Bummeln durch die Stadt
„Sahra? Sahra?! Hallo?!" Sie schreckte auf. Maria wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
„Hallo, ich rede mit dir! Hilfst du mir nun in Französisch, oder nicht?" Sahra hielt Marias Hand fest und drückte sie runter.
„Ja doch", lachte sie und holte ihr Französisch Buch aus ihrem Ranzen. Gedankenverloren blätterte sie nach der richtigen Seite. Gerade eben war sie in Gedanken gewesen und hatte sich einige Sprüche, die Ana ihr in den letzten Tagen gesagt hatte, in Erinnerung gerufen. Sprüche wie: „Einen Moment an den Lippen, für immer auf den Rippen.", „Hungry to bed, hungry to rise, makes a girl a smaller size.", „Think before you eat.", „Nicht dein Körper kontrolliert dich, du kontrollierst deinen Körper.", „Resist or regret." Und Anas Lieblingsspruch: „Skip the dinner, wake up thinner."
Sprüche, die einen motivieren sollten nicht zu essen.
Sie legte einen Finger an die erste Vokabel und begann: „Hund?"
Maria überlegte kurz. „Chien?", sagte sie vorsichtig.
„Jupp. Katze?"
„Chat!"
„Ja. Vogel?"
Maria schnippte mit den Fingern. „Ähm, ähm. Irgendwas mit „O". Ähm, Oise–, Oisa–, Oiso–, OISEAU!", rief sie. Sahra lachte.
„Richtig. Und", sie wanderte mit dem Finger weiter, „Kaninchen?"
So fragte sie Maria weiter ab. Gleich, in der nächsten Stunde, würden sie einen Französisch Test schreiben, deswegen wollte Maria auch abgefragt werden. Zumindest würden sie beide Französisch haben. Laila hatte als zweite Fremdsprache jedoch Spanisch gewählt, weshalb sie zu diesen Unterrichtszeiten in getrennte Klassen gingen. Apropos Laila. Diese kam gerade von den Toiletten wieder. Auffällig schnell schritt sie zu ihren Freundinnen herüber und hatte einen ziemlich verdrießlichen Blick aufgesetzt. Bei den beiden angekommen fragte sie leise mit ernster Stimme: „Hat jemand von euch eine Binde?" Sahra hielt inne und sah von der Seite auf.
„Äh, warte." Sie legte schnell das Buch beiseite und griff nach ihrer Mappe. Hektisch kramte sie in den Untiefen ihrer Tasche nach einer Binde.
„Hier", sagte Maria und drückte Laila eine in die Hand. Maria hatte ebenfalls zu ihrem Rucksack gegriffen und in den Fächern nach dem gewünschten Utensil gesucht.
„Danke." Laila spurtete zurück in das Gebäude. Sahra warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Sie muss sich beeilen, der Unterricht beginnt in zwei Minuten." Maria schulterte ihre Tasche. „Dann lass uns schon mal hochgehen." Sie gingen zur Eingangstür.
„Das war doch garnicht mal so schwierig", sagte Maria erleichtert, als sie ihren Französisch Raum wieder verließen.
„Findest du?", fragte Sahra, „ich hatte echt Probleme." Maria schaute sie verblüfft an. „Hä? Aber du bist doch sonst immer gut in Französisch gewesen." Sahra seufzte. Ja, normalerweise war sie gut in Französisch, doch in letzter Zeit geisterte Ana ununterbrochen in ihrem Kopf herum, wodurch es ihr sehr schwer fiel sich auf den Unterricht zu konzentrieren oder sich an Vokabeln zu erinnern. Ihre Noten litten bereits darunter. Sowohl ihre schriftlichen, als auch mündlichen. Sie meldete sich immer seltener und bei Tests, die sie schrieben, schwirrten in ihrem Kopf nur Anas Worte und die Zahlen der Waage und des Essens herum. Sie seufzte noch mal und zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich in letzter Zeit einfach irgendwie nicht mehr so richtig konzentrieren", sagte sie. Dann setzt sie noch hinzu: „keine Ahnung, woran das liegt." Doch natürlich wusste sie es, sie konnte es aber selbstverständlich nicht sagen. Sie stellten sich wieder auf den Schulhof und warteten auf Laila. Diese kam auch nicht viel später auf sie zugeeilt, wieder mit einem gehetzten Gesichtsausdruck.
