4. Bombe ohne Rücksicht
„Hier sind die Photos.", verkündete Flavie mit breitem Grinsen und drehte ihr Handy. Ausnahmsweise hatte sie mal nicht gelogen und eindeutiger hätte zumindest dieses Foto nicht sein können. Wir hatten beide die Augen geschlossen und steckten uns die Zungen in den Hals.
Carla machte ein blankes Gesicht und musste erst einmal damit fertig werden, dass sie das Opfer, der neue Klatsch des Dorfes war. Vorsichtig schaute ich zu Benedikt und stellte mit Erleichterung fest, dass er sich nicht lange mit dem Bild aufgehalten hatte und seine Nase schon längst wieder zwischen zwei dicht beschriebenen Seiten steckte.
„Ich habe noch mehr Bilder, weil ihr auch noch mehr gemacht."
„Es reicht, Flavie. Hier ist keiner an mehr interessiert."
Ohne mir Beachtung zu schenken, wischte sie auf ihrem Handy weiter und stellte sich an Heinrichs Seite, um ihm mehr Bilder zu zeigen, wie wir mutiger wurden, wie die Kleidung immer weiter zu Boden glitt und wir weitere Dinge ausprobierten.
Besiegt starrte ich Benedikt an und fragte mich, ob ich jemals eine Chance bei ihm haben würde und ob ihm die Lesbengeschichte hier egal war oder er seine Meinung über uns komplett geändert hatte.
Ich konnte es nicht sagen und auch nicht erraten, da er genauso ausdruckslos zurückstarrte. Mit gemischten Gefühlen dachte ich an Hamburg zurück. Vielleicht hätte ich doch da bleiben und mehr um meine Rolle kämpfen sollen, denn hier ging es mir nicht besser. Allerdings war ich keine Schlampe, wie manch andere Personen, und hätte ohnehin keine Chance mehr auf die Rolle gehabt.
„Julia?", hörte ich die zögerliche Stimme des Herzogs in weiter Ferne, aber ich reagierte gar nicht erst darauf. „Julia? Carla?" Keine Antwort. „Ich weiß, eine einfache Entschuldigung, wird nicht wieder gut machen, was ihr jetzt gerade fühlt und durchmachen müsst. Wir hätten das Thema ruhen lassen sollen, stattdessen hat unsere Neugier gesiegt und ihr seid die Opfer. Ich bitte euch beide"
„Du hättest das Thema ruhen lassen sollen zusammen mit diesem kleinen Biest." Carlas Schreien ließ uns alle ruckartig zusammenfahren. Ihre Augen funkelten und hatten sich sichtbar geweitet. Sie war wütend und das vollkommen zu Recht. „Ich weiß wirklich nicht, was mich davon abhält einfach nach Hause zu gehen und nie wieder hierher zu kommen. Julia, hatte dich gerade erst darauf hingewiesen, dass du dabei bist deine Freunde zu verärgern..."
Heinrich wusste es besser, als jetzt direkt darauf zu antworten und Carla mit sehr großer Wahrscheinlichkeit weiter zu verärgern.
„Oh, ich habe mehr Photos von Sommerball." Sie wusste wirklich nicht, wann es Zeit war aufzuhören.
„Flavie, es ist jetzt genug mit den Fotos. Ich hatte dir gerade gesagt, dass du Carla und Julia in Ruhe lassen sollst."
„Aber das ist nicht Carla und Julia, aber Benedikt." Das konnte nicht ihr ernst sein. Würde sie tatsächlich Benedikt in den Dreck ziehen oder was beabsichtigte sie eigentlich in unserer Runde? Benedikt legte sein Buch schon einmal bei Seite, denn dieses Thema brachte bis jetzt noch immer eine Wendung mit sich und würde auch in den nächsten fünf Minuten nicht abgehakt sein. „Du warst auf Ball plötzlich weg und ich habe dich gefunden, als du gerade etwas mit anderen Mann gemacht hast."
