Ruhe

Es ist Februar, viel zu warm für diese Jahreszeit. Der Zuckerschnee, der noch vor wenigen Tagen die Tannen weiss geschmückt hat, ist mit dem Regen zu Boden gefallen. Unter meinen Schuhen knirscht Eis, als ob ich über einen mit Kornflakes bestreuten Weg ginge. Die frühen Sonnenstrahlen beleuchten den Schiibegütsch, während der Hohgant noch im Schatten liegt. Der markante, halbrunde Kamm des Gütsch erinnert mich jedes Mal an einen Leguan, einen schlafenden Giganten, friedlich und beschützend.

Zu meiner Linken fliesst die Emme mir entgegen. Hier, ganz hinten im Tal, ist der Fluss noch ein Bach, nicht grösser als jeder Dorfbach es sein könnte. Aber die Emme ist wild. Unter dem Eis brodelt und blubbert es, Rauschen zeugt von kleinen Wasserfällen und schnell fliessendem Wasser. Je weiter ich vom Kurhotel weg stapfe, desto tiefer gräbt sich die Emme ein. Es ist, als ob sie mir auf mystische Weise sagen wollte, ich beträte nun ihr Reich, hier gälten ihre Regeln.

Die Strasse steigt an. Von den Felswänden zur Rechten hängen imposante Eiszapfen, ganze Felder aus blauem und gelbem, dazwischen weisem Eis. Ein kleines Schild warnt vor Eis- und Steinschlag. Ich bin Teil der Natur, die Strasse ändert nichts daran. Nach einer Biegung liegt ein grosser Brocken mitten auf der Fahrbahn. Ich hebe den schwarzen Schieferstein auf und lege ihn an den Strassenrand; nicht, dass noch ein Auto seinetwegen auf der vereisten Strasse ins Schlingern gerät.

Neben mir klingt die Symphonie der Ruhe. Unten rauscht die Emme, sie ist der Bass, welcher der Musik den Rhythmus gibt. Neben mir tröpfelt Wasser hinter den Eiszapfen. Der hohle Klang gibt der Musik die Fülle. Dann und wann knackt es im Eis, das Schlagzeug ist für die Spannung zuständig. Der leicht säuselnde Wind in den Tannen ist die Melodie, mal etwas stärker, mal ganz fein. Dynamisch. Die Ruhe der Musik überträgt sich in mich. In diesem Moment bin ich eins mit der Natur, mit mir.

Kurz nach der Betonüberdachung steht links ein hölzernes Eingangstor. "Skulpturenweg", steht da geschrieben. Der Pfad führt steil bergab, direkt auf die Emme zu. "Nun denn, Fluss, hast du einen Weg gefunden, mich zu holen?" Ganz im Gegenteil. Die Emme lädt den Wanderer auf eine spannende Reise ein. Immer wieder gibt der Bach traumhafte Bilder frei, räkelt sich wie eine Diva im besten Licht, als ob der schneebedeckte Pfad ihr roter Teppich wäre.

Künstler, welche das Naturschauspiel erkannt haben, ergänzen mit ihren Skulpturen das Gesamtbild. Sie formen aus Eisenschrott und Wurzeln sagenhafte Fabelwesen, welche mich auf der Reise durchs Tal der Emme begleiten. Ich beginne ein Versteckspiel mit dem Pfad. Manche Skulpturen entdecke ich tatsächlich nicht auf den ersten Blick. Es ist wie im Leben - um die wahre Schönheit zu entdecken, muss man tiefer blicken. Viel zu schnell ist das Spiel vorüber. Der Weg endet an einem unromantischen Karrenweg zu einem abgelegenen Hof.

Einen Moment zögere ich, möchte links abbiegen und den friedlichen Hof besuchen. Welche Menschen wohnen dort? Ein Schild mit einem Pfeil und einem improvisierten Schriftzug weist auf den Pfad, den ich gerade hinter mir habe. Ich verstehe, man will keine Wanderer beim Hof. Man weist ihnen diskret und höflich den Weg aussen rum, damit die Ruhe bleiben möge, wo sie immer schon war. Ich respektiere den Wunsch und stapfe den steilen Hügel hoch. Oben empfängt mich die Sonne. Warme Ruhe. Ich verweile einen Moment auf der Brücke und schaue in die tiefe Schlucht hinab. Unten höre ich den Gruss der Emme. Danke für diese berührende Erfahrung.

Meinen Rückweg trete ich auf der Strasse an. Langsam, denn die Eisflächen sind tückisch. Sobald der Mensch seine Hand im Spiel hat, besteht die Gefahr, hinzufallen. Der Naturpfad war sanfter, lieblicher. Unten in der Fläche angekommen erblicke ich von weitem den stattlichen Hof mit seinem klingenden Namen "Kemmeribodenbad", kunstvoll in Holz geschnitzt. Für einmal ist das Hotel, welches für die meisten Menschen Inbegriff der Ruhe ist, für mich die Zivilisation. Eigenartig, was ein Perspektivenwechsel alles erwirken kann. Von der anderen Seite kommend ist der gleiche Ort nicht mehr der gleiche. Ich lächle über diesen beinahe philosophischen Gedanken und taste mich über die vereiste Strasse, hin zu meinem Kraftort, zum Ort der Ruhe, zum Hof meiner Kindheit.

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