Das Sternenbad

Dieser Text ist mein Beitrag zum Schreibwettbewerb "As Cool As Ice" von bierfreunde. Geschrieben exklusiv für Wattpad.

Die Runde 4 wird von eineqvalle organisiert und überwacht. Vielen Dank dafür. Das Titelbild soll mich zu einer Geschichte anregen. Ich musste es nicht lange betrachten, um die Szene im Kopf wachsen zu lassen. - Ich nehme euch auf eine lange Reise mit, auf die andere Seite unseres Planeten, nach Neuseeland. Dort spielt meine Geschichte unter dem überwältigenden Sternenhimmel der Südhalbkugel. Viel Vergnügen.

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Das Sternenbad

Der Motor des großen Schiffes stirbt ab, sein eiserner Rumpf gleitet noch einige Meter weiter, dann bleibt er stehen. Die Wellen, welche zuvor hinter dem Schiff erfolglos versucht haben, mit dessen Geschwindigkeit Schritt zu halten, holen den Stahlkörper ein, platschen an seine Seite. Danach herrscht Ruhe. Das Schiff liegt auf dem Sound an der Südwestküste der Südinsel Neuseelands.

Das Wetter ist hervorragend. Noch steht der Mond nicht am Himmel. Das einzige Licht weit und breit ist das Schimmern und Funkeln der Millionen von Sternen des Südhimmels. Deutlich kann ich die Ansammlung von Lichtern erkennen, welche im Volksmund als Milchstraße bezeichnet wird. Die elektrischen Lichter des Schiffes sind ausgeschaltet, mit Ausnahme der kleinen Positionsleuchten. Hier muss ich nicht befürchten, von einem anderen Schiff gerammt zu werden - hier gibt es nichts außer dem Meer, den Sternen und mir.

Endlich bin ich wieder hier. Es ist, als käme ich nachhause, an den Ort, wo die Seele baumeln darf, wo Geist und Körper in Freiheit schweben und ich mit jeder Faser das Leben spüren kann. Keine Welle ist hier, weder im Wasser noch in der Luft. Fernab jeder Strahlung, abgenabelt vom Internet, liegen die nutzlosen Geräte irgendwo in einer Kiste, weit unten im Rumpf des Schiffes. Gedanken benötigen keine Wellen; sie entstehen und verschwinden, bilden sich neu und formen Kunstwerke aus Bildern und Worten. Das Bild von damals wächst aus dem Nebel des Vergessens.

Damals war es anders. Du warst mit mir hier, wir hielten uns bei den Händen, glitten ins warme Wasser und badeten in den Sternen. Eine Sternschnuppe holt mich aus den Gedanken und deutet mir an, dass es Zeit sei. Meine Augen haben sich längst an die Lichtverhältnisse gewöhnt, wodurch ich mit sicheren Tritten und Griffen meinen Ausflug in die fremde und große Welt vorbereiten kann. Sanft lege ich mein Kajak auf die spiegelglatte Wasseroberfläche und klettere vorsichtig in den kleinen Schwimmkörper. Dann stoße ich mich vom Schiff ab.

Sofort beginnt das Wasser unter mir zu leuchten. Es sind die Algen, die auf meine Bewegungen reagieren und ein fluoreszierendes Licht abgeben. Jeder Paddelschlag gleicht einem kleinen, grüngelben Feuerwerk, das aufglimmt und langsam wieder erlischt. Wenn ich zurückblicke, erkenne ich noch die Spur meiner Fahrt, weg vom dezent beleuchteten Schiff, das sich schemenhaft vom schwarzblauen Nachthimmel abhebt.

Meine Paddelschläge werden schneller, das Kajak nimmt rasch Fahrt auf. Ich bin mitten im Feuerwerk, versuche einen Rhythmus zu finden, tanzende Lichter in der Disco aus Kopfmusik und Natur, das Eintauchen der Paddel mimt das Schlagzeug. Als Bass blubbert das Wasser unter dem Boot.

Ich sehe uns schwimmen, nackt, verliebt in uns, verliebt in das Leben, sorgenfrei. Wir werfen uns gegenseitig Lichter zu, leuchten um die Wette, albern und lachen. Mit unseren Händen zeichnen wir Herzen aus Licht ins Wasser und erfreuen uns daran wie Kinder in einer Regenpfütze. Ein letzter Paddelschlag, dann lasse ich das Kopfkino ausklingen. Stille.

