Kapitel 19
Gegenwart 1
Am nächsten Morgen brachte Henry Lisa nach Hause. Nervös tigerte er durch die Wohnung.
„Hau schon ab!", forderte seine beste Freundin ihn auf, und ohne zu zögern stürmte er aus dem Haus. Er war sich vollkommen klar darüber, dass er nachdenken sollte, dass er das Gespräch mit seinem Vater suchen sollte, dass er sich über seine Zukunft klar werden sollte – doch die Sehnsucht in ihm schrie nach Ray.
Die Sehnsucht – und auch panische Angst.
Was würde er vorfinden?
Wen würde er vorfinden?
Einen Junkie, der wieder an der Nadel hing?
Einen Stricher, der wieder an seiner alten Ecke auf Freier wartete?
Die Gefahr war groß, dessen war er sich bewusst. Ray würde noch nicht stabil genug sein, um diesen erneuten Verlust zu verkraften.
Wie egoistisch hatte er gehandelt!
Er machte sich die schlimmsten Vorwürfe, und er wusste, dass er sie sich zu Recht machte.
Tränen liefen über sein Gesicht, sein Herz raste vor Panik.
Endlich hatte er einen Parkplatz in der Nähe von Rays Unterkunft gefunden. Von einer Wohnung konnte man beim besten Willen nicht sprechen. Ein Zimmer mit einem Waschbecken und einem Tisch, auf dem ein Elektrokocher stand.
Toilette auf dem Gang, Duschen im Keller.
Ein noch unsanierter Altbau, aber bezahlbar für Ray.
Als er im Laufschritt das Haus erreicht hatte, drückte er beinahe von Sinnen vor Angst auf den schäbigen Klingelknopf. Nichts rührte sich.
Wahllos fuhr sein Finger über die anderen Knöpfe, irgendwann - nach gefühlten Stunden - hörte er schlurfende Schritte. Die Alte vom dritten Stock öffnete maulend die schwere, verzogene Haustür.
„Was will der feine Herr denn?", fragte sie grinsend, zeigte ein lückenhaftes Gebiss. Alkoholnebel umgab sie.
„Ich muss zu Herrn Brenner!", stieß Henry hervor.
Die Alte kicherte wie eine böse Hexe. „Das Jüngelchen ist nicht da!"
Henry hatte es geahnt!
Er würde ihn da suchen müssen, wo er ihn gefunden hatte. Mit einem Herzen schwerer als aus Blei drehte er sich um, versuchte, das Zittern in Griff zu bekommen.
Die Tür fiel wieder ins Schloss, er hatte das Gefühl, diesen Ton nie wieder vergessen zu können.
Den Ton der Endgültigkeit.
Er sollte gehen, er sollte zu der Ecke gehen, doch er war sich nicht sicher, dass er das schaffte.
Wenn Ray sich wieder aufgegeben hatte, würde er das nie verkraften.
Das fällt dir aber reichlich früh ein, du verdammter Idiot! hörte er eine Stimme in seinem Kopf.
Eine böse Stimme.
Eine gehässige Stimme.
Aber eine, die die Wahrheit sagte.
Er sank auf die steinerne Türschwelle, die Generationen von Menschen ausgetreten hatten, ließ seinen Kopf in die Hände auf seinen Knien sinken.
Schritte kamen näher, schnelle Schritte, die auf dem Altstadtpflaster klackten. Es war ihm egal, ob ihn jemand sah, wie er vor diesem heruntergekommenen Haus saß.
Doch die Schritte liefen nicht an ihm vorbei, sie hielten vor ihm an.
„Was willst du hier?", hörte er, und die Stimme, die er so gut kannte, ließ ihn hochschnellen.
Er griff nach dem jungen Mann, der vor ihm stand, wollte ihn in seine Arme reißen. Doch der andere schubste ihn von sich, sein Blick war hasserfüllt, aber klar. Das erkannte Henry innerhalb einer Sekunde.
Ein riesengroßer Felsblock rollte von seiner Seele.
Ray war nicht auf Droge, zumindest im Moment nicht.
„Was du willst, habe ich gefragt!", wiederholte Ray, und sein Ton war nicht eine Spur freundlicher.
Henry fühlte sich wie ein Schuljunge, der sich für einen dummen Streich rechtfertigen sollte. Aber das war in Ordnung – vollkommen. Denn er hatte bei Gott mehr getan, als Ray einen dummen Streich zu spielen.
Er hatte ihn verraten, verkauft – an seinen Vater.
„Ich wollte mit dir reden!", brachte er schließlich hervor.
Ray stieß ein bitteres Lachen aus.
„Reden? Worüber? Über Hochzeiten der oberen Tausend?"
„Ich habe nicht geheiratet", stellte Henry richtig. Er wurde ruhiger. Ray sprach wenigstens mit ihm, ließ ihn nicht einfach stehen.
„Ich weiß! Weil deine Braut abgehauen ist! Alle Zeitungen, die an den Kiosken aushängen, haben kein anderes Thema!"
Da wurde Henry bewusst, wie das auf Ray wirken musste. Nicht er hatte diese Entscheidung getroffen, sondern Lisa.
Was wäre geschehen, wenn sie sich nicht abgeseilt hätte? schoss es ihm durch den Kopf. Säße er dann jetzt schon als Ehemann in einem Bungalow auf den Malediven?
