Gezwungen
Viel zu spät und außer Atem erreichte Sahra ihr Klassenzimmer. Sie klopfte und wartete. Einige Sekunden später wurde die Tür geöffnet und ihre Französischlehrerin sah sie böse an.
„Entschuldigung, dass ich zu spät bin", keuchte sie. Frau Schulte trat beiseite und ließ sie hereintreten. Sie huschte durch die Tischreihen zu ihrem Platz neben Maria.
„Na", flüsterte diese, „alles gut? Warum so spät heute?" Sahra hängte ihre Jacke über die Stuhllehne und kramte schnell ihre Französischsachen heraus.
„Ach, keine Ahnung, ich hab irgendwie die Zeit aus den Augen verloren", flüsterte sie zurück. Frau Schulte fuhr mit ihrem Unterricht fort und Sahra versuchte sich so gut es ihr möglich war zu konzentrieren.
Während der gesamten Stunde knurrte Sahras Magen wieder und immer wieder und lenkte sie ab. Sie hatte so Hunger. Ihre Aufmerksamkeit schwand dahin doch versuchte sie dennoch dem Unterricht mit glasigen Augen und mit auf der Hand abgestütztem Kopf zu folgen. Maria warf ihr von der Seite ständig Blicke zu, doch Sahra bekam es nicht mit. Sie kritzelte auf einer Seite ihres Hefters herum und versuchte ihre Gedanken überall hinzulenken, nur nicht in Richtung Essen.
Als es klingelte hüllten sie sich in ihre Jacken, schulterten die Ranzen und gingen zur Frühstückspause hinunter auf den Hof. Sie stellten sich in ihre gewohnte Ecke und Laila und Maria öffneten ihre Brotdosen. Sahra konnte nicht anders und warf einen Blick hinein. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie die belegten Brote sah. Maria warf ihr noch einen Blick zu, dann nahm sie eines ihrer Brote heraus und hielt es Sahra hin.
„Hier", sagte sie, „nimm es. Ich habe deinen Bauch in Französisch die ganze Zeit knurren hören. Du musst ja einen heiden Hunger haben."
Wie erstarrt blickte Sahra auf das Essen und dann zu Maria. Schnell sagte sie: „Äh, ne, das muss nicht sein, wirklich." Doch Maria hielt ihr das Brot weiter hin.
„Keine falsche Bescheidenheit."
„Aber...", Sahra suchte hektisch nach einer Ausrede, „äh, ich habe echt keinen Hunger. Ich hab gefrühstückt, wirklich."
„Das hört sich aber nicht so an", sagte Maria und sah ernst aus. „Und jetzt nimm endlich." Zögerlich ergriff Sahra das Brot und starrte es an. Maria begann derweil zu essen. Scheiße, wie sollte sie da denn jetzt drum herum kommen? Sie konnte jetzt doch nichts essen, sie musste fasten! Sonst würde sie zunehmen!
„Ana?", flüsterte sie in ihren Kopf hinein. „Bitte schnell, ich brauche deine Hilfe!" Und Anas Stimme erklang in ihren Gedanken.
„Keine Sorge", sagte sie ruhig, „ich habe einen Plan."
Schnell erklärte Ana Sahra was sie zu tun hatte und innerlich nickte sie. Ja, das war gut. Das musste klappen. Langsam und darauf bedacht, dass Maria zusah, biss sie in das mit Gurke belegte Brot. Dann wandte sie sich ab, tat so als würde sie sich umsehen und führte eine Hand zu ihrem Gesicht um den Eindruck zu erwecken sie würde sich kratzen und holte das abgebissene Stück aus ihrem Mund heraus. Das sich nun in ihrer Hand befindende Brotstück ließ sie in die Tasche ihrer Jacke gleiten und drehte sich kauend wieder um. Maria lächelte ihr zu und aß weiter. Sahra lächelte zurück, biss wieder ab, künstelte einen Niesanfall vor, drehte sich weg und ließ auch den zweiten Bissen aus ihrem Mund in die Hand und dann in ihre Tasche wandern. Wieder drehte sie sich kauend zurück und schluckte nichts als Speichel hinunter. Ein drittes Mal biss sie ab, täuschte dieses Mal ein Gähnen vor, hielt sich die Hand vor den Mund und holte auch dieses Stück heraus. Als sie auch jenes in ihrer Tasche versteckt hatte sagte sie: „Ich muss mal aufs Klo, bin gleich wieder da." Laila schloss ihre Brotdose.
