sie natürlich nicht. Sie hoffte, dass sie es heute und morgen schaffen würde, ohne dass ihre Mutter sie wieder zum Essen zwang.

Als sie aufstand spürte sie wieder die Schwäche in ihrem Körper. Zwar fühlte sie sich nicht ganz so schwach wie gestern Früh, jedoch trotzdem nicht besonders stark. Langsam schlurfte sie zu ihrem Kleiderschrank und dann ins Badezimmer. Sie war gespannt, was die Waage heute sagen würde. Hatte sie zugenommen, weil sie gestern essen musste, oder vielleicht doch abgenommen, weil sie davor so gut durchgehalten hatte? Oder war ihr Gewicht gleich geblieben?
Sie holte die Waage hervor, einmal tief durchatmen, und stellte sich rauf. Als das Ergebnis feststand hätte sie vor Freude und Erleichterung aufhüpfen können. 44,8 Kilogramm. Trotz der Tatsache, dass sie gegessen hatte, hatte sie ein wenig abgenommen. Zwar nur Zweihundert Gramm, aber alle mal besser als zuzunehmen. Fröhlich stellte sie die Waage zurück (ein zweites Mal würde ihr der Fehler von gestern nicht passieren) und zog sich an. Weiterhin fröhlich ging sie in sie Küche, doch verflog ihre Heiterkeit augenblicklich. Auf ihrem Platz am Esstisch lag ein mit Marmelade bestrichener Toast und in ihrem Glas war Saft. Sahra schaute von dem Teller zu ihrer Mutter.
„Iss bitte", sagte diese und wies auf Sahras Platz.
„Äh...", sagte sie. Ihre für einen Moment lahmgelegtes Gehirn begann wieder zu arbeiten. Was war mit ihrer Mutter in letzter Zeit bitte los, dass sie sie andauernd zum essen zwingen wollte? Wieso konnte sie das nicht bleiben lassen?! Sahra verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich esse morgens Obst, das weißt du", sagte sie und konnte sich einen zickigen Unterton nicht verkneifen. Marlene seufzte.
„Heute isst du aber bitte das hier." Sie zeigte wieder auf den Teller. Sahra schüttelte den Kopf.
„Nein, tu ich nicht", sagte sie.
„Sehr gut", sprach Ana in ihrem Kopf. „Zeig ihr, dass sie keine Macht über dich hat. Du bist dein eigener Herr, du bestimmst über dich. Sie kann dir nichts aufzwingen."
Marlene drehte sich um, griff in die Obstschale und holte eine Birne und eine Kiwi heraus.
„Gut, dann Obst. Aber das isst du jetzt bitte." Sie legte das Obst neben den Toast. „Komm, setz dich." Sahra stampfte grimmig an ihrer Mutter vorbei und ließ sich auf den Stuhl fallen. Sie schaute Marlene böse an.
„Und jetzt, iss." Sahra nahm die Birne und führte sie zu ihrem Mund. Anstatt aber abzubeißen ließ sie sie wieder sinken.
„Ich muss meine Tasche noch packen", sagte sie und blickte auf. Marlene antwortete knapp: „Erst isst du auf, dann kannst du deine Sachen packen." Wie um das zu verdeutlichen zog sie einen Stuhl vom Tisch, setzte sich und versperrte ihr so den Weg nach draußen. Wie gestern. Sahre starrte die Birne an. Scheiße, jetzt musste sie schon wieder essen. So würde das mit dem Fasten doch nie klappen! Ana meldete sich wieder: „Ist okay Sahra. Du kannst da gerade nicht drum herum kommen, du musst das jetzt leider essen. Dann musst du einfach versuchen heute noch so viel wie möglich zu verbrennen, damit sich das wieder ausgleicht. Ich bin dir nicht böse, wirklich, du kannst ja nichts dafür, ich bin aber stocksauer auf Marlene. Warum lässt sie dich nicht einfach in Ruhe?"
„Ich habe keine Ahnung", dachte Sahra. „Und ich bin auch echt sauer auf sie." Sie biss in die Birne.