„Neue Binde?", fragte Maria lächelnd, als Laila bei ihnen ankam. Sie nickte.
„Kommt ihr mit?", fragte sie und wies über die Schulter zum Gebäude.
„Klar", sagte Sahra und zu dritt gingen sie zu den Toiletten. Als sie eintraten war da noch eine andere Gruppe von Mädchen, vielleicht sechste oder siebte Klasse, die sich in einer Ecke zusammen gedrängt hatten. Die Gruppe warf ihnen einen flüchtigen Blick zu und widmete sich dann wieder einander. Laila stellte ihre Mappe ab und bekam von Maria eine neue Binde überreicht.
„Danke", sagte sie halblaut und verschwand in einer der Kabinen.
„Ich gehe auch mal", sagte Sahra, stellte ihre Mappe neben Lailas ab und ging in die benachbarte Kabine.
Und mal wieder musste sie beim pinkeln auf ihre fetten Oberschenkel starren. Sie wackelt mit den Beinen und das Gewebe wackelte mit.
Missmutig spülte sie und öffnete die Tür wieder. Maria war an ihrem Handy und die Mädchengruppe war gegangen. Sie wusch sich schnell die Hände und trat neben Maria. „Brauchst du noch lange?", fragte diese Laila durch die geschlossene Tür.
„Sekunde noch", antwortete sie. Kurz schwiegen sie, dann fragte Sahra: „Sag mal Laila, wie hast du das vorhin eigentlich gemacht? Als du in der ersten Pause zu uns kamst, da hattest du doch schon deine Tage. Wie hast du es dann gemacht, dass du trotzdem das Klo verlassen konntest, ohne zu riskieren, dass du dir alles vollblutest?" Laila spülte und trat aus der Kabine.
„Das war so", erklärte sie, als sie sich die Hände wusch „ich habe mir ganz viel Klopapier genommen, es zusammengefaltet und es mir erst einmal, naja, unten reingelegt. Das sollte ja nur temporär halten, bis ich eine richtige Binde hatte und so konnte ich ganz gut verhindern, dass ich auslaufe. Aber für längere Zeit ist das nicht geeignet, aber für die zwei Minuten ging es voll klar."
„Clever", sagte Sahra grinsend.
Es klingelte. Hektik ergriff die Schüler, als alle versuchten so schnell wie es ihnen möglich war ihre Sachen einzupacken. Sahra, Laila und Maria waren eine der Ersten, die aus dem Klassenraum stürmten und sich in den Strom der Schüler eingliederten, welcher bereits durch die Korridore lief. Sie traten durch die Ausgangstür und machten sich auf den Weg zur Haltestelle. Zu dritt liefen sie nebeneinander her und unterhielten sich. In der Mittagspause hatten sie sich dazu entschieden nach der Schule zusammen in die Stadt zu gehen. Gemächlich gingen sie nun die Straße entlang, da sie keinen Zeitdruck hatten, und wurden von anderen Schülern überholt, die so schnell wie möglich nach hause wollten.
„Ich brauche definitiv einen neuen Blog", sagte Sahra im Gehen, „ich habe in meinem fast keine Blätter mehr." Maria schmunzelte. „Das ist echt deine größte Sorge, ne?", sagte sie. Sahra setzte zur Antwort an, wurde aber von Laila unterbrochen: „Also ich will auf jeden Fall zu Thalia."
„Hast du nicht schon genug Bücher?", fragte Maria sie. Laila entgegnete gespielt empört: „Man kann nie genug Bücher haben!" Sahra lachte. Ja, dem konnte sie durchaus zustimmen. Sie persönliche laß zwar nicht so viel wie Laila es tat, doch hatte sie schon das ein oder andere Buch zu Hause rumliegen.
„Brauchst du irgendetwas?", fragte sie an Maria gewandt. Diese schüttelte den Kopf. „Ne, also momentan glaube ich nicht." Sie waren an der Haltestelle angekommen, die mit Mitschülern überfüllt war.
„Glaubt ihr wir schaffen es zusammen in die nächste Bahn die kommt?", fragte Laila, während sie zur Anzeigetafel spähte. Maria sah sich um. „Könnte schwierig werden", sagte sie, „mal gucken."