„Ich komm mit", sagte sie fröhlich.
„Ich auch", schloss sich Maria an.
Sahra wurde nervös. Verdammt! Eigentlich war der Plan gewesen das Brot jetzt zu entsorgen, doch ging das nun nicht mehr, da die beiden mitkamen. Anas Plan ging nicht auf. Sie machten sich auf den Weg zu den Mädchentoiletten und Sahra überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun könnte. Doch Ana meldete sich wieder.
„Nur keine Panik, du machst jetzt Folgendes."
Sahra ließ sich ein paar Schritte zurückfallen, sodass sie hinter Maria und Laila lief und riss die Hälfte vom Brot ab und steckte es zu den anderen Stücken in ihre Tasche.
Als sie beim Klo ankamen traten sie ein und fanden drei leere Kabinen vor. Sahra ging demonstrativ an ihren Freundinnen vorbei zur hintersten Kabine und offenbarte Maria dadurch das restliche Brot in ihrer Hand um ihr zu zeigen, dass sie fast aufgegessen hatte. Sie verschloss die Tür hinter sich und beugte sich über die Schüssel. Leise holte sie die abgebissenen Stücke aus ihrer Jackentasche und ließ sie vorsichtig, sodass keine Spritzgeräusche zu hören waren, in das Toilettenwasser gleiten. Das große, abgerissene Stück zerpflückte sie in kleinere Teile, genauso wie das, was sie noch in der Hand hatte und legte sie zu dem Rest in die Toilette. Dann erhob sie sich, zog die Hose runter, setzte sich auf die Klobrille, tat so als würde sie pinkeln und spülte Marias Brot anschließend in die Kanalisation hinunter. Ein schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit, doch verscheuchte sie es. Die Alternative wäre es gewesen es zu essen und das ging nicht. Sie musste fasten. Hätte sie gegessen würde sie zunehmen und das wollte sie auf keinen Fall. Das war die einzige Möglichkeit gewesen das Brot loszuwerden. Sie verließ die Kabine und wusch sich die Hände. Maria, die schon fertig war, sah sie prüfend an.
„Wo ist mein Brot?", fragte sie.
„Da drin", Sahra wies auf ihren Bauch. Langsam nickte Maria.
„Ah, okay. Hat es geschmeckt?"
„Klar doch, ich mag Gurke", sagte sie lächelnd.
Eine Spülung wurde betätigt und Laila kam heraus.
„Echt, du hast das hier gegessen?", fragte sie ungläubig. „Ich finde Toiletten ja jetzt nicht gerade appetitlich." Sahra zuckte nur mit den Achseln. Sie verließen das Klo wieder und stellten sich zurück auf den Pausenhof.
Als es dann klingelte gingen sie in Richtung der Wissenschaftsräume, da sie nun Chemie hatten. Und da trinken in diesen Räumen verboten war leerte Sahra ihre Flasche schnell um ihren Magen zum Schweigen zu bringen, damit Maria ihn nicht noch einmal knurren hören würde.
Der restliche Schultag verging, ohne dass Sahra es schaffte sich länger als zwei Minuten am Stück auf den Unterricht konzentrieren zu können. Das Hungergefühl zerrte an ihr und sie bekam Bauchschmerzen von der ewigen Leere in ihrem Magen. Als die Schulklingel endlich das Ende des Unterrichts verkündete seufzte Sahra erleichtert auf. Sie stopfte ihre Materialien in ihre Tasche und sprang auf. Doch auf einmal schien der Fußboden unter ihr nicht mehr eben zu sein. Die Welt drehte sich und Sterne tanzten vor ihren Augen. Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren Kopf. Sie schwankte kurz auf der Stelle, klammerte sich am Tisch fest und fiel zurück auf ihren Stuhl. Die Sterne verblassten langsam und auch der Boden war wieder glatt und ohne Unebenheiten. Sie drückte sich eine Hand an den schmerzenden Kopf und holte ein paar Mal tief Luft. Nur keine Panik, sie war einfach nur zu hektisch aufgestanden, das war alles. Vorsichtig erhob sie sich wieder, wurde aber von Maria angerempelt, die versuchte an ihr vorbeizukommen. Sahra taumelte einen Schritt nach vorne und stieß mit der Hüfte gegen ihren Tisch. Sie hielt sich an ihm fest.
„Oh, sorry", entschuldigte sich Maria und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. „Alles okay?"
