Kapitel 30

Das bewusste halbe Jahr

Ray kam gut in seinem neuen Leben zurecht, besser als er es erwartet hatte. Unter ärztlicher Aufsicht reduzierte er die Methadondosis, überstand den Entzug. Natürlich gab es bessere und schlechtere Tage, doch sein Job und der Sport halfen ihm, die Zähne zusammen zu beißen und durchzuhalten.
Er wusste, wofür er sich quälte, für wen – hoffte zumindest, dass er es wusste.

Mitarbeiter der Beratungsstelle hatten ihm geholfen, all den Papierkram zu erledigen, den der Wechsel in einen Job – dem ersten in seinem Leben - mit sich brachte. Er war festangestellt in einem renommierten Gastronomiebetrieb, war nicht mehr auf Unterstützung angewiesen, was ihm ein sehr gutes Gefühl verschaffte.

Das Arbeitsklima war hervorragend, sie lachten viel miteinander, waren alle immer gut drauf. Schon bald war seine Chefin sicher, dass sie keinen Fehler gemacht hatte, als sie ihn so spontan eingestellt hatte. Sie schätzte seine Zuverlässigkeit, seinen natürlichen Charme. Dass er schwul war, hatte er schon ziemlich bald erklärt, niemand hatte das geringste Problem damit.

Die weiblichen Gäste baggerten ihn manches Mal sehr offensichtlich an, hin und wieder lag ein Zettel mit einer Telefonnummer unter einem der Teller, wenn er die Tische abräumte.

Es wurde September - etwa ein Monat war vergangen, seit Henry nach der geplatzten Hochzeit zu ihm zurück gekommen wäre, las Ray ein Interview mit ihm im Feuilleton-Teil der Tageszeitung.

TZ: Herr von Wertheim, Sie sind aus dem Unternehmen Ihres Vater ausgeschieden, was für große Unruhen in der Wirtschaftswelt gesorgt hat.

HvW: Ja, das legt sich wieder. Ich habe einen sehr fähigen Nachfolger für mich gefunden, einen ehemaligen Studienkollegen. Der wird den Job bestens meistern.

TZ: Was war der Grund für Ihr Ausscheiden?

HvW:
Es gab mehrere Gründe. Allem voran natürlich das Zerwürfnis mit meinem Erzeuger, der geglaubt hatte, über mein Leben bestimmen zu können. Dann das Gefühl, dass ich mich so viel wie möglich um meinen jüngeren Bruder kümmern muss, der Trisomie21 hat. Zum dritten will ich leben - und lieben, wen ich will.

TZ: Es gibt das Gerücht, dass Sie homosexuell sind.

HvW:
Das ist kein Gerücht, sondern eine Tatsache. Und Sie? Sind Sie heterosexuell? Schwul? Polyamourös? Asexuell? Bisexuell? Pansexuell? Skoliosexuell? Sapiosexuell? Glauben Sie, das interessiert irgendeinen Leser Ihrer Zeitung, wer von uns beiden mit wem ins Bett geht?

Ray musste lachen bei diesen Ausführungen. Na, da hatte sich ja einiges getan im Kopf seiner großen Liebe.

TZ: Okay! Ich habe verstanden. Anderes Thema. Welche beruflichen Pläne verfolgen Sie?

HvW:
Na also! Das ist sicher interessanter. Also, ich stelle, derzeit noch unentgeltlich, mein betriebswirtschaftliches Knowhow und meine Verbindungen einem jungen Startup-Unternehmen zur Verfügung, das KI-gesteuerte Prothesen und Gehhilfen für Querschnittgelähmte entwickelt.
Das sind fantastische junge Leute mit einer großen Zukunft.
Dann besuche ich aus Interesse mit meiner Freundin Lisa Vorlesungen bei ihrem Studium der Sozialpädagogik. Ich plane keinen Abschluss, aber ich möchte gerne mehr über die Zusammenhänge erfahren, auch wegen meines Bruders.

Gemeinsam mit Lisas Freund, einem sehr engagierten Pädagogen und einem ihrer Professoren arbeite ich an einem Blog zum Thema „Menschen mit Handicaps".
Und in der Zeit, die dann noch bleibt, lebe ich. Das genieße ich sehr.

TZ: Das hörte sich etwas anders an als Ihr früheres Leben als Hoffnungsträger eines Weltkonzerns. Werden Sie diese Zeiten nicht vermissen? Sehen Sie in der Zukunft einen Weg für Sie zurück?

