Kapitel 16

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„... zwei, drei." Ein Stoß Sauerstoff fuhr durch meine Atemwege. „Eins, zwei, drei." Warum drückte jemand auf meinem Brustkorb herum? Ehe ich eine Antwort dazu fand, bahnte sich fast schon gewaltsam der nächste Stoß Sauerstoff seinen Weg meine Lunge hinunter. Ich keuchte und versuchte, den Kopf wegzudrehen. Was war hier los? 

„Sie ist wieder da", hörte ich eine Stimme. Jemand zog mein Augenlid hoch, und grelles Licht blendete mich. „Hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?" Eine Hand ergriff meine. „Wenn Sie mich hören, dann drücken Sie meine Hand." Mein anderes Augenlid wurde hochgezogen. Wieder blendete mich grelles Licht. Ich drückte die Hand, damit es aufhörte. Es schmerzte in meinem Kopf. „Gut, sie ist wieder bei Bewusstsein." 

Ich hörte Stimmen, die durcheinander sprachen, metallisches Geklapper, fühlte Kühle auf meiner Haut und war ganz und gar nicht sicher, ob mich die Feen dieses Mal in die richtige zweite Chance gebracht hatten. Es fühlte sich auf jeden Fall gar nicht gut an. Da wäre ich lieber wieder Dornröschen, das nur sprechen konnte, wenn es das Märchen erlaubte. Sie hatte wenigstens keine Schmerzen gehabt, sondern einen wunderschönen Königssohn vor Augen. 

Augen. 

Mühsam öffnete ich meine Augenlider. Eine diffuse Halbdunkelheit empfing mich, ich sah Kabel und Schläuche und spürte ein Ruckeln. Das sah zumindest nicht nach einer Märchenwelt aus. Mein Gehirn fühlte sich matschig an, halb taub und irgendwie benebelt. Es fiel mir schwer, mich daran zu erinnern, ob ich eine Science-Fiction-Lieblingsgeschichte hatte, in die ich jetzt zufällig reinkarniert war. Aber das konnte nicht sein, denn ich hatte zuletzt an Elio gedacht. Der kam garantiert in keiner Geschichte vor. Und Science-Fiction und Urban Fantasy waren noch nie mein Ding gewesen. 

„Wir sind gleich da", sagte eine Stimme, und sie klang näher als die anderen um mich herum. 

„Wo da?", kam es krächzend über meine Lippen. Himmel! Das sollte meine Stimme sein? Oder besser, nein, nicht Himmel, da wäre bestimmt alles perfekt, da hätte ich keine Schmerzen und keine schrecklich klingende Stimme. Das Wort Himmel passte überhaupt nicht zu dem, was ich fühlte. 

„Im Krankenhaus. Ihre Eltern kommen auch gleich. Sie haben noch rasch ein paar Sachen gepackt und müssten kurz nach uns eintreffen." Ich wollte sagen, dass ich keine Eltern hatte, sondern nur einen Vater. Doch angesichts meines erschöpften Zustandes sparte ich mir das. „Können Sie sich erinnern, was passiert ist?" 

„Ein Auto", brachte ich mühsam hervor. Dann schloss ich die Augen. Ich wollte lieber nicht daran denken. Denn wenn ich recht hatte, und die Feen hatten mich tatsächlich in mein Leben zurückgeschickt, gäbe es nachher richtig viel Ärger. Ich konnte mir vorstellen, wie Mara keifend vor mich trat, um mich zu auszuschimpfen. Schließlich trug ich nicht nur die Verantwortung für den Unfall, ich trug auch die Schuld daran, dass ein Rettungswagen für mich unterwegs sein musste, statt einem anderen Menschen helfen zu können. 

