Anas Sechstes Gebot
Sahra war beim Essen schlussendlich doch noch schwach geworden und hatte den Kinder Country gegessen. Super, Einhundertzweiunddreißig Kalorien, die sie sich eigentlich hätte sparen können. Danach hatte sie aber direkt ihre Sportübungen gemacht, um wenigstens ein bisschen verbrennen zu können.
Ihrer Mutter gaukelte sie am Abend noch vor, bereits etwas gegessen zu haben (was ja auch nicht gelogen war) und kam somit um das Abendessen herum.
Doch wurde ihre Mutter langsam misstrauisch. Sie sah ihre Tochter immer seltener essen, unter der Woche nur zum Frühstück, Abends dann aber gar nicht. Natürlich aß Sahra in der Schule, sie nahm ja jeden Tag etwas zu Essen mit, doch fiel ihr auf, dass sie beide immer seltener gemeinsam aßen. Nur am Wochenende saßen sie bei jeder Mahlzeit zusammen am Tisch und führten Konversation. Doch auch hier fiel ihr auf, dass ihre Tochter nicht mehr ganz so viel wie früher aß. Sie aß natürlich noch normal große Portionen, doch kam es nicht mehr vor, dass sie sich zum Beispiel beim Mittagessen, selbst wenn es ihr Lieblingsessen gab, noch einmal nachholte.
Doch machte sie sich darüber momentan keine Sorgen. Es freute sie, dass Sahra jetzt mehr auf ihre Ernährung achtete und sich nicht mehr ständig mit Schokolade vollstopfte. Sie wollte ihr dabei helfen gesünder zu leben, auch wenn es vielleicht nur eine Teenie-Phase war.
Als Sahra am Mittwoch Nachmittag wieder aus der Schule kam, war ihre Mutter bereits Zuhause. Darüber verwundert klopfte sie an die Schlafzimmertür ihrer Mutter und hörte ein „Herein."
Sie drückte die Tür auf und spähte in den abgedunkelten Raum. „Mama?", fragte sie und öffnete die Tür noch ein Stück weiter. „Hey Mausi", kam es vom Bett und ein dunkler Schatten bewegte sich darauf. „Wieder von der Schule zurück?" Sie antwortete: „Ja, aber was machst du schon hier? Du kommst doch sonst immer erst später."
„Ach das", der Schatten richtete sich ein wenig auf und obwohl Sahra es nicht sehen konnte wusste sie, dass ihre Mutter sie direkt anschaute.
„Sahra, ich muss dir etwas sagen. Ich bin gefeuert worden."
„Was?!", keuchte sie und ihre Hand verkrampfte sich um die Türklinke. Vom Bett aus kam ein leichtes Lachen. „Kleiner Scherz. Bin ich nicht. Ich habe Migräne bekommen und bin deswegen früher nach Hause gegangen. Ich war auch schon beim Arzt und bin für heute und morgen krankgeschrieben."
Sie atmete erleichtert auf. Gott sei dank, ihre Mutter war doch nicht gefeuert worden. Aber Migräne war natürlich auch nicht das Gelbe vom Ei. „Und wie geht es dir jetzt?", fragte sie. Ein Stöhnen kam vom Bett. „Naja, in der Dunkelheit geht es, aber es wäre trotzdem schön, wenn du etwas leiser reden könntest."
„Oh äh, ja, tut mir leid", entschuldigte sie sich jetzt flüsternd.
„Du, ich werde jetzt etwas essen und danach mache ich meine Hausaufgaben", flüsterte sie ihrer Mutter zu. „Mach das. Ich bleibe liegen."
Sie schloss vorsichtig die Tür und ging in ihr Zimmer. Ihre Mutter hatte also Migräne. Das kam manchmal vor. Sie selber war sehr froh darüber, bisher noch nie einen Migräne-Anfall gehabt zu haben, denn sie stellte es sich ziemlich unangenehm vor. Doch schien es ihrer Mutter nicht unendlich schlecht zu gehen, wenn sie es noch schaffte Witze zu machen. Sie hoffte einfach, dass sie schnell wieder auf dem Damm war.