„Ja, ja", sagte Sahra und brachte ein Lächeln zustande. Die Welt um sie herum fuhr wieder Karussell. Maria drehte sich jetzt ganz zu ihr um.
„Wirklich?", fragte sie und klang nun besorgt. „Gott Sahra, du siehst überhaupt nicht gut aus. Bist total blass."
Laila hatte sich zu ihnen nach vorne gelehnt. „Stimmt, du hast echt wenig Farbe im Gesicht", stimmte sie Maria zu. „Geht es dir wirklich gut?"
Sahra nickte, noch immer lächelnd.
„Ja, wirklich, Leute, mir geht es gut. Mir war gerade beim Aufstehen nur ein wenig schwindelig."
Mittlerweile war die Welt wieder zum stehen gekommen und auch die Sterne waren verschwunden.
„Okay", sagte Maria, noch immer etwas besorgt.
„Sorry, aber ich muss jetzt dringend los. Werde heute abgeholte, weil wir noch wo hin müssen." Sie umarmte die beiden zum Abschied und spurtete dann hinaus in die Schülerschar auf den Fluren.
Sie grübelte. Irgendetwas stimmte mit Sahra nicht, das war offensichtlich.
Sahra und Laila gingen gemeinsam zur Straßenbahnhaltestelle. Mal überholten sie einige andere Schüler auf dem Weg, mal wurden sie überholt. Die Haltestelle war rappel voll. Die kleinen Fünft- und Sechstklässler schienen in der Menge unterzugehen, während die Schüler aus den höheren Klassen die anderen überragten.
Die Bahn fuhr nach einigen Minuten ein und Sahra verlor Laila in der Menge aus den Augen. Sie kämpfte sich zu einer der Türen durch und schaffte es über die Schwelle zu kommen. So viele Schüler wie nur möglich zwängten sich in die Bahn und Sahra wurde mit dem Gesicht voran in die Mappe eines Schülers gedrückt, der vor ihr stand. Sie tastete mit den Händen nach einem Griff oder einer Stange, an der sie sich festhalten konnte, fand keine und packte stattdessen die Mappe vor sich um nicht hinzufallen oder gar niedergetrampelt zu werden. Ein Ruck lief durch die zusammengedrängten Schüler als die Bahn anfuhr und Sahras Gesicht machte erneut Bekanntschaft mit der Tasche.
Mit jeder Haltestelle die die Bahn passierte wurde es leerer.
Als Sahra ausstieg wehte ihr ein plötzlich aufkommender Wind die Haare ins Gesicht, sodass sie für einen kurzen Augenblick halb blind war. Sie strich sie zurück und lief die Straße entlang in Richtung ihres Zuhauses.
Obwohl sie keine zehn Minuten gelaufen war zitterten ihre Beine stark, als sie versuchte das Treppenhaus zu erklimmen. Mühselig schleppte sie sich Stufe für Stufe hoch, bis sie endlich vor der Wohnungstür stand. Erleichtert darüber zuhause zu sein schloss sie die Tür auf und betrat die Wohnung. Marlene, die bereits da war, erwartete sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.
„Na Maus", sagte sie und lächelte. Doch schien das Lächeln nicht zu Einhundert Prozent ehrlich zu sein. Sahra bemerkte jedoch nichts.
„Hi", antwortete sie nur.
„Würdest du mit mir etwas essen?", fragte ihre Mutter.
Ja. Oh Gott ja, sie wollte unbedingt etwas essen. Ihr Magen schien sich bereits selbst aufzuessen, so groß war der Hunger geworden, doch durfte sie nicht. Ana verbot es ihr. Und sie verbot es sich auch selber. Wer isst wird dick, wer nicht isst wird dünn. Also sagte sie: „Ne, ich habe keinen Hunger."
„Das glaube ich dir nicht", warf Marlene ein. Ihr Blick hatte etwas eisernes angenommen. Sie ging kurz in die Küche und kam wenige Sekunden später mit einer Box in der Hand wieder.
„Du hast deine Brotdose heute vergessen", sagte sie. Sahra starrte die Dose an. Verdammt! Daran hatte sie diesen Morgen gar nicht gedacht. Normalerweise entsorgte sie ihr Schulessen immer in der Biotonne, bevor sie das Haus verließ.
„Äh...", machte sie. „Ich äh, habe aber wirklich keinen Hunger", versuchte sie sich doch noch rauszureden, aber ihre Mutter ließ sich nicht beirren.
„Sahra, du hast heute gerade einmal eine einzige Banane gegessen. Red keinen Unsinn, natürlich hast du Hunger."
