Hotel Mama
Er ist vierundzwanzig. Längst hat er seine Lehre abgeschlossen, verdient seit mehr als fünf Jahren sein eigenes Geld. Er fährt einen tollen Wagen, führt ein geregeltes Leben mit Freundin, Ausgang und Ablenkung. Er setzt sich jeden Tag selbstverständlich an den Tisch, holt sich Bier aus dem gefüllten Kühlschrank, schöpft sich den Teller aus den dampfenden Schüsseln. Er lebt gut im Hotel Mama.
Sein Bruder verdient sein eigenes Geld. Er reklamiert, wenn der Kühlschrank leer ist, wenn es kein Bier mehr hat. Er nervt sich über die Schwester. Er legt seine Wäsche manchmal in den Korb und nimmt sie selbstverständlich gewaschen, gebügelt und gefaltet aus dem Schrank. Er nutzt die schnelle Internetverbindung, schaut lange fern. Er lebt herrisch im Hotel Mama.
Die Schwester verdient ihr eigenes Geld, länger schon als ihre Brüder. Sie schätzt die Gemütlichkeit und Gesellschaft. Sie schätzt aber auch den Service, in welchem sie ab und zu Hand anlegt. Obwohl ihr die derben Sprüche ihrer Brüder und ihres Vaters widersprechen, lässt sie es geschehen, wehrt sich mit Worten, bedient sich der Sprache ihrer Brüder. Sie schnappt sich ein Stück vom Kuchen. Sie lebt still und bequem im Hotel Mama.
Er kommt und geht wie es ihm passt. Hauptsache der Kühlschrank ist voll und der Fernseher ist gross genug. Kollegen haben immer Platz, Mama bedient sie schon. Er geniesst seine längst erwachsenen Kinder im eigenen Haushalt. Schliesslich markiert Mann die glückliche, intakte Familie. Alles in Ordnung, Frau, geh Bier holen. Was gibt es zum Essen? Es kommen noch Kollegen vorbei, decke für sie mit. Die Wäsche brauche ich bis morgen, ich habe kein frisches Hemd mehr. Was hast du? Ich sorge doch gut für dich. Du liebst doch dein Hotel Mama. Ach übrigens: Die Klospülung geht nicht mehr.
Wie ein Baum, der von einer Schmarotzerpflanze befallen ist, stemmt sie sich gegen den inneren Zerfall. Sie wehrt sich, sie ist stark. Alle Stürme übersteht sie scheinbar schadlos. Im Innern jedoch, unbemerkt vom Betrachter, schwächelt sie. Zuerst nur zaghaft, sie spürt es selbst nicht und wenn, dann spricht sie von schlechter Laune oder zu wenig Schlaf. Der Knoten wird grösser, klemmt den Saft des Lebens ab, der den starken, grünen Baum zum Blühen bringen könnte. Sie welkt. Die spärliche Nahrung, welche sie erreichen könnte, wird von den Schmarotzerpflanzen weggefressen. Aber sie kann nicht zugrundegehen, sie ist Hotel Mama.
Wie immer, wenn Schmarotzer ihren Wirt zerstören, stehen sie letztendlich ohne ihn da. Sie jammern und zetern, sie wüten und schreien, sie beschuldigen und brüllen. Toben. Mit keinem einzigen Gedanken jedoch denken sie daran, dass sie es hätten verhindern können. Mit ein wenig Liebe. Mit ein wenig Nahrung in Form von Wertschätzung. Mit ein wenig Unterstützung. Als ganz kleine, aber wichtige Geste eines Dankes an Hotel Mama.
Was man schätzt, bemerkt man erst, wenn man es vermisst.
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