Wie Blütenblätter, die sich sanft schließen, legt sich die überwältigende Natur um mich. Ich befinde mich zwischen zwei Universen. Die Milchstraße spiegelt sich im flachen Wasser. Sie ist gleichzeitig über mir, zieht mich hinaus, weg von hier - und sie ist auch unter mir, stützt mich, trägt mich. Das Kreuz des Südens steht hell erleuchtet am Himmel und im Wasser. Ein wohliger Schauer der Ehrfurcht strömt durch meinen Körper.

Langsam löse ich meine Spritzdecke und klettere aus dem Kajak, lasse mich ins Wasser gleiten. Unwissend, wie tief es hier ist, wer alles mit mir schwimmt, werde ich ein Teil davon. Leben und leben lassen - niemand wird mich hier angreifen, wenn auch ich niemanden angreife. Das Wasser ist warm und wiederum erzeugen meine sanften Bewegungen das inzwischen vertraute grüne Licht. Ich lege mich neben mein Kajak. schwebe reglos auf der Wasseroberfläche und blicke in den Himmel. Die Felsen der Küste ragen als schwarze Körper aus dem Wasser, sie bilden den einzigen Ort ohne Lichtpunkte, wodurch ich ihre Silhouette deutlich erkennen kann.

Meine Gedanken werden von den Sternen weggetragen. Ich sehe einen kleinen Jungen in einem Ruderboot. Es ist Ben Kaukab, der Sohn der mächtigen Sternenpriesterin, auf dem Weg zum Spiel mit den bunten Sternchen. Er rudert zufrieden durch die Galaxie, quiekt vor Freude, wenn er eine kleine Sternschnuppe antrifft.

"Ben Kaukab, spielst du mit mir?", ruft sie ihm zu.

"Ja!", jubelt der Junge und zappelt dabei freudig mit Armen und Beinen. "Wollen wir Fangen spielen?"

"Du fängst!" Schon schwirrt die Sternschnuppe davon. Ben verlässt lachend sein Ruderboot, in der Hand hält er seinen Stab mit dem glitzernden Halbmond. Er fliegt der Sternschnuppe nach. Sie hinterlassen Spuren und Turbulenzen.

"Hey! Passt auf, wo ihr hinfliegt!" Die weggeschubsten Sterne reklamieren. "Ihr könnt doch nicht einfach so wild rumfliegen! Was fällt euch ein! Wir müssen an unseren Plätzen bleiben."

Doch Ben Kaukab und seine Sternschnuppe stört das wenig. Sie lachen, albern, werfen sich kleine Sterne zu und jagen weiter durch die Milchstraße, ein heilloses Durcheinander von Sternhaufen hinterlassend. Immer schneller schwirren sie durch die Galaxie und schubsen die Sterne aus ihrer Bahn.

Die Sterne purzeln durcheinander, fallen übereinander. Einzelnen geht dabei das Licht aus, was die Situation nicht besser macht. Sie sind verwirrt, schimpfen, schreien und streiten sich. Diese Unruhe ruft die Sternenpriesterin auf den Plan.

Sie ist eine sanfte und intelligente Frau, eine wahrlich königliche Erscheinung, dennoch fragt sie streng: "Was ist hier los? Warum liegt ihr alle drunter und drüber?"

"Hohe Priesterin", jammern die Sterne, "dein Sohn treibt schon wieder Unfug. Er flitzt mit einer kleinen Sternschnuppe durch die Galaxie und rennt dabei alles um, was sich ihm in den Weg stellt."

"Ich kümmere mich darum", beruhigt die Priesterin ihre Sterne. Dann dreht sie sich um und sucht ihren Sohn.

"Ben, was macht ihr da?" Die Sternenpriesterin versucht, ihr Lächeln zu verbergen und streng zu wirken.

"Wir spielen Fangen, Mutter." Ben guckt die Priesterin mit seinen dunklen Knopfaugen an. Die Sternschnuppe versteckt sich hinter ihm, blinzelt bloss schüchtern hervor.

"Seht euch die Unordnung an, die ihr verursacht habt! Das Kreuz des Südens ist ein Knoten, die Milchstraße gleicht einer wirren Liane von ungeordneten Ästen und Zweigen."

"Entschuldige, Mamma. Wir haben das nicht beachtet. Wir wollten bloß spielen." 

Die Sternenpriesterin legt ihren Arm um ihn. "Ach, schon gut. In deinem Alter war ich auch wild und sorglos. Aber ihr müsst das wieder in Ordnung bringen. Sammelt die verwirrten Sterne ein, löst die Knoten und legt sie ordentlich an ihren Platz zurück. Schafft ihr das?"