HvW: Nein.

TZ:
Das war deutlich. Darf ich Ihnen noch eine private Frage stellen?

HvW: Fragen können Sie, ob ich antworte, werden wir sehen.

TZ: Sind Sie derzeit in einer festen Beziehung?
HvW: Ja. Das heißt, ich hoffe es.

TZ: Eine sehr kryptische Antwort.
HvW: So war es gedacht.
TZ: Dann bedanke ich mich für das Gespräch.

Ray las den Artikel ein paarmal, wurde mit jedem Mal glücklicher. Wenn er gewusst hätte, dass Henry sich so schnell und mit einer solchen Begeisterung in sein neues Leben stürzen würde, hätte er nicht auf einer so langen Trennung bestanden. Seine Blicke klebten an Henrys Foto, das in der Mitte des Textes platziert war.

Ob er ...
Vielleicht ...

Nein, er musste das durchziehen. Sie beide hatten erst ein Stück ihrer eigenen Wege zurückgelegt.

*

Gustav-Albert las den Artikel, fetzte die Zeitung in die Ecke. Der verdammte Kerl, der einmal sein Sohn gewesen war, hatte mit einem Schlag alle lang gehüteten Familiengeheimnisse preisgegeben.
Er selbst würde zum Gespött in der Firma werden.
Wütend beorderte er Heinrich-Gustavs Nachfolger zu sich, einen unscheinbaren jungen Mann, der aber seinen Job nicht schlecht zu machen schien.

„Haben Sie den Mist gelesen, der heute in der Zeitung steht?", fuhr er ihn ohne Gruß sofort an. Herbert verbiss sich ein Lachen. Der Artikel war Gesprächsthema Nummer eins in der Kaffeeküche gewesen, alle hatten sich für den ehemaligen Junior gefreut. „Nur kurz überflogen. Der übliche Klatsch und Tratsch, den man auf diesen Seiten so findet. Interessiert doch niemanden!"

Gustav-Albert sah den Neuen misstrauisch an. „Meinen Sie? Lachen nicht alle über mich?"
„Über Sie? Das ist doch das Leben des Juniors, also des ehemaligen Juniors, das da breit getreten wird", erklärte Herbert überzeugend.
Im Geiste bat er den Kumpel um Verzeihung, fühlte sich ein wenig wie Judas, aber er brauchte den Job, machte ihn auch sehr gerne.
Den Alten hatte er in Griff, das junge Team, das er um sich herum eingestellt hatte, leistete großartige Arbeit.

*

Rebekka bezog an diesem Tag ihre neue Wohnung. Ihr Rechtsanwalt hatte eine einstweilige Verfügung erreicht, nach der ihr baldiger Ex-Ehemann ihr eine größere Abschlagssumme hatte überweisen müssen, bis die Vermögensverhältnisse geklärt waren. Der schlaue Gustav-Albert hatte doch tatsächlich versäumt, einen Ehevertrag abzuschließen.

Sie hatte Bernie in den letzten Tagen ein paarmal in seinem neuen Zuhause besucht. Hatte aber schnell gemerkt, dass das Interesse des großen Kerls an ihr minimal war, und dass das Spiel, das Geheimnis während all der Jahre mehr Spaß gemacht hatte, als jetzt offiziell in der Mutterrolle aufzutreten.

*
Bernie fühlte sich wohl. Zwei Wochen lang hatte er bei Lisa, Henry und seinem neuen Freund Bastian gewohnt, das war schön gewesen.

Sie waren eine WG, hatte die hübsche Lisa ihm erklärt, das hieß Wohnmeinschaft oder so ähnlich. Aber das lange Wort brauchte er sich nicht merken, WG reichte.
Bastian übten ganz viel das Zählen mit ihm, und er konnte schon Zahlen schreiben, weil Lisas Freund ihm einen ganz dicken Stift geschenkt hatte, den er mit seinen großen Händen leicht halten konnte.

Das machte richtig Spaß, und er hatte schon ein ganzes Heft vollgeschrieben. Wegen seiner großen Hände durfte er auch die großen Lastwagen zusammen bauen, nicht das kleine Zeug wie die Mädchen.

Nach einer großen Feier, auf der alles sehr lustig war, wohnte er dann in dem schönen neuen Haus – dem riiiiiiiesigen Haus.
So ein großes Haus hatte er noch nie gesehen.