Ich hätte bei Dornröschen bleiben sollen. Irgendwie wäre es mir sicher gelungen, einem Kuss mit dem Königssohn aus dem Weg zu gehen. Und zu dem Zeitpunkt hatte ich auch noch nicht gewusst, dass ich dem richtigen Dornröschen den Platz weggenommen hatte. Aber wie wäre es weiter gegangen, wenn das Märchen zu Ende gewesen wäre? Normalerweise kamen die Märchenfiguren in ihren Märchenhimmel. Doch ich war ein Mensch und keine Märchengestalt. Wo wäre ich hingekommen? Im deutschen Märchenhimmel gab es kein Dornröschen, das war ja im amerikanischen Märchenparadies. Wenn ich in den Menschenhimmel gekommen wäre, hätte das Märchen der Gebrüder Grimm keine Protagonistin mehr gehabt. 

Ich schauderte bei dem Gedanken, dass vielleicht das schöne Märchen verloren gegangen wäre für alle Zeiten. 

„Ist Ihnen kalt?" 

Ich schüttelte den Kopf. Schon spürte ich eine warme Hand auf meinem Unterarm, die sanft zudrückte. Ich versuchte, nicht zu viel zu grübeln. Wenn ich gleich im Krankenhaus war, brauchte ich meine gesamte Kraft. Oder sollte ich mich schlafend stellen, wenn ich sah, wie Mara mit meinem Vater herankam? 

„Es ruckelt jetzt ein bisschen, dann sind wir da." 

Der Rettungswagen fuhr über eine Bodenwelle und blieb stehen. Die Türen öffneten sich, ich wurde herausgefahren. Eigentlich ging es mir gut. Es war mir peinlich, dass sie mich nach draußen fuhren und ins Krankenhaus schoben. Ich war doch nur mit einem Auto zusammengestoßen, so schlimm konnte es nicht sein, hoffte ich zumindest. 

In der Notaufnahme wurde ich in einen Raum geschoben und umgelagert. Fremde Menschen wuselten um mich herum, Stimmen schallten von einer Seite zur anderen, Anweisungen erfolgten. Tränen drängten aus meinen Augen heraus. Ich fühlte mich schrecklich allein. Eine Ärztin trat schließlich zu mir heran und stellte mir viele Fragen, während sie mich untersuchte. Ein Pfleger assistierte ihr, dann kam auch eine Krankenschwester dazu. 

Die Ärztin sagte zwar, was mit mir los war, aber wirklich verstehen konnte ich sie nicht. Es war zu viel auf einmal, und sie benutzte ihre medizinische Fachsprache. Doch eines war schnell klar: Ich musste im Krankenhaus bleiben und noch einige Untersuchungen über mich ergehen lassen. Aber es war nichts so Schlimmes, dass eine Notoperation notwendig wäre. 

Als ich aus dem Raum hinausgefahren wurde und über den Gang Richtung Fahrstühle, sah ich meinen Vater und – Mara. Leider war das so unerwartet, dass ich mich nicht mehr schlafend stellen konnte. 

„Anara, Liebling, wie geht es dir?" Mein Vater klang besorgt. Er griff nach meiner Hand, während er neben dem Bett hereilte. 

„Gut", sagte ich. Was sollte ich auch sonst sagen? 

„Sie müssen den Personenaufzug nehmen", wies der Pfleger meinen Vater an und zeigte hinüber zu den anderen Aufzügen. „Die Patientin kommt auf die Chirurgie in Zimmer 206." 

Ich atmete erleichtert auf. Ein paar Minuten Schonfrist hatte ich also. Ich schloss die Augen und ließ mich zum Zimmer fahren. Schwestern von der Station eilten herbei und halfen, mich in ein Stationsbett umzulagern. Sofort wurden Infusionsschläuche angebracht und Kabel, um mich zu beobachten. Dann öffnete sich die Tür und meine Schonfrist war vorbei. 

Mara war so schnell, dass sie noch vor meinem Vater mein Bett erreichte. Sie sah nicht so freundlich aus wie sonst. Scheinbar hatte dieser Unfall sie an die Grenze ihrer Schauspielkunst gebracht. „Weißt du eigentlich, was du verursacht hast? Ist dir klar, dass der Sachschaden am Auto von uns bezahlt werden muss? Der Fahrer hat noch zwei weitere Autos gestreift, als er dir ausweichen musste. Wie konntest du nur ...?" 