Als sie aufgegessen hatte entließ ihre Mutter sie aus der Küche, sodass Sahra in ihr Zimmer konnte. Wütend stopfte sie ihre Bücher und Hefter in die Mappe und setzte sich dann mit fest verschränkten Armen auf die Couch. Innerlich kochte sie.
Ana erschien neben ihr. Sahra warf ihr einen kurzen Blick zu und starrte dann weiter ärgerlich vor sich hin.
„So Sahra", sagte sie, „Thema Kalorien. Hol dein Buch und schreib die Mahlzeit auf und, da du ja jetzt noch ein wenig Zeit hast bevor du los musst, würde ich vorschlagen diese Minuten so gut es geht zu nutzen um noch schnell so viele Kalorien wie möglich zu verbrennen. Damit das Frühstück wieder wett ist."
„Okay." Sahra nickte und holte ihr Ess-Tagebuch und einen Kugelschreiber. Dann googelte sie nach den Kalorien für die Birne und die für die Kiwi. Zusammen kam sie auf 164 Kalorien. Als das erledigt war überlegte sie kurz welche Sportübung sie nun machen sollte und entschied sich dann für Sit Ups. Sie legte sich auf die Couch und begann, während Ana weiter redete: „Es wäre auch gut, wenn du versuchst dich heute in der Schule so viel wie nur irgend möglich zu bewegen, damit du hier und da noch ein paar Kalorien verbrennst. Und wenn du wieder Zuhause bist musst du Sport, Sport und nochmals Sport machen."
„Oder laufen?", fragte Sahra während sie weiter Sit Ups machte. Ana seufzte. „Gut, oder laufen."
Kurz schwieg sie, dann sprach sie das an, worüber Sahra auch schon nachgedacht hatte: „Wir müssen uns etwas überlegen für den Fall, dass Marlene dich jetzt öfters zum Essen zwingen wird."
„M-hm", machte Sahra. Beide Mädchen überlegten.
„Ich glaube eine gute Möglichkeit wäre, wenn du versuchst Nachmittags außer Haus zu sein. Dann bist du nicht hier und kannst von niemandem zu irgendwas gezwungen werden. Außerdem bewegst du dich dann und verbrennst noch mal ein wenig. Zudem kannst du Marlene dann einfach sagen, wenn du wieder zuhause bist, dass du bereits in der Stadt etwas gegessen hast. Das wird sie ja schwer überprüfen können."
„Klingt gut", sagte Sahra und machte weiter. „Ich könnte mich doch auch mit Laila oder Maria treffen", überlegte sie und begann leicht zu keuchen. Ana verzog den Mund.
„Naja, können schon, aber dann wollen die dich wahrscheinlich zum Essen bringen. Besser wäre es wohl wirklich, wenn du alleine gehst. Natürlich nicht komplett alleine, ich komme sehr gerne mit." Sie lächelte. Sahra, die noch immer mit ihren Sit Ups beschäftigt war, warf ein: „Aber was soll ich so lange dann draußen machen? Ist doch total langweilig."
„Hmm...", Ana überlegte erneut. Sie sah Sahra kurz zu und ließ ihren Blick dann durch den Raum schweifen. Er blieb an Sahras Laptop hängen. Dann schnipste sie und sagte aufgeregt: „Uh, ich habe eine Idee. Du hast ja Netflix, nicht?"
„Ja", antwortete Sahra.
„Du könntest dir doch die App von Netflix einfach auf deinem Handy installieren, dich dort mit deinem Account anmelden und dir dann ein paar Filme runterladen. Die kannst du dann draußen gucken."
Sahra hielt in ihrer Tätigkeit inne. „Ja", sagte sie langsam, „das läge bestimmt im Bereich des Möglichen, das könnte ich machen. Aber auf dem kleinen Display? Da sieht man doch kaum was."
Ana verdrehte die Augen. „Echt jetzt? Was bist du denn für eine Mimose? Du guckst die ganze Zeit irgendwelche YouTube Videos über dein Handy, aber sobald es ein Film ist meckerst du rum. Du kannst dir natürlich gerne deinen Laptop mit nach draußen nehmen, aber ich hafte nicht für den Fall, dass er dir dann geklaut wird."
Seufzend richtete sich Sahra ein weiteres Mal auf.