Ja, und wie! Doch halt! Vielleicht konnte sie sich doch noch herauswinden.
„Gar nicht wahr", sagte sie mürrisch. „Ich habe wohl mehr gegessen. Maria hat mir eines ihrer Brote abgegeben als sie gesehen hat, dass ich meine Brotdose vergessen hatte." Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Kann ich jetzt in mein Zimmer?", fragte sie genervt. Aber Marlene dachte gar nicht daran ihre Tochter gehen zu lassen.
„Eine Banane und ein Brot reichen aber nicht für den ganzen Tag als Energielieferanten. Du isst jetzt bitte etwas mit mir." Sahra überlegte hektisch hin und her. Scheiße, wie sollte sie denn da jetzt wieder rauskommen?
„Ähm, aber..." Irgendetwas musste es doch geben. „Aber ich habe jetzt gerade wirklich keinen Hunger. Kann ich nicht vielleicht nachher was essen?"
Marlene seufzte. „Gut, dann nachher. Aber dann auch wirklich." Sie verschwand wieder in der Küche. Sahra ging missmutig in ihr Zimmer. Mist! Wie sollte sie es nur bewerkstelligen nachher nichts essen zu müssen? Sie ging die ihr möglichen Optionen durch:
Sagen, dass sie keinen Hunger hatte? Das wird ihre Mutter nicht durchgehen lassen.
Das Essen wegwerfen? Könnte schwierig werden.
So tun, als hätte sie schon etwas mit auf ihr Zimmer genommen und dort gegessen? Wahrscheinlich würde ihre Mutter dann trotzdem noch wollen, dass sie etwas aß.
Den Trick anwenden, den sie heute schon bei Marias Brot angewandt hatte? Das könnte sie zumindest versuchen. Allerdings könnte sich das auch als schwierig, vielleicht sogar als unmöglich, erweisen, wenn ihre Mutter sie während des Essens die ganze Zeit beobachtete.
Aber sie musste es probieren. Irgendwie musste sie um das Essen herumkommen.
„Ana!?", rief sie in ihren Kopf hinein. „Ana bitte, ich brauche deine Hilfe! Wie schaffe ich es diese Situation zu umgehen?"
Stille.
„Ana, bitte!"
Doch Ana kam nicht.
„Nachher" kam schneller als es Sahra lieb war. Sie saß auf ihrer Couch mit dem Laptop auf dem Schoß als Marlene klopfte und ihr verkündete, sie solle jetzt essen kommen. Sie stand auf und ging langsam in Richtung Küche. Sie war ein wenig sauer. Sauer auf ihre Mutter und auch sauer auf Ana. Sie hatte die ganze Zeit über versucht sie zu erreichen, doch hatte sie sich nicht gemeldet. Weder als Stimme in ihrem Kopf, noch als Mensch in ihrem Umfeld. Gerade jetzt, wo Sahra Ana wirklich dringend brauchte, kam sie nicht. Sie hatte so sehr gehofft, dass Ana einen Plan parat hatte, mit dem sie ums Essen herumkäme.
Aber vielleicht konnte selbst Ana sich für diese Situation nichts ausdenken. Sahra war auf sich allein gestellt.
In der Küche erwartete sie ein für sie gedeckter Tisch und das Essen, was sie eigentlich in die Schule hätte mitnehmen sollen. Und ihre Mutter, die sie wartend ansah.
„Komm", sagte sie und deutete auf Sahras Platz, „setz dich bitte und iss."
Sie sah ihre Mutter böse an als sie sich setzte. Marlene zog vom Tisch einen Stuhl weg und setzte sich ebenfalls. Sahra blickte auf den Teller. Vor ihr lagen zwei Mal zusammengeklappte Toastbrote mit Marmelade bestrichen und ein halber Apfel. Fünfhundert Kalorien plus Sechzig Kalorien für den Apfel. Und das sollte sie jetzt essen?! Sie starrte auf die Toastbrote, dann zu ihrer Mutter. Diese sah sie ungeduldig an.
„Nun mach schon, iss. Bitte." Vorsichtig ergriff sie das erste Brot und führte es zu ihrem Mund. Dabei sah sie noch einmal zu Marlene, die sie unverwandt anblickte. Ärgerlich stieß sie die Luft geräuschvoll durch die Nase aus.
„Könntest du bitte damit aufhören mich so anzuglotzen?", fragte sie sauer.