Die Sternschnuppe nickt freudig. Ben zweifelt, doch er weiß, gegen Anordnungen seiner Mutter kein Mittel zu haben. Zischend schwirrt die Sternschnuppe davon, pickt die verirrten Sterne auf und legt sie, einen nach dem andern in Bens Boot.

"Danke, liebe Sternschnuppe. Du kannst weiterziehen, ich mache den Rest." Ben drückt die Sternschnuppe zum Abschied, dann saust sie davon. Ben klettert in sein Boot. Den Mondstab legt er auf die Sitzbänke. Die bunten Sterne liegen hinten im Boot. Langsam paddelt er los, dann und wann einen Stern fassend, damit er ihn an den richtigen Ort legen kann.

Ben gestaltet den Nachthimmel. Nie muss er überlegen. Er kennt die Sterne, jeden einzelnen von ihnen. Seine Mutter schaut ihm zu, erfüllt von mütterlichem Stolz und lächelt.

Ein leichtes Kribbeln an meinem Fuß weckt mich aus meinem Traum. Es ist ein neugieriger Fisch, der sich etwas Nahrung erhoffte und nun enttäuscht weiterzieht. Ich schmunzle, schließlich weiß ich, dass ich hier durchaus Nahrung sein könnte. Ein hungriger Jäger in meiner Nähe und es gibt mich nicht mehr. Das ist okay, ich bin Teil dieser Welt, nichts Besonderes, eine kleine biologische Sternschnuppe. Vielleicht gelingt es mir, eine zarte Spur zu hinterlassen, die irgendwann verblassen wird, wie der Rauch, der sich vom Docht der erloschenen Kerze löst. Nirgendwo auf der Welt habe ich meine Unwichtigkeit mehr gespürt als hier, mitten auf dem Sound irgendwo in Neuseeland.

Ein letztes Mal tauchst du in meinen Gedanken auf. Ich sehe dein dunkles Haar, höre dein unglaublich glückliches Lachen. Ich schwimme mit dir um die Wette. Du bist die Sternschnuppe, ich bin Ben Kaukab. Unsere Körper schwimmen, aber unser Geist fliegt. Schwerelos jagen wir durch das Wasser und die Sterne, ein heilloses Durcheinander des Lichts hinterlassend. Nichts hält uns auf - du bist ich, ich bin du, wir sind eins. Ich blicke in deine warmen Augen und mit einem Mal sind es nicht mehr die Sterne oder die Berge, die mir Halt geben, es bist du.

Doch du entpuppst dich nicht als leitende, spielende Sternschnuppe, nein, du bist der Strudel, das schwarze Loch, das alles andere aufsaugt und vernichtet. Zu spät erkenne ich, hilflos in deinem Sog zu sein. Immer schneller dreht sich meine kleine Welt um dich, dein fröhliches Lachen verkommt zur Fratze, die Augen leuchten rot.

Es ist die Kälte dieses Bildes, die mich aufschrecken lässt. Meine Arme rudern, die Beine strampeln. Über mir und um mich herum flimmern nach wie vor die Sterne, das Kreuz des Südens steht an seinem gewohnten Platz. Das Kajak ist längst weg und mein Schiff in der Ferne als drei kleine Lichtpunkte, als schwache Italienische Tricolore erkennbar: grün, weiß, rot. 

Es ist nicht schlimm, wenn man mitten im größten Glück der Welt erkennt, dass es keinen Ausweg gibt. Ich schmunzle. Um nichts in der Welt möchte ich tauschen. Ich bin genau da, wo ich sein muss, schon immer sein wollte. Ein kleiner Teil des Ganzen, mit den letzten Bewegungen eine grüne Spur hinterlassend.

Dann schwebt mein Geist zur Sternenpriesterin, ins unendliche Licht der Sterne, mein Körper sinkt in entgegengesetzter Richtung in die blaue Dunkelheit.

"Hey, Sternschnuppe, ich bin hier. Lass uns spielen."

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Das war's, 1575 Worte, gezählt mit Word. Sie ist kurz, meine Geschichte - wie eine einzelne Kugel Eis, die schnell verzehrt ist und dennoch lange nachwirkt. Ich hoffe, mein Eis hat euch eine kribbelnde Kälte beschert, die euch die Süsse und die Wärme erst später spüren lässt.

Ich bin sehr gespannt auf eure Rückmeldungen und Kommentare; freue mich darauf. Danke, liebe bierfreunde, für diesen gelungenen Schreibanlass. Hat Spaß gemacht, diese Eisspeise zuzubereiten. Gut Leck! Danke.


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