„Nein, ich äh, alles gut. Stimmt, YouTube gucke ich, da werde ich ja wohl auch Filme gucken können, hast ja recht. Das war meckern auf hohem Niveau", sagte sie leicht verlegen. Ana, die wieder zu einem nicht zynischen Ton zurückkehrte, atmete einmal durch und lächelte dann entschuldigend.
„Alles gut. Sorry, dass ich dich so angefahren habe", sagte sie.
„Nein, nein, du hattest allen Grund dazu, ich war ja diejenige, die rumgejammert hatte."
Sie erwiderte das Lächeln. Dann überprüfte sie die Zeit. In wenigen Minuten musste sie los, also hörte sie mit den Sit Ups auf und schleppte ihre schwere Mappe in den Flur.
Da die Temperatur in den letzten Tagen bereits sehr niedrig war und auch diesen Morgen nicht gerade hoch kletterte packte sich Sahra in ihre dicke Jacke ein und wickelte ihren Lieblingsschal, er war mit Schottenkaro gemustert, fest um sich. Dieses Mal hatte sie an ihre Brotdose gedacht und entleerte den Inhalt bevor sie das Haus verließ in die Mülltonne. Dann, als die Tür hinter ihr zufiel gab Ana ihr noch den Tipp zur Haltestelle zu rennen, damit noch mal ein paar Kalorien verbraucht wurden, also fing Sahra an zu joggen, was mit der Mappe und der Jacke nicht gerade leicht war und machte sich auf den Weg in die Schule.

Trotz ihrer kuscheligen Winterjacke fror Sahra, sobald sie länger als eine Minute auf dem Hof stand, ohne sich zu bewegen. Gut, sie fror größtenteils an den Beinen, die wie Espenlaub zu zittern begannen, doch kroch der eisige Wind auch unter den Säumen ihrer Kleidung zu ihrer Haut durch. Sie biss die Zähne zusammen. Kälte war gut für sie, durch Kälte verbrannte ihr Körper Kalorien. Sie gab sich alle Mühe der niedrigen Temperatur und dem kalten Wind, der ihre Haare flattern ließ standzuhalten.
„Nur noch ein paar Minuten", redete sie sich ein. „Nur noch ein paar Minuten, dann kann ich rein." Sie wartete. Von Laila und Maria war keine Spur zu sehen. Als es endlich klingelte war Sahra sehr erleichtert darüber nun ein schützendes, wärmendes Gebäude um sich zu haben. Sie machte sich auf den Weg zum Geschichtsraum. Die meisten ihrer Klassenkameraden warteten bereits vor der Tür an die Wand gelehnt, unteranderem auch–
„Ach hier seid ihr", sagte Sahra lachend und umarmte erst Laila, dann Maria. „Hab euch schon unten auf dem Hof vermisst."
„Ja äh, sorry", entschuldigte sich Laila grinsend. „Wir haben uns auf dem Klo versteckt um nicht draußen in dieser Kälte sein zu müssen. War Miris Idee. Aber ich hatte dir eine Nachricht geschrieben, nur hast du die nicht gelesen."
Prüfend zog Sahra ihr Handy aus der Hosentasche. Tatsächlich.
„Sind im Klo im Zweiten Stock, komm zu uns, wenn du da bist" lautete die Nachricht. Sie zuckte mit den Achseln.
„Ja, hab ich nicht mitbekommen. Naja, jetzt ist es halt so."

Als ihr Lehrer Herr Bahlea den Raum aufschloss war auch der Letzte aus ihrer Klasse eingetroffen. Sich laut unterhaltend betraten die Schüler den Unterrichtsraum und verteilten sich auf ihre Plätze. Laila, Maria und Sahra bezogen ihre Tische in der Fensterreihe und packten die nötigen Materialien aus. Das Thema, was sie zur Zeit behandelten, war der Erste Weltkrieg. Und, wie hätte es anders sein können, bestand ihre Aufgabe darin einen Vortrag zu halten.
Sahras Augen weiteten sich und ihr Etui glitt ihr aus der Hand. Klatschend schlug es auf dem Boden auf. Der Vortrag! Den hatte sie nicht! Entsetzt starrte sie auf ihre Federtasche und dann zu Maria. Scheiße. Diese hatte ihr Plakat gerade aus ihrer Tasche gezogen und rollte es vor sich aus. Scheiße! Auch fast alle anderen hatten Plakate dabei. Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Maria, die Sahras Blick bemerkt hatte, stupste sie an.