„Ich will nur sichergehen, dass du auch etwas isst." Marlene sah sie weiter an. „Je schneller du aufisst, desto eher gucke ich dich nicht mehr an." Wieder sah Sahra ihre Mutter böse an, ehe sie von dem Toast abbiss.
Scheiße, Scheiße, Scheiße! Jetzt aß sie ja doch! Und wenn ihre Mutter sie ununterbrochen so anstarrte konnte sie das Essen auch nicht wegwerfen. Sie kaute und schluckte. Ihr leerer Magen empfing voller Freude die Nahrung und gab sogleich ein lautes Knurren von sich. Sie konnte sich nichts vormachen, es war eine Wohltat wieder etwas zu essen. Doch gleichzeitig schrie und wütete sie in ihrem Kopf herum. Sie wollte doch fasten! Verdammt, sie musste doch fasten. Sonst nähme sie zu. Sie wird auch jetzt zunehmen! Mit jedem Bissen den sie schluckte wird sie fetter und fetter. Warum ließ ihre Mutter sie nicht einfach in Ruhe?! Wieso zwang sie sie zum essen?! Wütend aß sie weiter.
„Ana wird so enttäuscht von mir sein", dachte sie. Kurz hielt sie inne, da sie spürte, wie sich Tränen anbahnten. Sie wollte Ana doch nicht enttäuschen, sie wollte ja fasten, aber ihre Mutter machte ihr da einen Strich durch die Rechnung. Sie konnte doch nichts dafür, dass sie gescheitert war.
Zwischen jedem Bissen warf sie ihrer Mutter einen zornigen Blick zu.
Marlene presste die Lippen aufeinander.
„Ich mache mir doch nur Sorgen um dich Mäuschen", dachte sie traurig.
Als Sahra aufgegessen hatte erhob sie sich und wollte zurück in ihr Zimmer gehen, doch machte ihre Mutter keine Anstalten ihr den Weg freizumachen.
„Eine Sache noch", sagte sie ernst.
Was denn jetzt bitte noch?! Erst wurde sie zum essen gezwungen und jetzt kam noch etwas? Gott, konnte sie sie nicht einfach in Frieden lassen?
Sie setzte sich wieder hin und verschränkte die Arme.
„Was?", blaffte sie.
„Als ich heute morgen noch mal ins Bad gegangen bin stand da die Waage auf dem Boden", sagte Marlene und sah ihre Tochter fest an.
Sahra stockte. Scheiße! Scheiße verdammt noch mal, die hatte sie anscheinend vergessen wieder zurückzustellen. Mist, Mist, Mist! Das passierte ihr doch sonst nie!
Kurz schwiegen sie, dann fragte Marlene: „Warum hast du dich gewogen Sahra?"
Fuck! Und jetzt brauchte sie eine Ausrede. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sagte sie denn jetzt?
„Ähm...", sagte sie um Zeit zu gewinnen. „Du äh, erinnerst dich doch noch an das andere Mal, als äh, ich mich gewogen habe?" Ihre Mutter nickte.
„Ja, da hast du das für die Bio-Hausaufgabe gemacht. Aber ich bezweifle, dass ihr zwei Mal die gleiche Hausaufgabe aufbekommen habt."
„Ne... es äh, ist so, dass ähm, ich mich einfach aus Eigeninteresse gewogen habe. Nicht wegen Schule oder so, sondern weil ich einfach neugierig war, wie mein BMI gerade ist."
Marlene sah sie prüfend an.
„Und woher kam dieses Interesse?"
„Ach äh, naja", Sahra brachte ein kurzes, falsches Lachen hervor, „ich bin halt neugierig." Und als ihre Mutter sie weiterhin misstrauisch anschaute fügte sie noch hinzu: „Ja und äh, nachdem du und Elisa gesagt hattet ich sehe dünner aus wollte ich das mal überprüfen. Das war mir nämlich gar nicht bewusst." Sie zuckte mit den Achseln. Gedanklich gab sie sich einen Daumen nach oben für diese gelungene Lüge.
Marlene nickte langsam. „Ah ja. Und, wie sieht dein BMI gerade so aus, wenn ich fragen darf?" Sahra runzelte die Stirn. Was interessierte ihre Mutter das denn?