Mit einem klingeln kündigte sich die Straßenbahn an. Laila umfasste Sahras und Marias Oberarm und zog sie hinter sich her, damit die Schülerschar sie nicht trennen konnte. Die Bahn hielt und die Türen öffneten sich. Alle Schüler versuchten einzusteigen und schubsen und drängelten. Sahra, Laila und Maria schafften es über die Schwelle und wurden prompt ans Fenster gepresst. Laila stolperte und klammerte sich fester an die Oberarme ihrer Freundinnen um nicht zu stürzen. Die Türen schlossen sich und die Bahn setzte sich in Bewegung. Sie fuhren einige Haltestellen, ehe sie in der Stadt ausstiegen. Sie machten sich auf den Weg ins große Einkaufszentrum.
Zuerst holte sich Sahra bei Müller einen neuen Schreibblock, danach liefen sie Laila hinterher, die ihnen voraus zu Thalia ging. Laila war so schnell unterwegs, dass Sahra und Marie sie aus den Augen verloren, noch bevor sie angekommen waren. Sie suchten den halben Laden nach ihr ab und fanden sie schließlich vor dem Fantasy Regal.
Als Laila sich ein Buch, The School For Good And Evil, ausgesucht hatte, schlenderten sie noch eine knappe Stunde durch die Läden. Sie schauten bei Elbenwald vorbei und starrten sehnsüchtig auf die vielen Merchendise Artikel von ihren Lieblings Fandom, dann wanderten sie weiter zu H&M.
Maria und Sahra waren gerade in den Umkleiden und Laila wartete draußen auf sie. Beide hatten sich eine Hose ausgesucht, Maria eine schwarze, Sahra eine dunkelblaue.
Sie zog sich gerade ihre eigene Hose aus, als sie jemanden im Spiegel sah. Sie zuckte zusammen, wirbelte herum und versucht ihre nackten Beine zu verdecken. Doch es war nur Ana. Erleichtert atmete sie auf. Für eine Sekunde dachte sie, eine fremde Person hätte sich in ihre Kabine geschlichen. Ana grinste. „Ganz ruhig Sahra, ich bin's", sagte sie.
„Was machst du hier?", fragte Sahra gedanklich und legt ihre Hose auf dem Hocker ab. Ana deutete auf die großen Spiegel. „Ich möchte dir etwas zeigen" Sahra blickte auf.
„Und was?"
„Zieh dein Shirt aus", forderte Ana sie auf.
„Waru–",
„Siehst du gleich." Sie tat wie ihr geheißen und legt ihr Oberteil zu ihrer Hose. Jetzt stand sie da, nur in Unterwäsche und schaute Ana erwartungsvoll an.
„Jetzt sieh in den Spiegel." Sie wandte sich um und betrachtete sich in dem Ganzkörper Spiegel. Missmutig blickte sie auf ihren gewölbten Bauch und die sich großflächig berührenden Oberschenkel.
„Was siehst du?", fragte Ana sie.
„Ein dickes Mädchen", dachte sie und senkte den Kopf. Ana legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Genau. Und jetzt schließe deine Augen." Sie schloss die Augen. „Jetzt konzentriere dich. Konzentriere dich auf dich. Auf deinen Körper, auf deine Figur."
Vor ihrem inneren Auge zeichnete sich ihr Spiegelbild ab. Sie sah ihren Bauch, die Beine, die Arme, den Hals, einfach alles. „Kannst du deinen Körper vor dir sehen?" Sie nickte. „Gut. Und jetzt stell dir vor, wie das ganze Fett verschwindet. Wie dein Bauch flacher wird, deine Beckenknochen hervor kommen, deine Oberschenkel auseinander wandern, eine Lücke zwischen ihnen entsteht und deine Arme ebenso an Umfang verlieren. Stell es dir vor."
Sie stellte sich vor. So gut es ging konzentrierte sie sich darauf, wie das ganze eklige Fett von ihrem Körper verschwand und eine perfekte, schlanke Figur darunter hervortrat.
„Und jetzt", flüsterte Ana, „öffne die Augen."
Sie schlug die Augen auf und starrte in den Spiegel. Doch das Bild was sich ihr zeigte war anders als zuvor.
Zuerst einmal stand Ana, nun ebenfalls in ihrer schwarzen Unterwäsche, neben ihr und hatte einen Arm um sie gelegt. Sie war so dünn wie eh und je.