„Alles okay, was ist los?", fragte sie und klang etwas besorgt.
„Ich habe den Vortrag völlig vergessen", flüsterte Sahra mit vor Schreck tonloser Stimme. Maria runzelte die Stirn.
„Was ist nur los mit dir? Du vergisst in letzter Zeit ja ständig etwas. Seien es Hausaufgaben oder Materialen für den Unterricht und auch deine Noten, soviel ich mitbekommen habe, sacken ab. Geht es dir irgendwie nicht gut? Bedrückt dich was?", fragte Maria ruhig, aber ernst, ebenfalls im Flüsterton. Sahra sah zur Seite.
„Keine Ahnung was los ist", murmelte sie schnell. „Ich vergesse Schulkram einfach irgendwie ständig, ich weiß auch nicht wieso." Doch wusste sie es. Sie wusste, weshalb sie Schule ständig aus den Augen verlor. Der Grund war Ana. Ana, die die ganze Zeit um sie herumtänzelte und ihr einbläute nichts zu essen. Sie verscheuchte den Gedanken. Nein, Ana traf keine Schuld. Es war ihre alleinige Schuld. Sie vergaß ja Schulzeug, nicht Ana, sie. Und Ana wollte ihr doch nur helfen. Ja, sie lenkte sie ab, redete jeden Tag über Essen, Kalorien und Kalorien verbrennen, aber das musste sie ja machen. Würde sie Sahra nicht permanent mit diesen Themen nerven –nein, nicht nerven, das war so ein böses Wort und Ana war ja nicht böse– würde Sahra das Abnehmen vergessen und wieder anfangen Schokolade und all so einen Kram zu essen, einfach, weil niemand mehr da wäre um sie aufzuhalten. Es war gut, dass Ana immer um sie herum war, dann hatte sie ja auch Gesellschaft. Sie musste es jetzt nur noch schaffen sowohl Abnehmen als auch Schule zu managen, dann wäre alles gut.

Sie seufzte. „Ich sag mal Herr Bahlea Bescheid, dass ich den Vortrag vergessen habe." Sie schlängelte sich durch ihre Klassenkameraden nach vorne zum Lehrertisch.
„Ähm", fing sie an, als sie angekommen war. Herr Bahlea sah zu ihr auf. Sahra wich seinem Blick aus und schlang die Arme schützend um den Körper. Sie krallte sich in den Stoff ihres Shirts.
„Ich ähm, wollte ihnen sagen...", Sahra holte Luft, „ich habe den Vortrag nicht dabei." Kleinlaut fügte sie noch ein „Entschuldigung" hinzu. Sie klammerte sich fester an ihr Shirt. Durch den Stoff ergriff sie ihr Fett an den Seiten und bohrte ihre Fingernägel durch das Gewebe in es hinein. Herr Bahlea sah sie ausdruckslos an.
„Das ist schade", sagte er. „Du hättest eine gute Note gebrauchen können." Sahra packte noch fester zu.
„Wäre es vielleicht möglich, wenn ich den Vortrag nächste Woche nachholen könnte?", fragte sie leise.
„Ja", sagte ihr Lehrer knapp. „Aber dann auch wirklich." Sahra nickte hastig und wollte gerade zurückgehen, da sagte Herr Bahlea: „Ich würde gerne nach der Stunde mal mit dir sprechen." Sahra drehte sich zurück.
„Äh, okay. Worüber?"
„Über deine Noten in letzter Zeit."
Sie biss sich auf die Unterlippe, nickte und kehrte zu ihrem Platz zurück.
„Und?", fragte Maria. „Alles gut gegangen?"
„Ich darf ihn nächste Woche nachholen", sagte sie erleichtert. Aber dann wurde ihr wieder mulmig. „Außerdem will er nach dieser Stunde mit mir reden." Maria runzelte die Stirn.
„Worüber denn?"
„Über meine Noten." Dann verstummten sie. Herr Bahlea machte Anstalten den Unterricht zu beginnen.