Jetzt aber würde sie erst einmal etwas essen. Sie holte ihre Brotdose aus dem Ranzen und ging in die Küche. Ihr Essen war das Gleiche wie gestern. Zwei Mal zusammengeklappte Toastbrote mit Marmelade und ein Kinder Country. Ihre Mutter hatte als sie das letzte Mal einkaufen war eine Packung davon mitgebracht, die sie jetzt nach und nach aufaßen. Sie deckte den Tisch und mischte sich einen verdünnten Apfelsaft. Sie wollte gerade auf ihrem Handy YouTube öffnen um während dem Essen ein Video zu gucken, als ihr ihre Mutter einfiel. Diese lag im Zimmer gegenüber und wollte sich ausruhen. Doch würde Sahra über ihr Handy YouTube schauen, würde sie ihre Mutter mit dem Sound gleich mit beschallen. Und das wäre ziemlich rücksichtslos. Also stand sie noch mal auf und holte ihre Kopfhörer aus ihrem Zimmer. Dann konnte sie endlich anfangen zu essen.
Ungefähr Fünfhundert Kilokalorien, den Kinder Country ließ sie dieses Mal wirklich weg, später stand sie auf und räumte den Tisch ab. Den Schokoriegel nahm sie mit in ihr Zimmer. Nicht um ihn zu essen, sondern um ihn in ihr Schrankfach für Süßigkeiten zu legen. Sie öffnete die Schranktür und wollte die Schokolade gerade zum Rest legen, da sprang ihr die Haribo Packung ins Auge. Diese stand die letzten Tage unberührt hier herum und die Gummitiere warteten nur darauf endlich gegessen zu werden. Sahra zögerte.
„Du darfst nichts Süßes essen", belehrte sie ihre innere Stimme. „Aber wenn ich es nicht mache werden sie hart und ungenießbar", gab sie trotzig zurück. „Aber du darfst nichts Süßes essen."
„Die Haribos wurden bezahlt. Es wäre Lebensmittelverschwendung sie vergammeln zu lassen."
„DU DARFST NICHTS SÜßES ESSEN!"
Ihre Miene verhärtete sich. „Ach weißt du was? Fick dich! Ich esse was ich will!" Mit grimmigem Blick holte sie die Packung hervor, öffnete den Deckel und schob sich ein Gummibärchen in den Mund. „Du hast mir gar nichts zu sagen!" Sie aß noch eines. „Ich bestimme drüber, was ich esse."
Sie stellte die große Dose auf ihrem Schreibtisch ab und holte aus ihrer Mappe die Hausaufgaben hervor.
Während sie die Aufgaben bearbeitete nahm sie sich immer wieder eines von den Gummitieren. Ha! Sie hatte es ihrer inneren Stimme gezeigt! Sie ließ sich von niemandem herumkommandieren! Sie war ihr eigener Herr. Sie bestimmte ganz alleine über sich. Niemand schrieb ihr vor, was sie tun oder lassen sollte. Niemand!
Außer vielleicht...
Gerade als Sahra ein erneutes Mal in die Packung greifen wollte spürte sie, wie etwas ihre Hand festhielt. Ihr Kopf zuckte nach links und sie wäre fast vom Stuhl geflogen. Da stand Ana. Mit der rechten Hand hielt sie ihre Linke fest und starrte sie mit steinerner Miene an. Ihr Griff verfestigte sich und sie drückte Sahras Hand bestimmend von der Nascherei weg.