Darauf herrschte erstmal Schweigen und nicht das angenehme und gute Schweigen. Heinrich starrte mit ernstem Blick vor seine Füße und Benedikt wagte es nicht Flavie anzusehen, noch ihr darauf zu antworten. Diese Frau war wirklich eine lebende Bombe, die aber nicht selber, sondern den Ruf anderer explodieren ließ.
„Siehst du? Hier du beugst dich über ihn und hast etwas in Hand und auf nächste Photo ist auch Heinrich und ihr seid beide sauer." Keine Panik, dass ließ sich alles noch erklären. „Oh, und auf dritte Photo, du tust Spritze in seine Arm. Was macht ihr da?" Hatte Flavie überhaupt ein Recht dies zu erfahren. Zumindest wussten jetzt auch die beiden Männer, sie nicht zu unterschätzen.
„Der Herr auf dem Foto ist plötzlich ohnmächtig geworden und Heinrich hat mir geholfen, seine Medizin zu finden, damit wir ihm rechtzeitig helfen konnten. Innerhalb von ein paar Minuten war er wieder auf den Beinen und hat uns für unsere Hilfe gedankt."
Flavie hakte nicht weiter nach und würde somit wohl nie erfahren, dass es sich nur um die halbe Wahrheit handelte oder eher den irreführenden Teil der Geschichte, wenn man ihn unabhängig vom Rest hörte. Die angebliche Französin ließ ihren Blick langsam über uns schweifen und in ihren Augen bildete sich doch ein leiser Zweifel, den sie aber zusammen mit ihrem Handy in die Tasche schob, um ihn bei nächster passender Gelegenheit wieder hervorzukramen.
„Ach ja, ich werde einmal die Gelegenheit nutzen und dich bitten die Karte für meinen Sohn zu unterschreiben, Flavie. Die drei anderen haben dies schon bei ihrer Ankunft getan und du fehlst noch. Wie gesagt, wenn er mein Amt übernimmt, soll er eure Unterstützung haben und als kleines Willkommen von euch soll diese Karte sein."
Flavie nickte, konnte sich aus der Karte genauso wenig wie ich, einen Reim machen. „Die Karte findest du im anderen Zimmer. Durch die Tür rechts und das zweite Zimmer auf der linken Seite. Und wenn ihr mich entschuldigt, mir ist gerade etwas eingefallen, was ich mit Theodor kurz absprechen muss."
So waren es nur noch drei und ich würde sicherlich nicht warten, bis die beiden zurückkamen. Es war einfach nur unangenehm, Benedikt gegenüber zu sitzen, wenn er von unserem kleinen Geheimnis wusste, aber wir nicht wussten, wie er darüber dachte und ich war mir sicher, dass es Carla genauso ging. „Ich bin kurz draußen.", flüsterte ich mit rauer Stimme.
Ich schlug denselben Weg wie Flavie ein und konnte es mir nicht nehmen, einmal durch die nur angelehnte Tür zu spähen. Sie stand mit dem Rücken zu mir und beugte sich über den großen Schreibtisch. Ich ließ meinen Blick durchs Zimmer streifen und konnte dieses lästige Gefühl nicht abstreifen, dass irgendetwas nicht stimmte. An allen Seiten standen Regale gefüllt mit Büchern, Kisten, und anderem Kram. Durch das Fenster fiel nur ein ganz wenig Licht, sodass das halbe Zimmer aus schwarzen und grauen Schatten bestand. Die Regalreihe an der linken Wand hielt meinen Blick fast schon gefangen. Nur schwer konnte ich mich davon losreißen und meinen Weg fortsetzen.