„So", sagte er, „da wären wir. Ihr wisst was heute ansteht und deswegen würde ich sagen beginnen wir gleich mit dem ersten Vortrag. Gibt es denn Freiwillige?" Niemand meldete sich. Das war kaum verwunderlich, da die gesamte Klasse im großen und ganzen eigentlich nicht gerade scharf auf Geschichte war und deshalb auch niemand als erster anfangen wollte. Ihr Lehrer blickte sich um.
„Ui, na so ein Ansturm, ihr seid ja alle richtig begeistert. Na gut, dann gehe ich einfach die Reihenfolge im Klassenbuch durch." Er klappte das Klassenbuch auf. „Also, Saskia Delling, dann mal nach vorne mit dir."

Als es zum Ende der Stunde klingelte war Phillip Maurraton gerade auf dem Weg nach vorne. Erleichtert, dass er den Vortrag nun doch nicht halten musste, ging er grinsend zu seinem Platz zurück, das Plakat in den Händen. Die Schüler begannen einzupacken, doch erhob Herr Bahlea noch einmal die Stimme: „Also, bevor ihr geht hört noch mal kurz zu! Nächste Woche kommen die restlichen von euch dran. Und an alle, die den Vortrag heute vergessen hatten, es ist auch nächste Woche eure letzte Chance. Nutzt sie." Damit war der Unterricht nun auch von seiner Seite aus offizielle beendet. Sahra, die noch zu dem Gespräch bleiben sollte, ließ sich ausgesprochen viel Zeit beim einpacken ihrer Sachen. Für ihr nächstes Fach, Physik, mussten sie den Raum wechseln und ihre Mappen mitnehmen. Ihre Klassenkameraden verließen allmählich den Raum.
„Wir warten draußen auf dich", sagte Maria noch schnell ehe sie und Laila ebenfalls gingen. Jetzt waren Sahra und Herr Bahlea alleine im Raum. Er kam zu ihr herüber und setzte sich auf den Tisch vor sie. Er sah sie an und schwieg. Sahra, die immer nervöser wurde, wich seinem Blick aus.
„Nun denn Sahra", begann er endlich, „deine Noten. Es ist mir hier in Geschichte aufgefallen und von meinen Kollegen habe ich erfahren, dass du auch in ihren Fächern nachgelassen hast." Sahra nickte und biss sich auf die Unterlippe.
Herr Bahlea war ihr Klassenlehrer. Vermutlich hatte er sich deswegen bei den anderen Lehrern über sie erkundigt um zu prüfen, ob sie insgesamt in allen Fächern schlechter wurde oder gerade nur in Geschichte.
„Außerdem", fuhr er mit ruhiger, jedoch ernster Stimme fort, „mache ich mir ehrlich gesagt Sorgen. Mir ist nicht nur aufgefallen, dass deine Noten tiefer gehen, sondern auch, dass du anscheinend abgenommen hast. Du wirkst dünner als früher und auch etwas kränklich. Deine Wangen sehen eingefallen aus und auch scheinst du immer sehr erschöpft zu sein. Als würde es dich eine ungeheure Anstrengung kosten hier zu sein." Er hatte sich leicht nach vorne gebeugt und versuchte mit Sahra Blickkontakt aufzubauen, doch diese wandte den Kopf noch unten und schaute zu Boden.
„Weißt du woran das liegen könnte? Bist du vielleicht krank?" Sie schüttelte schnell den Kopf.
„Nein, ich äh... also ähm, ich habe vor ein paar Monaten meine äh, Ernährung umgestellt." – Das stimmte ja auch – „Ich esse kein Fast Food oder Süßigkeiten und so ein Zeug mehr und achte darauf gesunde Dinge zu essen. Eventuell könnte es daran liegen, dass ich vielleicht Ein oder Zwei Kilo abgenommen habe, aber das wäre absolut unbeabsichtigt!" Herr Bahlea sah sie weiter an und schnell redete sie sich weiter raus: „Außerdem ja, äh, schlafe ich momentan nicht so gut und bin deswegen wahrscheinlich so müde." Er nickte langsam.
„Gut, okay. Aber pass auf dich auf, du darfst wirklich nicht zu dünn werden."