Henry hatte ihm erklärt, dass das alte Zuhause abgerissen werden muss, und sie hatten zugeschaut, wie ein großer Metallbatzen die Wände zerdeppert hatte, wie große Bagger alles wegefahren hatten.

Das war komisch gewesen, dass die sein Zimmer, seinen Platz, an dem er gearbeitet hat, einfach kaputt gemacht haben.
Aber jetzt hatte er ja ein ganz neues Zimmer, er konnte Zahlen schreiben und sich merken, dass er achtzehn Jahre alt war.

Klara war auch auf der Feier, er zeigte ihr sein Zahlenheft, sie war stolz auf ihn. Dann ging sie mit ihren Eltern fort, und er war ein bisschen traurig.

Henry hatte ihm erklärt, dass Klara nicht hierher kommen würde in dieses riesige Haus.
Er hatte das verstanden – ein wenig.
Doch dann begann sein neues Leben, wie Lisa das genannt hatte. Er verstand auch das – ein wenig.

Er sollte neue Freunde finden, hatte Henry gesagt. Auch das verstand er – ein wenig.

Da waren viele, die Freunde werden konnten, da reichten seine Hände gar nicht mehr aus.

Bastian musste sie mal zählen und die Zahl in sein Heft schreiben. Er wusste nicht, ob Henry oder Lisa das konnten.

Aber Klara war nicht da.

*

Klara wurde von Tag zu Tag etwas trauriger. Ihre Eltern versuchten alles, um die Tochter aufzuheitern, aber ganz egal, was sie unternahmen, sie fühlten, dass ihre Tochter litt.
Sie kauften ihr Puzzles, neue Klamotten, machten Ausflüge – aber die Schwermut in ihren Augen verging nicht.

„Was ist los mit dir, mein Liebling?", fragte ihre Mutter immer wieder, hatte durchaus eine Ahnung - doch Klara schüttelte nur jedes Mal den Kopf.
Sie wusste es doch selbst nicht!

Sie fühlte sich ... sie fühlte sich ... sie fühlte sich nicht gut.
Warum?
Wieso?

Sie war so ... so ... halb.
Doch wer sollte das verstehen?
Dass man sich halb fühlen konnte?

Sie konnte nicht so gut denken wie andere in ihrem Alter.
Sie war anders, sie war zurückgeblieben, hatte ein Arzt einmal gesagt.

Was auch immer das bedeutete.
Sie konnte viel, mehr als Bernie.
Aber weniger als die Zwillinge von Tante Franziska und Onkel Karl.
Die machten Abitur, immer wieder sprachen die Verwandten davon.
Sie wusste nicht, was dieses Wort bedeutete, aber es schien ein wichtiges Wort zu sein.

Immer, wenn sie dieses Wort sagten, sahen sie Klara so ... mitleidig an.
Warum wohl?

Auch die Nachbarn von ihren Eltern sahen sie oft so an.
Warum wohl?
Weil sie anders war?
Weil sie zurückgeblieben war?

In ihrem alten Zuhause, das es nicht mehr gab, hatte sie nie jemand so angesehen.

Da waren alle anders.
Ganz verschieden anders, und keiner guckte einen deshalb so an, so mitleidig.

Bennie hatte sie immer schön angesehen.
Er hatte sich gefreut, wenn sie zusammen zum Frühstück gegangen sind, wenn er seine Schokolade mit ihr geteilt hatte, wenn er ihre kleine Hand in seine große genommen hatte.
Dann war das Zuhause abgebrannt, Bernie war in ein neues Haus gezogen, ein großes, ein schönes Haus.

Ihre Eltern wollten nicht, dass sie so weit von ihnen wegging.
Aber sie wollte zu Bernie, sie wollte dahin, wo sie niemand mitleidig ansah, weil sie zurückgeblieben war.
Sie wollte kleine Autos zusammenbauen, neben Bernie sitzen, wenn der mit seinen großen Händen die Lastautos zusammenbaute.
Sie wollte mit ihm zusammen frühstücken, wollte ihm sagen, dass er nicht so laut sein sollte, wollte sein Lachen wieder hören und auch die Bewunderung in seinen Augen sehen, weil sie lesen konnte.

Für Bernie war sie nicht zurückgeblieben, für Bernie war sie ... Klara.