Draußen fiel der Schnee ohne Stopp und Pause. Wie gewohnt griff ich mir eine der Wolldecken vom Stuhl neben der schmalen Schiebetür und setzte den ersten Schritt vor die Tür. Nur mit Mühe unterdrückte ich das Klappern meiner Zähne und schob mir zur Sicherheit den Glimmstängel dazwischen. Mit schützender Hand brachte ich mein Feuerzeug zum Funktionieren und schon kurz darauf konnte ich abschalten und den Rauch dabei beobachten, wie er sich mit meinem Atem vermischte. Rauchen war eine meiner lästigen Angewohnheiten, aber ich wusste auch nicht, wie ich sonst den Wahnsinn der sich Familie nannte und den Stress meiner Arbeit überstehen sollte. Ich genoss einfach die Ruhe, die ich hier draußen haben konnte und dachte gar nicht mehr an Hamburg oder an die Episode vor zehn Minuten. What goes around, comes around und Flavie würde irgendwann für all ihre Taten gerade stehen müssen, ganz gewiss. Währenddessen konnte ich mich darum sorgen, wie ich Benes Aufmerksamkeit zurückkriegen wollte.
Ein lautes Klopfen ließ mich abrupt herumwirbeln, um zu sehen, wie Benedikt mit finsterem Gesicht die Glastür zur Seite schob. „Es ist Zeit wieder reinzukommen, scheint so als wäre das Thema immer noch nicht gegessen... Hast du Carlas Schrei gerade nicht gehört?"
„Nein..." Hatte Flavie etwa noch mehr aus ihrem Nähkästchen geholt und Carla endgültig auf die Palme gebracht?
Benedikt trat einen Schritt zur Seite und ließ mich eintreten. Schweigend gingen wir zurück zum grünen Zimmer, doch Benedikt hielt mich plötzlich am Handgelenk fest und zeigte auf die Tür zu unserer rechten. Welche drei Türen weiter auf der linken Seite vom grünen Zimmer lag. Nun, vielleicht hatte auch Carla den ersten Schritt getan. Fakt war, ich hatte nicht die geringste Lust den nächsten Streit zu schlichten und wollte lediglich, dass Flavie verschwand und ich mit Benedikt wieder auf gutem Fuße stand.
„Tritt ein, du solltest schließlich wissen, was dich drinnen erwartet."
Wie war das jetzt gemeint? Mit großem Fragezeichen öffnete ich die Tür und konnte mich gerade so beherrschen, dass ich nicht selber losschrie.
Nur zwei, drei Meter vor meinen Füßen lag Flavie auf den Boden, Augen fest geschlossen und ihr Brustkorb hob und senkte sich auf den ersten Blick nicht mehr. Noch viel erschreckender Waren die dünnen, weißen Fäden, die sich durch das ganze Zimmer zogen und Flavie einhüllten. Sie hing zwar nicht in der Luft, aber einige der weißen Fäden schnürten sich um ihre Hand- und Fußgelenke, um ihren Hals und ihren Körper. Vielleicht hätte man sie hochziehen können, wenn man an den anderen Seilen zog. Carla hockte neben ihr auf dem Boden, konnte jedoch nichts anderes als Heinrich dabei stumm zuzuschauen, wie er Flavie in die stabile Seitenlage brachte und versuchte, sie von den Fäden zu befreien.
„Ist das ein Scherz?", fragte ich ungläubig in die Stille und kassierte von Heinrich einen genauso ungläubigen Blick.
„Du willst mir allen Ernstes sagen, du hättest damit nichts zu tun gehabt?", seine Stimme war leise, dafür nicht weniger bedrohlich.
Ich brauchte mich gar nicht zu Benedikt umzudrehen, um zu wissen, dass er denselben Verdacht hatte. Seine Worte vor der Tür machten es deutlich genug.
„Heinrich, ich musste mir dank dir, heute vieles gefallen lassen, aber das hier, wie auch immer man es nennen will, kommt ganz sicher nicht auf meine Liste. Das Fass ist voll, such dir jemand anderen, den du beschuldigen und anmeckern kannst." Ohne Rücksicht nahm ich Heinrich seinen Platz neben Flavie und prüfte ihr Atmung, die leider und ohne, dass ich es zugegeben hätte, zum Glück noch vorhanden war. Grob schüttelte ich Flavie an der Schulter und rief mehrmals ihren Namen. „Vielleicht wäre es ganz praktisch, wenn jemand eine Schere holt, damit wir sie von den Fäden befreien können, die sehen nämlich nicht so aus, als könne man sie einfach durchreißen."