„ZU DÜNN!", kreischte Ana voller Zorn und Sahra zuckte zusammen.
„Äh, ja", sagte sie hastig, „ich passe auf." Sie zwang sich zu einem Lächeln während Anas wutverzerrtes Gesicht vor ihrem inneren Auge flackerte.
„Okay. Und noch etwas: du vergisst ja anscheinend in letzter Zeit des öfteren etwas," – um nicht zu sagen immer – „wäre es für dich eine Option dir zum Beispiel für jeden Tag einen Wecker zu stellen, der dich dann an Schule erinnert?  Vielleicht hilft dir das ja."
Sahra überlegte kurz, dann nickte sie zustimmend. Ja, einen Versuch war es wert. Herr Bahlea stand auf.
„Gut, das wäre es dann. Ich hoffe, dass es dir bald besser geht. Du bist so eine gute Schülerin und ich vermisse deine aufmerksame Teilnahme an meinem Unterricht. Eine schöne restliche Pause wünsche ich dir noch." Damit ging er zurück zu seinem Tisch und griff seine Tasche. An der Tür wartete er darauf, dass sie den Raum verließ, damit er abschließen konnte. Sahra schnappte sich schnell ihre Sachen und wünschte ihrem Lehrer beim Verlassen noch einen schönen Tag. Kurz blickte sie sich um. Laila und Maria waren nicht auf dem Gang. Sie zog ihre Jacke und den Schal an und ging die Treppe hinunter auf den Hof.
Da waren sie! Hinten, in der Ecke wo sie immer standen, warteten die Beiden und hatten die Nasen in ihre Physikhefter gesteckt. Sahra schritt über den Pausenhof zu ihnen herüber und warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr. 9:43 Uhr. Ein paar Minuten hatte sie noch, ihre Frühstückspause ging Zwanzig Minuten, um ebenfalls in ihren Hefter zu gucken und noch mal schnell die Notizen von letzter Woche zu überfliegen. Wer weiß, vielleicht hatte Frau Düßiger ja vor zu Beginn der Stunde einen Überraschungstest zu schreiben. Ju...hu.
Als sie sich zwischen Laila und Maria stellte hob Maria den Kopf.
„Und, alles okay?", fragte sie und sah sie besorgt an. Laila murmelte irgendwelche Merksätze vor sich hin, blätterte eine Seite um, dann sah auch sie auf. Sahra nickte beschwichtigend.
„Ja, alles gut. Er hat mir nur gesagt, dass ich versuchen muss mich besser an Hausaufgaben und so zu erinnern und", sie lachte, „dass er meine Teilnahme am Unterricht vermisst." Die Beiden wechselten einen Blick und nickten dann.
Laila schloss kurz die Augen, bewegte tonlos die Lippen und schaute dann wieder in ihren Hefter, offensichtlich um zu überprüfen, ob sie es sich richtig gemerkt hatte.
„Naja, verständlich", sagte sie dann. „Du warst immer eine der wenigen, die in Geschichte überhaupt aufgepasst haben. Klar, nicht immer, aber doch schon oft." Dann lachte sie auf und sah Sahra grinsend an. „Da erinnere ich mich gerade an die eine Stunde, in der irgendwie nur du und Herr Bahlea Unterricht gemacht habt und wir anderen irgendwas anderes gemacht haben. Da hatten wir Industrielle Revolution glaube ich." Dunkel erinnerte Sahra sich zurück. Maria war die ganze Zeit am Handy gewesen, das wusste sie noch und tatsächlich war sie, Sahra, wirklich die einzige gewesen, die sich in der gesamten Stunde überhaupt gemeldet hatte. Es war eine sich lang hinziehende Stunde gewesen und dann auch noch in einem Klassenzimmer mit Dreißig Grad Celsius. Aber sie hatte sich irgendwie konzentrieren können. Damals. Es schien ihr schon eine Ewigkeit her zu sein, dass sie sich das letzte Mal richtig konzentrieren konnte. Zumindest in der Schule.