Endlich fand sie den Mut, ihren Eltern zu gestehen, dass sie Bernie vermisste.
Dass sie auch in dieses schöne neue Haus ziehen möchte, weil er dort war.
Sie wurde traurig, als ihre Mama weinte, aber sie freute sich, als ihre Mama sagte, dass sie sie verstand.

Zwei Wochen später brachten ihre Eltern sie dorthin. Den Namen der Stadt hatte sie wieder vergessen, aber er war ja auch nicht wichtig.

Wichtig war, dass ein großer, etwas zu dicker, meistens etwas zu lauter Junge ihr entgegenlief, „Klara" brüllte und sie vor Freude fast erdrückte.

*

So verging Monat um Monat. Das neue Schuljahr begann, Bastian freute sich auf seine Klasse. Zum Glück hatte Biancas Mutter die Tochter ziemlich bald zu sich geholt, Anita, seine Schwägerin kümmerte sich auch um ihre Schwester.

Die Semesterferien gingen zu Ende, Henry hatte sich ein paar neue Standbeine geschaffen, genoss ansonsten die Freiheit, die er nie gekannt hatte. Dadurch hatte er auch Zeit, ein kleines Häuschen für die Eltern von Lisa zu finden, die der Alte natürlich aus dem Haus geworfen hatte.

Allerdings hatte das nicht so schnell geklappt, wie er sich das vorgestellt hatte. Mieter, auch wenn sie kostenlos gegen eine Dienstleistung wohnten, hatten durchaus Rechte. Erst in zwei Monaten würden sie umziehen müssen.

Ihr Kontakt zur Tochter beschränkte sich auf ein Minimum, worüber niemand traurig war. Henry und Lisa waren nicht nachtragend den Eltern gegenüber, auch wenn sie sich ihrer Tochter gegenüber nicht sonderlich liebevoll verhalten hatten. Trotz allem war Henry wohler, wenn sie nicht auf der Straße landeten. Schließlich war es sein Vater gewesen, der sie letztendlich korrumpiert hatte, um seinen Willen durchzusetzen.

*

Der 13. Februar, der Tag, auf den Henry hinfieberte, seit Ray ihn weggeschickt hatte, rückte immer näher.
Er war während dieser Zeit nur noch schwer zu ertragen. Ruhelos tigerte er durch die Wohnung, bis Lisa und Bastian ihn zum Joggen jagten. Zum Glück war es ein relativ warmer Winter.

Dann gab es Tage, an denen er sein Zimmer kaum verließ - überzeugt, dass Ray längst Ersatz für ihn gefunden hatte, um am nächsten Tag die halbe Stadt leerzukaufen, damit er ja Klamotten hatte, in denen er Ray gefiel.

Lisa und Bastian versuchten, ihn aufzubauen, abzulenken, doch oft bekamen sie zu hören: „Ihr könnt leicht reden!"

Beide schickten Stoßgebete zum Himmel, dass die Zeit nur ein einziges Mal schneller vergehen möge als gewöhnlich.

Ende Januar bekam Henry eine Textnachricht.

Ein Blick auf den Absender ließ sein Herz los rasen und kurz darauf aussetzen.
Ray! Jetzt war es so weit, jetzt würde sein größter Albtraum zur unerträglichen Wirklichkeit.

Jetzt würde er lesen, dass die Liebe seines Lebens jemand anderen kennengelernt hatte, dass er ihn nicht mehr sehen wollte. Unfähig, den Text selbst anzusehen, reichte er mit zitternder Hand Lisa sein Smartphone.

„Bitte!", brachte er nur hervor.
Ihr war etwas mulmig zumute, doch so recht glaubte sie nicht, was Henry zu denken schien. Sie tippte auf den Kontakt, las, atmete erleichtert auf.
„Da, du Depp!", schnappte sie ihn an, er sah ihr Lächeln, pumpte wieder Luft in seine Lungen, wagte nun selbst, den Text zu lesen:

Pfeif auf den 13. Februar! Ich halte es nicht mehr aus. Ray, Kirchmeierstraße 17, 4.Stock.

Henry stürmte zu seinem Auto, vergaß sogar, sich umzuziehen. Auf der Fahrt zu der neuen Adresse Rays wurde ihm eines klar: Er hatte sich lösen müssen von so vielem in seinem Leben, um ankommen zu können, er hatte einfach nur weg gemusst.

                                                     ****** Ende ******

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