„Hallo Sahra", sagte sie mit kalter Stimme und ihr Griff festigte sich weiter, dass es schon weh tat. Sie versuchte ihre Hand wegzuziehen aber Ana drückte nur noch weiter zu. So stark, dass sich ihre Fingernägel in ihre Haut gruben. Sie verzog vor Schmerz das Gesicht und entriss ihre Hand der Anas. „Au!", sagte sie, „das tat echt weh." Sie rieb sich das Handgelenk. Doch Ana starrte sie nur weiter mit eiserner Miene an. Dann deutete sie auf die Haribos und fragte: „Was soll das? Was tust du da?" Sie schaute zur Dose, dann senkte sie den Blick.
„Was hast du getan?", Ana wurde lauter. „Ich habe...", begann sie und die Schuldgefühle übermannten sie. „Ich habe gegessen", sagte sie kleinlaut. Sie hob vorsichtig den Kopf und blickte zu Ana empor, die sie bedrohlich überragte.
„Nach allem was ich dir gezeigt habe willst du immer noch Süßes essen? Hab ich dir etwa noch nicht genug verdeutlicht, was dir graut, wenn du weiter Süßigkeiten frisst? Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Sahra, ich bin sehr enttäuscht von dir."
Sie schaute zu Ana, die sie weiterhin mit Starrem Blick anguckte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Kopf. „Tut mir leid", flüsterte sie und senkte den Kopf noch ein wenig mehr, doch Ana lachte nur freudlos auf.
„Tut dir leid", sagte sie kalt. „Sahra, wenn du diese Sache hier, das Abnehmen, nicht ernst nimmst, dann kann ich auch wieder verschwinden." Sie blickte auf.
„Verschwinden?", wiederholte sie leise. „Ganz richtig. Wenn du das Abnehmen nicht ernst genug nimmst, dann werde ich heute noch für immer aus deinem Kopf verschwinden. Du wirst mich nie wieder sehen oder etwas von mir hören. Ich werde dich alleine lassen und du kannst dann sehen, wie du ohne mich klar kommst. Du hat die Wahl: Willst du mich, deine, wie du selber sagtest, beste Freundin, verstoßen, mich loswerden, nichts mehr mit mir zu tun haben, oder willst du, dass ich bei dir bleibe, dich unterstütze, immer für dich da bin und dir dabei helfe dein Ziel dünn zu werden zu verwirklichen. Entscheide dich."
Sahra war für einen Moment wie erstarrt. Ana sagte, sie würde gehen? Wenn sie die Sache mit dem Abnehmen nicht ernst genug nahm? Nein das... das konnte sie doch nicht zulassen. Sie wollte Ana, sie brauchte Ana! Ana war ihre beste Freundin, sie wollte nicht, dass sie ging! Sie wollte, dass sie bei ihr blieb! Sie nicht verlässt! Sie nicht alleine zurücklässt! In ihrem Kopf, einfach bei ihr blieb.
Sie fing an zu schluchzen. Nein, Ana sollte nicht gehen. Sie rutschte vom Stuhl und sank vor Anas Füßen auf den Boden. Ana durfte nicht gehen!
Sie vergrub das Gesicht in den Händen und wimmerte. Ana sollte sie nicht verlassen!
„Nein", schluchzte sie mit durch die Hände gedämpfter Stimme, „Nein bitte, bitte nicht. Ich... nein, du sollst nicht gehen. Bitte Ana, bitte bleib bei mir, ich flehe dich an." Sie hob ihren Kopf und schaute Ana direkt in die Augen. „Bitte verlass mich nicht." Sie beugte sich zu Sahra hinab und hockte sich neben sie. Sie hob die Hand und tätschelte ihr den Kopf.
„Ich werde bleiben", sagte sie und ein warmes Lächeln trat auf ihr Gesicht. „Aber nur, wenn du dich ab sofort an meine Regeln hälst. Weitere Verstöße werde ich nicht mehr dulden. Tu was ich sage und ich bleibe. Widersetze dich mir und ich gehe. Verstanden?"
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und nickte hektisch. „Ja, ja verstanden. Ich mache alles was du willst aber bitte verlass mich nicht."