Sie kramte ihren Physikhefter heraus und schloss sich den Beiden mit lernen an. Doch konnte sie die Informationen nicht festhalten. Sie laß ein und den selben Satz wieder und wieder, griff nach den Worten, versuchte sie sich einzuverleiben, doch glitten sie ihr durch die Finger und in Sahras Kopf blieb eine nebelige Leere. Sie versuchte sich an einem anderen Satz. Dann an einer Formel und dann an einem Gesetz. Doch nichts blieb hängen. Sie fühlte sich, als würde sie versuchen ein Nudelsieb mit Wasser füllen zu wollen. Es floss alles davon. Schließlich gab sie es mit einem resignierten Seufzen auf. Ihr Kopf hatte zu schmerzen begonnen und ihre Konzentration hatte sich auf und davon gemacht. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass sie doch keinen Test schrieben.
Als es klingelte verließen sie den kalten Hof und liefen durch das Wirrwarr aus Treppen und Korridoren zu den Wissenschafsräumen.

Als es nach weiteren Fünfeinhalb Stunden endlich zum Ende des Schultages klingelte hatten sich Sahras Kopfschmerzen in ein anhaltendes dumpfes Pochen verwandelt, weshalb sie die vergangene Zeit nur noch damit verbracht hatte sich im Unterricht die Schläfen zu massieren. Es war dadurch jedoch nicht besser geworden. Sie war nun einfach erleichtert endlich nach Hause zu können.
Ihren Magen hatte sie den Tag über erfolgreich zum Schweigen gebracht, indem sie ihre Flasche mehrmals nachgefüllt und ausgetrunken hatte. Maria hatte dieses Mal auf jeden Fall nichts mitbekommen und ihr auch nicht wieder eines ihrer Brote aufgeschwatzt. Doch der Hunger nagte an ihr. Heute morgen hatte sie zwar etwas gegessen, ihre Stimmung verfinsterte sich augenblicklich als sie daran dachte, doch war dieses Essen bereits aus ihrem Magen in den Darm gewandert, wodurch ihr Magen wieder absolut leer war. Aber sie durfte nichts essen. Sie hatte bereits gegessen und das war schon zu viel gewesen! Würde sie heute noch mehr essen, würde sie nie die Vierzig erreichen. Stumm seufzte sie. Vierzig Kilogramm. So viel hatte sie seit wahrscheinlich Sechs Jahren nicht mehr gewogen. Aber da würde sie hinkommen. Sie musste einfach. Sie sah es ja an sich selbst und sie sah es an Ana. Ana war dünn, sie selbst war dick. Aber sobald sie bei Vierzig Kilo wäre, wäre sie auch dünn. Wirklich dünn. Sie lächelte. Dann wäre das ganze eklige, ungesunde Fett endlich weg und sie wäre so dünn wie Ana. Das war ihr Ziel, so zu werden wie Ana. Denn Ana war perfekt. Sie war die Perfektion in Person. Mit ihrer schneeweißen, makellosen Haut, den großen, durchdringend, blauen Augen, dem voluminösen, langen, schwarzen Haar, den hohen Wangenknochen und dem absolut schlanken Körper.
Sie sah sie vor sich. Sie sah Ana genau vor sich. Jedes Detail ihres reinen Körpers leuchtete vor ihren Augen auf. Und dann tauchte ein zweiter Körper, eine zweite Person, neben ihr auf. Sie selbst. Und sie ekelte sich. Sie sah das ganze Fett, was ihr noch auf den Hüften lag und ihre Knochen bedeckte. Ihr pickliges Gesicht, ihre hässlichen blonden Haare, die trüben grauen Augen und eine Haut übersäht mit Makeln. Das war sie. Das war sie und sie war eklig. Absolut eklig.
Traurig fragte sie sich, wieso Laila und Maria überhaupt mit ihr befreundet waren, wo sie doch so abstoßend war. Oder das Ana, oh Ana, gerade zu ihr gekommen war um ihr zu helfen, an ihr zu arbeiten, wo sie doch eine so große Baustelle war. Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen, doch schlich sich auch ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, während sie an der Straßenbahnhaltestelle wartete. Sie verstand zwar nicht, warum Ana, Laila und Maria mit ihr befreundet waren, wo sie diese Freundschaft doch überhaupt nicht verdient hatte, aber sie war froh darüber. Einfach froh. Noch nie hatte sie sich so glücklich gefühlt Freunde zu haben.