„Vielleicht wäre es ganz praktisch, wenn du sie nicht so grob behandeln würdest. Geh weg da, ich versuche sie zu wecken." Benedikts schroffen Worte ließen mich für einen Moment innehalten, genug Zeit damit er sich nun an den Platz drängeln konnte.
Es dauerte etwas bis Flavies Augenlieder sich bewegten und sie die Augen aufschlug. Verwirrt schaute sie von einem zum anderen und hielt sich den Kopf. „Oh, was ist passiert?"
„Erinnerst du dich wirklich nicht?", fragte Benedikt mit leiser und ruhiger Stimme nach und strich ihr sanft dabei über den Arm. In mir verkrampfte sich alles und wäre es keine ernste Situation hätte ich sicher meinen Würgereiz angedeutet. Warum bekam sie schon wieder die gesamte Aufmerksamkeit?
Es war zwar sehr wahrscheinlich, dass einer aus unserer Runde für ihren Zustand verantwortlich war, aber sie hatte es heraufbeschworen und verdient, daran bestand kein Zweifel.
„Kommt, wir bringen Flavie ins Grüne Zimmer, sie soll sich erstmal von dem Schock erholen und etwas zu trinken, hilft immer." Nach und nach verließen wir das Zimmer des Schreckens und nahmen unsere alten Plätze auf den Sesseln und dem Sofa ein. Leider konnte ich nicht verhindern, dass Flavie schon wieder neben Benedikt saß und sich an ihn klammerte.
„Wenn ich dieses Mal eure uneingeschränkte Aufmerksamkeit haben darf, spätestens jetzt geht es um ein ernstes Thema. Einen Einbrecher können wir ausschließen, mein Hauspersonal auch, also bleibt nur jemand aus unserem kleinen Kreis als Täter. Keiner von euch hat mir vorhin zugehört, als ich meinte, ich will eure Kriege nicht mehr in meinem Wohnzimmer haben." Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und das völlig zu Recht. Wobei wieder bemerkt werden musste, dass Flavie angefangen und ihr Glück herausgefordert hatte.
„Was ist mit dem Dornröschen-Mythos? Wir haben doch alle die Zeitung heute Morgen gelesen und die Ähnlichkeit ist wohl kaum zu verkennen.", bemerkte meine Freundin.
„Ach, und du glaubst, der Mörder hatte nicht genug von seinen Morden und macht ausgerechnet in meinem Haus weiter?" Der Sarkasmus in Heinrichs Stimme war nicht zu überhören. Anscheinend war es ihm doch ein ernstes Thema, dass er nicht auf die leichte Schulter nehmen wollte und konnte.
„Wieso? Gestern Nacht wurden fünf Leichen im Steinwald gefunden und heute Morgen zwei weitere in einer Gasse. Nur weil die Leichen gefunden wurden, bedeutet es nicht gleich das Ende der Mordserie."
„Aber Flavie wurde zum Glück nicht umgebracht. Warum sollte er sie nur betäuben?", mischte sich nun auch Benedikt ein.
„Vielleicht ist er soweit gar nicht gekommen, weil Carla Flavie vorher gefunden hat. Sie hatte doch schon die Fäden um den Körper, vielleicht wäre sie etwas später tatsächlich ermordet worden."
„Gibt es denn irgendwelche Hinweise zu dem Täter?"
„Rein gar nichts, aber das stand auch im Zeitungsartikel, Heinrich."
„Wie wahr... Die Raffinesse würde ich dennoch einigen aus unserer kleinen Runde zutrauen."
„Ich auch.", flüsterte ich leise zwischen meinen Fingern.
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