Er schüttelte den Gedanken aus seinem Kopf.
„Können wir nicht reingehen?", fragte er. Hier auf der Straße sollten sie dieses Gespräch eigentlich nicht führen.
Zu seiner großen Überraschung holte Ray den Schlüssel aus seiner Hosentasche.
Henry nahm erleichtert wahr, wie sauber das Zimmer war.
Nicht zu vergleichen mit dem Zustand zu der Zeit, als er Ray kennengelernt hatte.
„Kannst die Überwachungskamera ausschalten!" Rays Stimme klang zynisch. „Ich bin clean. Okay, ich war nahe dran, hatte den Stoff schon hier. Aber dann habe ich begriffen, dass ich selbst verantwortlich bin für mein Leben, und dass ich es nicht abhängig machen kann von einem Typen, der mich fallen lässt, sobald es ungemütlich wird!"
Jedes seiner Worte traf Henry tief, und es traf ihn umso tiefer, weil jedes Wort der Wahrheit entsprach.
Deshalb konnte er auch keine Antwort geben.
Ray holte zwei Gläser und eine Flasche Wasser. „Warum bist du hier?", fragte er dann, noch immer ruhiger als er sich fühlte.
Henry sah ihn an, seine Augen waren kurz vor dem Überlaufen. „Ich wollte dich um Verzeihung bitten!", stieß er heiser hervor.
„Und dann da weiter machen, wo wir aufgehört haben, bevor du dich entschlossen hast zu heiraten und mich in die Wüste zu schicken?"
„Ganz so war es auch nicht!", versuchte sich Henry zu rechtfertigen. Mit leiser, immer wieder brechender Stimme erzählte er vom Ultimatum seines Vaters, etwas, das er schon vor einem Monat hätte tun sollen.
Ray hörte zu, und er schien ein bisschen besser zu versehen.
Okay! Sein Freund war in Reichtum hineingeboren worden, in Luxus aufgewachsen, hatte seinen Weg im väterlichen Unternehmen gemacht. Er kannte das nicht anders.
Dagegen war sein eigenes Leben vollkommen konträr verlaufen. Doch er wusste auch, hatte es nach diesem Schock begriffen, dass er selbst in der Lage sein musste, für sich zu sorgen, alle Abhängigkeiten endlich hinter sich zu lassen – vom Stoff und von jemandem, der ihm ein sorgenfreies Leben bieten konnte.
Er hatte zweiundzwanzig Jahre lang überlebt – aber er hatte nie gelebt.
Und genau das musste er nun versuchen.
Es wäre so leicht, Henry einfach zu umarmen, ihm seine Liebe zu gestehen, aber das ging nicht – nicht im Augenblick.
Die Wochen ohne ihn hatten zu viel Kraft gekostet, aber sie hatten ihm auch Kraft gegeben.
„Und was hast du jetzt vor, wenn der Alte dich wirklich rausschmeißt?", fragte er.
Henry sah ihn offen an. „Er braucht mich gar nicht rauszuschmeißen, ich gehe auf alle Fälle. Vielleicht finde ich einen neuen Job in einem anderen Unternehmen, vielleicht mache ich auch etwas ganz anderes. Ich hatte noch nicht wirklich Zeit, darüber nachzudenken", gestand er.
„Eine Frage noch: Was wäre passiert, wenn Lisa nicht abgehauen wäre?" Ray musste das wissen.
Und Henry war klar, dass nur Ehrlichkeit zählte. „Ich weiß es nicht!" Sein Blick hielt Rays fest.
Nach einer langen Pause, in der jeder seinen Gedanken nachhing, stellte Henry die Frage, deren Beantwortung er am meisten fürchtete: „Gibst du mir noch eine Chance?"
Ray brauchte lange für eine Antwort, und mit jeder Sekunde raste Henrys Herz panisch schneller.
„Im Augenblick gebe ich mir eine Chance, und du solltest es für dich auch so sehen", flüsterte er schließlich kaum hörbar. „Und wenn wir wissen, dass wir es alleine schaffen, können wir es noch einmal zusammen versuchen."
Henry schluckte schwer an seinen Tränen. „Von welchem Zeitraum sprechen wir? Einem Monat?"
Ray kämpfte schwer mit sich. Es wäre so leicht! Aber er musste stark bleiben, für sie beide.
„Ein halbes Jahr!", brachte er schließlich heraus.
Henry stieß die aufgestaute Luft aus seinen Lungen. Sechs Monate – das war lang.
„Und was für Pläne hast du?", schaffte er zu fragen.
„Ich besorge mir einen Job. In der Gastronomie suchen sie händeringend Personal."
Er deutete den Blick seines Ex-Freundes richtig. „Und nein! Ich will keine Unterstützung. Ich wollte deine Kohle nie. Ich wollte immer nur dich."
Danach lagen sie sich in den Armen, heulten sich die Shirts tropfnass, bekamen einen hysterischen Lachanfall.
Henry zog sein Handy heraus, tippte darauf herum, während er seine Nase frei schniefte.
„Okay!", erklärte er, als er fertig war. „In exakt sechs Monaten meldet sich mein Kalender, dann stehe ich wieder vor deiner Tür." Er drehte sich wortlos um und ging. Länger hätte er nicht mehr durchgehalten.
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21.512 Wörter bis hier
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