„Mara!", unterbrach mein Vater sie mit strengem Ton. „Anara hatte gerade einen Unfall. Sie braucht jetzt Ruhe und keine Vorwürfe." 

Was für ein Glück, mein Vater hielt zu mir. Erst jetzt spürte ich, wie angespannt ich gewesen war. Nun aber ließ ich mich ganz locker ins Bett sinken, auch wenn das gar nicht so leicht war, denn das Krankenhausbett hatte eine harte Matratze. Doch wenn ich an den harten Holzfußboden bei Aschenputtel dachte oder an den eiskalten Glasboden des Schneewittchen-Sargs, war das hier eine echte Verbesserung. Nur Dornröschen hatte mehr Glück gehabt, weil bei ihr hoch oben im Turm ein Bett herumgestanden hatte. Sonderbar zwar, aber das zählte dann zur schriftstellerischen Freiheit der Gebrüder Grimm. 

„Wenn sie nicht ungehorsam und kopflos davongelaufen wäre, gäbe es gar keine Vorwürfe. Sie war unverantwortlich." Mara zankte weiter. Merkte sie nicht, dass sie sich damit selbst schadete? All die Wochen hatte ich versucht, sie vor meinem Vater bloßzustellen, doch nie hatte sie ihre Maske verloren. Immer war ich am Ende die Böse. Und nun sollte das Schicksal es so gut mit mir meinen? Ich hätte viel früher vor ein Auto rennen sollen! 

„Mara, nicht jetzt und nicht hier." 

„Und wann dann? Wenn sie nach Hause kommt und alles längst vergessen ist?" Maras Stimme überschlug sich fast schon vor Zorn. „Sie hat mich beleidigt, dich angegriffen, und nun stellst du dich auf ihre Seite, nur weil sie sich vor ein Auto geworfen hat?" 

Mein Vater schenkte mir ein verkniffenes Lächeln. „Anara, ich komme später wieder." Dann ergriff er Mara am Arm und zog sie mit sich. Ich drehte den Kopf, um ihnen hinterherzusehen. Durfte ich tatsächlich hoffen? 

Es dauerte gar nicht lang, da öffnete sich die Tür. Herein kamen aber nicht mein Vater und Mara, sondern Roxanne. 

„Was machst du denn für Sachen?" Sie eilte zu meinem Bett und starrte mich mit großen Augen an. „Geht es dir einigermaßen? Kannst du sprechen? Ich bin sofort hergekommen, als mir dein Vater sagte, was passiert ist. Meine Güte, du musstest dich doch nicht vor ein Auto werfen, nur um dem Klub zu entkommen. Ich habe direkt alle angerufen. Und du glaubst es nicht, aber ich habe eine riesige Überraschung für dich mitgebracht." 

Sie machte eine kurze Pause, um Luft zu holen, ehe sie weitersprach. „Bevor ich ihn reinhole, wollte ich mich lieber vergewissern, dass es dir gut genug geht. Also deine Frisur ist nicht besonders. Aber ich denke, angesichts des Unfalls können wir das durchgehen lassen. Sag mal, musst du das Krankenhaushemdchen tragen? Ich würde die Decke lieber etwas höher ziehen. Wäre doch peinlich, wenn da zu viel zu sehen ist oder nicht?" 

Ich streckte meine Hand aus. Es war mir egal, dass am Zeigefinger eine Klemme war und im Arm eine Kanüle. Doch ich merkte, dass Roxanne sich erst beruhigte, wenn ich sie anfasste. Vorsichtig strich ich über ihren Unterarm. Mein Lächeln fiel etwas schief aus, doch es musste genügen. Sofort stoppte sie mit ihrem Redeschwall. Sie trat näher ans Bett, beugte sich zu mir und legte ihre Wange an meine. 