„Äh...", sagte sie. „Also das habe ich gerade nicht im Kopf, aber äh", sie griff nach ihrem Handy, „ich könnte kurz mal nachsehen." Sie entsperrte ihr Handy und googelte nach so langer Zeit wieder den BMI Rechner. Sie trug ihre Daten ein. Größe; 1,60 m, Alter; 16, Geschlecht; weiblich und dann das Gewicht. Fünfundvierzig Kilogramm. Aufregung stieg in ihr auf. Wie würde ihr BMI wohl lauten? Sie hatte ihn vor einer gefühlten Ewigkeit das erste Mal ausgerechnet, damals, als sie sich dazu entschlossen hatte abzunehmen. Wie stark hatte er sich wohl geändert?
Sie tippte auf „berechnen". Die Seite lud neu und das Ergebnis stand fest. Ihre Augen wurden groß, doch ermahnte sie sich nicht zu verwundert auszusehen, damit ihre Mutter keinen Verdacht schöpfte. Auf ihrem Display leuchteten ihr die Zahlen entgegen. 17,6.
„Das kannst du ihr nicht sagen", meldete sich Ana rasch. „Wenn du ihr die Wahrheit sagst wird sie uns auf die Schliche kommen. Lüg! Sag einfach dein BMI sei bei Neunzehn oder so!" Marlene sah ihre Tochter erwartungsvoll an.
„Also äh, mein BMI beträgt Neunzehn Komma äh, Null. Hier stehen dann noch so Sachen wie: „das bedeutet Normalgewicht" und „wenn das Gewicht zwischen 46 und 58 Kilo liegt ist alles okay"."
„M-hm", machte ihre Mutter und nickte. „Du bist also normalgewichtig?" Sahra nickte.
„Wie viel wiegst du denn?"
Neue Wut flammte in ihr auf. Konnte ihre Mutter denn nicht bitte damit aufhören sie so auszuquetschen?! Was sollte diese ganze Fragerei?! Das ging sie einen Scheißdreck an! Sie zügelte sich und log erneut: „So zirka 49 Kilogramm." Wieder ein Nicken.
„So, kann ich jetzt gehen?", fragte sie angepisst. „Bitte?"
Marlene erhob sich und schob ihren Stuhl beiseite, sodass Sahra an ihr vorbeigehen konnte. Sie warf ihrer Mutter zum Abschluss noch einen bösen Blick zu, dann ging sie in ihr Zimmer.
Sie hatte sich gerade auf die Couch fallen lassen, da tauchte Ana auf. Sahra war noch immer wütend auf sie, weil sie ihr nicht geholfen hatte, also verschränkte sie die Arme und wandte den Blick ab.
„Na, bockig?", fragte Ana und trat näher. Sahra blieb stumm. Ana seufzte.
„Ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber dein Verhalten wird es nicht bessern. Hör mal, ich bin vorhin nicht aufgetaucht, weil ich wirklich keinen Plan hatte. Ich wusste überhaupt nicht, wie du aus dieser Situation hättest rauskommen sollen. Ich kann nun mal auch nicht alles." Sie ging vor Sahra in die Hocke und legte eine Hand auf ihr Knie.
„Es gab aus dieser Situation kein entrinnen." Sahra seufzte und sah sie an. Sie nickte. Ana lächelte.
„Gut. So, und jetzt musst du Kalorien verbrennen." Jetzt stöhnte Sahra auf.
„Wirklich? Jetzt noch Sport? Dafür habe ich echt keine Kraft." Ana sah sie tadelnd an.
„Sahra, du musst aber etwas machen, sonst nimmst du zu, das weißt du. Und es muss auch kein Sport sein. Lauf einfach sagen wir, Zwanzigtausend Schritte, dann ist alles wieder gut." Sahra starrte sie ungläubig an.
„Zwanzigtausend Schritte?! Du willst mich wohl verarschen!"
„Keinesfalls", sagte Ana ruhig. „Zwanzigtausend Schritte währen ungefähr Fünfhundert verbrannte Kalorien. Also fast das, was du gegessen hast. Komm, raff dich auf und lauf umher. Du kannst ja nebenbei etwas über dein Handy gucken. YouTube, oder du hörst Musik."
Sahra stöhnte und legte den Kopf in den Nacken. Sie wollte nicht. Aber sie musste. Sie hatte gerade absolut keine Motivation. Aber sie musste Kalorien verbrennen, sonst nahm sie zu.
Sonst nahm sie zu.
Nein! Unter keinen Umständen durfte das passieren! Wenn schon kein Sport, dann wenigstens umhergehen. Ja, irgendetwas musste sie machen.
Also stand sie auf, Ana streckte sich auf der Couch aus und lächelte ihr aufmunternd zu, nahm ihr Handy zur Hand und begann mit Laufen.
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