Ana erhob sich wieder. „Ich werde dich nicht verlassen. Ich werde an deiner Seite bleiben", sagte sie. Sie streckte ihre Hand zu Sahra nach unten. „Für immer?", fragte sie. Sahra lächelte erleichtert. „Für immer", sagte sie und nahm Anas Hand.
Im Nachhinein stelle ich mir oft die Frage, was wohl passiert wäre, hätte ich dich damals weggeschickt. Hätte ich dich damals zurückgewiesen.
Wärst du gegangen? Hätte ich mich selber noch retten können? Wäre ich dir dann nicht verfallen?
Nein, verfallen war ich dir bereits.
Und so wie ich dich kenne, und leider Gottes kenne ich dich mittlerweile besser als meine anderen Freundinnen, wärst du in Wirklichkeit nicht gegangen. Ich glaube du wärst geblieben.
Du wärst bei mir geblieben um mich weiter zur Perfektion zu formen. Ich glaube, du wolltest mich mit dieser Entscheidung einfach nur gefügig machen. Du wusstest bereits, wie ich mich entscheiden würde. Du hast die Gelegenheit genutzt dafür zu sorgen, dass ich mich dir willenlos hingebe und brav alles befolge, was du mir vorgibst.
Und dass du das „Für immer" damals wortwörtlich meintest, habe ich auch erst viel zu spät begriffen. Du bleibst bei mir. Für immer. Und nichts und niemand wird dich je von mir trennen können. Denn du lässt mich einfach nicht los.
Die beiden hatten sich auf die Couch gesetzt und Sahra wischte sich die restlichen Tränen ab.
„Ich möchte dir noch etwas sagen", teilte Ana ihr mit.
„Okay, und was?"
„Das Sechste Ana Gebot."
Sahra hörte sofort auf sich die Wangen abzutrocknen und sah Ana erwartungsvoll, fast begierig an. „Schieß los!", forderte sie sie auf.
Ana hob eine Hand, formte mit Zeigefinger und Daumen eine Pistole, grinste und sagte: „Peng". Beide Mädchen lachten. „Du weißt was ich meine."
„Ja doch", grinste Ana. „Also, beim Sechsten Ana Gebot geht es wieder ums Essen. Es ist etwas, was du bisher eigentlich schon quasi nebenbei getan hast. Aber wenn ich es dir jetzt sage, wirst du es doch bestimmt noch intensiver machen. Also, Sechstes Ana Gebot lautet: „Ich darf nichts nahrhaftes essen, ohne danach Gegenmaßnahmen zu ergreifen". Wie gesagt, das machst du ja sozusagen schon. Wenn du etwas Süßes gegessen hast, machst du danach sowieso Sport, aber du sollst es eben noch ein wenig ausweiten. Kannst du mir soweit folgen?", fragte sie.
„Ich denke schon", sagte Sahra langsam und ging im Kopf das Gesagte durch. „Ähm, was zählt denn als „nahrhaft"?"
Ana lächelte, „Richtig, dass du fragst, sehr gut. Nahrhaft ist alles, was viele Kalorien, beziehungsweise viele Nährstoffe hat. Wir konzentrieren uns aber nur auf die Kalorien. Also so Sachen wie Süßes, Fleisch oder Nudeln zählen als Nahrhaft. Aber auch unter Obst gibt es Lebensmittel die nahrhafter sind als andere. Eine Banane ist zum Beispiel nahrhafter als ein Apfel. Wiederum sind Nüsse sehr nahrhaft. Gesund zwar, aber haben eben entsetzlich viele Kalorien. Also, wie gesagt; wenn du etwas nahrhaftes gegessen hast, musst du danach Gegenmaßnahmen ergreifen. Manche kotzen, aber da du das ja nicht machen willst musst du Sport machen. Und zwar viel Sport. Verstehst du?"
Sahra nickte. Ja, das hatte sie verstanden. Wenn sie etwas aß, das viele Kalorien beinhaltete, musste sie Sport machen. So wollte es Ana und so würde sie es auch umsetzen.
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