„Ich hatte solche Angst", flüsterte sie. „Du hattest einen Herzstillstand. Sie mussten dich wiederbeleben. Du hättest tot sein können." 

Ich schluckte. Das war also der Grund, weshalb da jemand auf meiner Brust herumgedrückt hatte. Herzstillstand. War ich wirklich tot gewesen, wenn auch nur für kurze Zeit? Waren diese Reinkarnationen in die Märchengestalten nur Nahtoderfahrungen gewesen, oder war ich wirklich im falschen Himmel gewesen? Ich wollte es lieber nicht so rasch herausfinden. 

„Welche Überraschung?", fragte ich, als das Schweigen langsam unangenehm wurde. 

Roxanne richtete sich auf. Tränen glitzerten in ihren Augen, die sie hastig wegwischte. „Bekomm aber keinen erneuten Herzstillstand, das musst du mir versprechen!" 

Ich rollte mit den Augen, sagte aber nichts weiter. Sie eilte zur Tür, lugte hinaus, flüsterte etwas und kam wieder hinein. „Ich lass dich dann mal allein, liebste Anara." Ehe ich mich verabschieden konnte, war sie draußen und herein kam – Elio. 

Mit großen Augen starrte ich zur Tür. Das musste eine Halluzination sein. War ich im Koma und dies ein ewig andauernder Komatraum? Warum sollte Elio ausgerechnet mich besuchen, und dann noch im Krankenhaus? 

„Hi, Anara, darf ich näherkommen?" 

„Ja, klar", krächzte ich und räusperte mich, um etwas normaler zu wiederholen: „Ja, klar, ich hab nichts Ansteckendes." 

Er kam zu mir ans Bett, stand ein wenig verlegen vor mir und hielt seine Hände umklammert. Seine blauen Augen wirkten überschattet, es fehlte eindeutig das schalkhafte Lächeln. „Ich ... Also ... Roxi hat gesagt, du hattest einen Autounfall, als du auf dem Weg zum Klub warst." Er streckte eine Hand aus und fuhr zart über meinen Unterarm. „Ich hab einen riesigen Schreck bekommen. Und ich ... Ich wollte dir nur sagen ... Also ..." 

Er stockte kurz und atmete tief durch. „Ich mag dich sehr gern, Anara. Und ich möchte, dass du das weißt. Ich hab immer gedacht, es ist noch so viel Zeit, dir das zu sagen, aber wenn wir doch nicht so viel Zeit haben?" Er trat näher ans Bett. Und jetzt sah er mir in die Augen. Seine Stimme wurde dunkler, sein Gesichtsausdruck verletzlich. „Du bedeutest mir unendlich viel, Anara, und ich möchte gern mehr Zeit mit dir verbringen. Nur mit dir." 

Hatte ich das richtig verstanden? Elio, der Liebling aller Mädchen der Oberstufe, mochte mich so sehr, dass er mehr Zeit mit mir verbringen wollte? Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich jetzt vor Freude kreischend im Zimmer herumgetanzt. 

Ich spürte Elios sanften Blick, fühlte seine zarten Fingerspitzen auf meinem Unterarm. Ein Schauer rieselte durch meinen Körper, der ganz sicher nicht von den Beruhigungsmitteln herrührte. 

„Ich mag dich auch sehr, sehr gern", sagte ich. Und es war mir egal, dass meine Stimme kratzig klang. Ihm anscheinend auch. Denn er lächelte mich an, so zärtlich und charmant, dass mir gleich noch viel wohler wurde. 

Und dann ... beugte er sich zu mir hinunter. Und ehe ich wirklich begreifen konnte, was geschah, berührten seine Lippen ganz sanft meinen Mund. Ich schloss die Augen, um die Weichheit und Wärme mit allen Sinnen auszukosten. 

Und dieses Mal blieb mein Herz nicht stehen. 

Als ich die Augen wieder öffnete, lächelte mich der zauberhafteste, schönste und begehrenswerteste Mann der ganzen Welt an, und ich wusste, Elio war mein Prince Charming. 

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