Doch ihr eigener Körper hatte sich verändert. Er war nicht mehr dick und wabbelig, sondern schlank und schön. Ihr Bauch war nach hinten gewandert und er war so flach wie der von Ana. Sie konnte ihre Rippen erahnen, ihre Hüftknochen stachen hervor und sie hatte eine Oberschenkellücke.
Sie sah so aus wie Ana. Zumindest von der Figur her.
„Gefällt dir was du siehst?", hauchte Ana ihr ins Ohr. Sie nickte.
„Dann arbeite dafür. Lass das Essen stehen und mach Sport. Sport, Sport, Sport und nochmals Sport. Denn nur so wirst du an dein Ziel kommen." Sie drehte Sahra an den Schultern zu sich um.
„Verstehst du das? Nur so und nicht anders wirst du dein Ziel erreichen."
Wie in Trance nickte sie.
Dann unterbrach eine laute Stimme die beiden. „Sahra?", rief Laila, „alles okay?" Sahra Griff schnell zu den Klamotten.
„Äh, ja, alles gut. Sekunde." Sie zog sich ihr Oberteil und die neue Hose über und schob den Vorhang beiseite. Laila und Maria saßen vor der Kabine auf einem Hocker und warteten.
„Was dauert bei dir denn so lange?", grinste Laila.
„Ach, äh, ich war am Handy", sagte sie und grinste zurück. „Also, was meint ihr?", fragte sie und drehte sich einmal.
„Ja, sehr schön", sagte Laila freudig.
Doch Maria war nicht ganz so überzeugt. „Hm... vielleicht wäre eine Nummer größer besser", sagte sie. „Zumindest sieht es so aus, als sei es um die Hüfte recht eng."
Sahras Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Doch sie setzte es schnell wieder auf und sagte: „Ach, ist eh nicht so wichtig. Ich glaube, ich kaufe sie mir doch nicht." Schnell drehte sie sich um und verschwand wieder in der Kabine. Das Lächeln gefror ihr und sie starrte erneut in den Spiegel.
Zu fett.
Dann zog sie sich um.
Maria kaufte sich die Hose und sie verließen den Laden wieder.
„Wisst ihr", meldete sich Laila zu Wort, „ich habe echt Hunger. Wollen wir nicht vielleicht etwas Essen gehen?" Maria nickte. „Ich bin dabei. Worauf hättest du denn Lust?"
„Ach, ich würde gerne zu Nordsee. Ich habe schon lange keinen Fisch mehr gegessen."
„Alles klar, Sahra, kommst du mit?" Sie zögerte.
„Gefällt dir was du siehst? Dann arbeite dafür. Lass das Essen stehen."
„Äh, also ich komme gerne mit – „Lass das Essen stehen" – aber ich habe keinen Hunger." Sie lächelte. Maria sah sie etwas merkwürdig an.
„Wirklich so gar nicht?"
„Nein, wirklich nicht", sagte sie und schüttelte den Kopf.
„Okay naja, du musst ja nichts essen", sagte Laila und ging voraus. Doch Maria hielt Sahra zurück. Leise fragte sie: „Hast du wirklich keinen Hunger, oder ist es meinetwegen? Weil ich eben bei H&M sagte, du solltest die Hose eine Nummer größer nehmen?" Sie sah Sahra sehr ernst an. Sahra lachte kurz.
„Nein, wirklich nicht, alles gut. Ich habe noch Essen zu Hause, das sollte ich aufbrauchen, bevor ich es noch wegschmeißen muss", log sie. Maria nickte.
„Ah, okay." Dann liefen sie Laila hinterher.
„Na Maus, hast du Hunger?", wurde Sahra von ihrer Mutter begrüßt, als sie zu Hause ankam.
„Nein, danke", sagte sie und zog die Jacke aus. „Ich war mit Laila und Maria in der Stadt und da haben wir etwas gegessen."
„Na gut." Marlene verschwand wieder im Wohnzimmer. Sahra schleifte ihre Mappe in ihr Zimmer und ging danach in die Küche um etwas zu trinken.
Zwei Gläser Wasser, damit ihr Magen schwieg, da dieser angefangen hatte zu Knurren.
Ihr Plan für den restlichen Tag heute war nichts mehr zu essen. Egal was. Nur noch Wasser. Und Sport. Sport wollte sie auch noch machen. Sie musste an sich arbeiten. Sie wollte so aussehen wie Ana es ihr gezeigt hatte.
Schlank.
Schön.
Perfekt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top