Die Burg
Einst hatten dich viele tausend Hände erbaut. Deine Steine holten die schwer arbeitenden Männer im nahegelegenen Steinbruch. Du warst die Vision eines Herrschers. Nicht die Aussicht war es, welche deinen Standort festlegte, genau so wenig wie der komfortable Transportweg oder die einfache Erschliessung. Im Gegenteil, du stehst am unmöglichsten Ort, auf der Krete, hoch oben über dem steil abfallenden Tal, am Eingang der Schlucht. Strategie als einziger Parameter der Standortsuche. Die spärlichen Pflanzen entlang des Saumpfades wurden während deiner Erbauung vom salzigen Schweiss der Steinschlepper befeuchtet. Jahrelang. Eine Burg bauen zu lassen war ein Lebenswerk, eine Vision. Manch ein Burgherr erlebte die Einweihung seiner eigenen Burg nicht mehr. Unzählige Arbeiter auch nicht. Ihr Blut mischte sich mit dem Schweiss am Saumpfad.
Doch dann standst du da. Trutzburg. Herrisch, stolz und jedem Ungemach trotzend. Niemand erfuhr je, was hinter deinen dicken Mauern geschah. Das Volk, ehrfürchtig und treu dienend, wusste nur, was es zu wissen ermächtigt war. Du batst zugleich Schutz und Verpflichtung, Sicherheit und Schrecken. Die Burg, in deren Schatten sich das Leben einer kleinen Stadt entwickeln konnte.
Viele hundert Jahre später drohst du zu verfallen. Die Menschen sehen keinen Nutzen mehr in dir. Ein reicher Besitzer könnte in dir wohnen, sicher, aber du bietest ihm nicht den Komfort, mit welchem sich die reichen und mächtigen Männer der Neuzeit rühmen wollen. Noch immer sind es die Männer, welche bestimmen, in diesem Bereich hat sich bisher nichts verändert. Noch immer häufen diese Männer Reichtum an, um ihren Herzensdamen ein angenehmes und scheinbar wichtiges Leben zu bieten. Dein Standort ist nicht mehr privilegiert. Der Lärm der modernen Welt schlägt zu dir hoch wie die Gischt der Wellen an einer Steilküste. Der Saumpfad ist mit modernen Fahrzeugen nicht bezwingbar, Parkplätze, Fahrstühle und Klimaanlagen fehlen. Die Fenster sind zu klein, um den atemberaubenden Ausblick zu geniessen. Die Mauern sind zu dick, der Moder sitzt zu tief. Du hast in der technischen Welt des 21. Jahrhunderts keinen Platz mehr.
Einzig die Kinder lieben dich. Sie drängen in Schulklassen oder Familiengruppen schreiend auf deinen Innenhof, rennen fröhlich umher, verbreiten Leben. Mit ihrer Fantasie werden sie zu Rittern und Prinzessinnen. Sie suchen den Schlossgeist, bekämpfen Drachen und frösteln im Verlies. Dann verlierst du deinen kriegerischen Charakter und wirst zur Kulisse des kindlichen Kopfkinos. Die Eltern führen ihre Kleinen und erfreuen sich an deren Begeisterung. Plötzlich ist das Prinzessinnenzimmer wichtiger als der Glacéstand, die Waffenkammer als der Internetempfang. Für die wenigen Stunden des Rundganges nimmst du die staunenden Augen in deinen Bann und verbreitest wieder Ehrfurcht. Dein Stolz wirkt auf die Besucher aus der ganzen Welt. Die Stadt zu deinen Füssen hat sich gewandelt. Sie hat die Jahrhunderte der Veränderung mitgemacht. Du hingegen bist wie damals eine aus Stein gebaute Festung, jeder Widrigkeit trotzend. Doch du bist mehr. Du zeugst von Hartnäckigkeit, von Visionen und von Gemeinschaftsarbeit. Ohne die Zusammenarbeit deiner Erbauer, gäbe es dich nicht.
Die modernen Menschen haben es nicht mehr so mit der Zusammenarbeit. Egoismus hat an ihrer statt das Feld übernommen. Noch immer schmelzen schöne Frauen ob männlichem Gehabe dahin, folgen den reichen und scheinbar wichtigen Männern. Diese jedoch kümmern sich nicht für das Wohl ihrer Gefolgschaft, sondern interessieren sich nur für ihren eigenen Wohlstand, ihren scheinbar wichtigen Ruhm. Es ist nicht mehr entscheidend, für wie viele Menschen man sorgen kann. Viel wichtiger ist, wie viele Menschen für einen sorgen. Darob vergessen sie, dass auch ihnen das Alter seinen Tribut abverlangen wird. Bald schon werden sie durch einen jüngeren, besser aussehenden und einflussreicheren Typen, durch ein neues Modell, ersetzt.
Du aber stehst da, auf deinem Felssporn und trotzt allem Ungemach. Wenn all die schnellen, lauten und teuren Autos, all die Internetposts und Follower-Highrankings vergessen sein werden, wirst du immer noch deinen Schatten über die Stadt legen. Sei es zum Schutz, sei es zum Trutz – du wirst die Schnelllebigkeit überdauern. Hätten die Steinschlepper von damals dies gewusst, sie wären erhobenen Hauptes, erfüllt von Stolz, ihren nächsten Stein holen gegangen.
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