Steinzeit
Der Tag beginnt sehr unangenehm. Mit starken Schmerzen erwacht er, lange bevor die öffentlichen Verkehrsmittel ihren Arbeitstag beginnen. Die Schmerzen rauben ihm beinah das Bewusstsein. Agil wie zähflüssige Lava kriecht er aus dem Bett, fällt zu Boden, krümmt sich und möchte schreien, aber er hat nicht die Kraft dazu. Sein Hirn ist aktiv, vor allem das Schmerzzentrum, aber auch sein Verstand, der sich fragt, was denn in diesem Moment gerade abläuft. Fragen füllen seinen Sprachspeicher. Fühlt sich so sterben an? Was ist mit meinem Körper los? Gestern Abend war doch noch alles in Ordnung. Eine Angst legt sich über ihn wie Morgennebel in die Senke am Waldrand. Dann der erste klare Gedanke: Notfall! Er sucht schlaftrunken nach seinem Mobiltelefon und wählt den Notruf.
Unendlich scheinende Minuten später erklingt das vertraute und doch unangenehme Zweiklanghorn der Ambulanz, zuerst leise, wie er es aus Filmen kennt, dann lauter werdend, bis es vom zuckenden Licht der blauen Blitzer abgelöst wird und vor seinem Haus verstummt. Nun sind wohl auch die letzten Nachbarn wach. Stimmen melden sich, die blau und orangefarbenen Helfer finden ihn im Schlafzimmer und stellen ihm erste Fragen zu den Schmerzsymptomen. Er zeigt mit letzter Kraft auf die rechte Rückenseite in Nierengegend. Dann packt er die Tasche, welche er in der Wartezeit mühsam vorbereitet hat, klettert mit professioneller Hilfe in den leuchtgelben Lieferwagen lässt sich auf die Trage schnüren.
Im Spital werden ihm schon wieder Fragen gestellt. Er möchte lieber den Schmerz loswerden, doch die Administration hat wohl Vorrang. Kurz bevor er vom Stuhl fällt, schiebt ihm eine aufmerksame Pflegerin einen Rollstuhl hin und fährt mit ihm zu den Pflegebetten. Nadeln werden in seine Hand gesteckt, mit Schläuchen an Plastiktaschen geschlossen, dann fliesst ein Schmerzmittel. Der Schmerz aber ist nach wie vor unverändert stark, als zerplatze etwas in ihm drin. Erst als das zweite Schmerzmittel fliesst, kommt er langsam zur Ruhe und realisiert, wo er sich befindet. Spitalbett, Pflege, Heilung, Hilfe. Sein Puls kann sich beruhigen.
Eine Ärztin erzählt mit klaren und verständlichen Worten, dass er wahrscheinlich einen Nierenstein habe. Er hat das Wort schon gehört, erinnert sich an das schmerzverzerrte Gesicht seines Vaters. Die Ärztin klärt ihn über den weiteren Verlauf des Tages auf. Zunächst müsse man ganz sicher sein, dass die Diagnose richtig sei. Dazu müsse er ein CT machen, sich in die Röhre legen. Auch damit verbindet er Erfahrungsbilder aus dem familiären Umfeld, keine guten Bilder, wie er feststellt. Nach der ersten Untersuchung bestätigt sich die Vermutung: ein Nierenstein verschliesst den Harnleiter und verursacht diese grossen Schmerzen in der Niere. Unglaublich, was ein so kleines Steinchen anrichten kann.
Für ihn beginnt nun seine ganz private Steinzeit. Die folgenden fünf Wochen sind von Schmerzen begleitet und er stellt immer wieder fest, wie wenig wir Menschen den schmerzfreien Zustand zu schätzen wissen. Jeden einzelnen Tag freut er sich darauf, den Stein wieder loszusein und die Tage gewohnt unbeschwert geniessen zu können. Die Steinzeit wird zu einer der härtesten Epoche seiner bisherigen Lebenszeit.
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