Ihr leichtes Glücksgefühl hielt nicht lange an. Dann kamen die Zweifel wieder.
Warum hatte sie überhaupt Freunde?
Waren sie nur aus Mitleid mit ihr befreundet?
Waren sie von ihr genervt?
Fanden sie sie vielleicht genauso abstoßend, wie sie sich selber wahrnahm?
Machten sie sich hinter ihrem Rücken über sie lustig, weil sie so eklig war?
Mit aller Macht versuchte sie die Tränen zurückzuhalten, in der Straßenbahn wollte sie nicht anfangen zu weinen, und flüchtete sich zu Ana. Und Ana empfing sie mit offenen Armen, strich ihr tröstend über den Rücken und redete sanft auf sie ein. Als Sahra sich soweit beruhigt hatte kam Ana mit einem neuen Thema um die Ecke: wie ging es jetzt weiter?
Die Situation, so sagte Ana, sei sehr heikel. Sie mussten vorsichtig sein, denn schon mehrere Menschen hatten bereits Verdacht geschöpft. Maria, Marlene, Elisa und Here Bahlea. Und am gefährlichsten war Marlene. Wenn diese herausfände, was ihre Tochter triebe, dann, da war sich Ana sicher, würde man sie und Sahra voneinander trennen und Sahra zwingen wieder Zehn Kilo zuzunehmen. Und davor grauste es Sahra. Ihre ganze harte, mühevolle Arbeit würde umgestoßen werden und das Schlimmste: Ana wäre dann nicht mehr da. Sie würden Ana ihr wegnehmen und das konnte sie nicht zulassen. Sie durfte Ana nicht verlieren.
Schließlich waren sie zu folgendem Entschluss gekommen: Sahra sollte nur dann noch etwas essen, wenn sie von ihrer Mutter dazu gezwungen würde und es keinen Ausweg aus dieser Situation gäbe. Das wären die einzigen Mahlzeiten, die sie zu sich nehmen würde, die restliche Zeit über sollte sie fasten. Damit war Sahra einverstanden. Der Plan klang gut, nur dann essen, wenn es wirklich sein musste, sonst nicht. Hoffentlich würde sie so auch weiter abnehmen.
Und Sport. Sport musste sie auch wieder machen. Ob sie Lust dazu hatte oder nicht, sie musste die Kalorien wieder verbrennen. Sobald sie Zuhause wäre würde sie sich in ihr Zimmer zurückziehen und Sport machen. Ana würde sie dabei motivieren.

Ihr Schlüsselbund klirrte als sie die Wohnungstür aufschloss. Mit eiskalten Fingern, morgen würde sie definitiv Handschuhe tragen, umklammerten sie die Klinke und drückte die Tür, nachdem sie eingetreten war, wieder zu.
„Bin wieder da!", rief sie, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter sie ohnehin gehört hatte. Diese kam aus dem Wohnzimmer in den Flur um ihre Tochter zu begrüßen.
„Na Maus", sagte sie lächelnd, „wie war dein Tag?"
„Nicht so gut", antwortete Sahra und zog ihre Jacke aus. „Ich habe in der Schule richtig starke Kopfschmerzen bekommen." Als Untermalung faste sie sich mit den Händen an den Kopf und schloss die Augen. Marlene sah sie besorgt an.
„Oh, das ist nicht gut, hast du genug getrunken?"
Sahra seufzte. „Ja, habe ich. Ich äh, ich lege mich jetzt einfach eine Weile hin." Ihre Mutter nickte.
„Ja, mach das. Aber nachher essen wir zusammen, okay?"
„Von mir aus", brummte sie und trug ihre Mappe in ihr Zimmer. So, jetzt hatte sie erst mal Ruhe von ihrer Mutter. Diese würde sie ja wohl kaum stören, wenn sich ihre Tochter gerade aufgrund von Kopfschmerzen ausruhen wollte. Und in der Zeit konnte sie Sport machen.
„Und außerdem", meldete sich Ana aus dem Hintergrund, „kannst du nachher so tun, als würdest du schlafen, wenn Marlene dich zum Essen holen will. Dann musst du nicht mitessen."
Sahra grinste. Das klang gut. Das klang sogar sehr gut.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top