Eine unter Vielen

»Ist es ... für noch jemanden das erste Mal?«
Sie sah in die Runde, doch niemand antwortete ihr.
Sie versuchte, nicht zu sehr herumzuzappeln, während sie wartete. Schließlich hielt sie es nicht länger aus.
»Entschuldigung? Kannst du mir vielleicht sagen, wie es ist?«
Ihr Nachbar sah nicht begeistert aus, dass sie ihn ansprach, aber zumindest ließ er sich zu einer Antwort herab: »Erfährst du gleich selbst.«
Bevor er sich von ihr abwenden konnte, stellte sie schnell ihre nächste Frage: »Ich vermute mal, es hat nicht viel von der Ruhe in einem Gletscher, oder?«
»Richtig. Hat es nicht.«
»Und was ist mit einem wilden, sprudelnden Gebirgsbach? Ist es so ähnlich, wie über Steine hinwegzurauschen?«
Diesmal war die Antwort noch knapper: »Nein.«
»Ich mag ja Meereswellen, dieses sanfte Hin-und-Her-Wiegen. Hat es vielleicht etwas davon?«
»Nein.«
»Es hat doch sicherlich Ähnlichkeiten mit dem Aufsteigen. Fühlt man sich genauso leicht? Ist es genauso warm und behaglich?«
»Es ist ganz anders.«
»Aber zumindest der Ausblick muss doch derselbe sein.«
»Ist er nicht.«
»Aber -«
»Warst du schon mal in einem Wasserfall?«, unterbrach ihr Nachbar sie.
Ihre Augen wurden bei dieser Rückfrage groß.
Sie schüttelt den Kopf und hauchte: »Al-also ist es so, w-wie einen Wasserfall hinabzustürzen?«
Die geblaffte Antwort ließ sie zusammenzucken.
»Nein! Es ist mit nichts vergleichbar.
Und jetzt sei endlich still; ich muss mich konzentrieren.«
Er wandte sich demonstrativ von ihr ab und ihr blieb nichts anderes übrig, als wieder in die Runde zu sehen.
Es war noch alles genau wie vor dem kurzen Gespräch. Niemand zeigt irgendein Interesse daran, ihr nächster Gesprächspartner zu werden; sie alle wirkten seltsam in sich gekehrt.
Sie suchte in ihren Gesichtern nach Vorfreude oder Angst oder sonst einen Hinweis auf das, was ihnen bevorstand. Doch ihre Minen waren allesamt gefasst und nichtssagend.
Einzige ihre Blicke verrieten eine leichte Anspannung, wenn sie in die Tiefe sahen.
»Sie alle wissen, wie es ist.«, dachte sie, »Nur ich nicht.«
Sie schaut ebenfalls nach unten, aber noch hatte sich nichts verändert.
Oder?
Ihr fiel auf, dass das Gefühl der Leichtigkeit abgenommen hatte. Mittlerweile zog eine deutlich spürbare Kraft an ihrem Körper und ein kurzer Blick zur Seite machte klar, dass es den anderen genauso ging.
»Der Erdboden will uns zurück. Für seinen Geschmack waren wir wohl lang genug hier oben.«
Um sie herum erreichte die Stille ihren Höhepunkt.

Unter sich sah sie ihre Kameraden in die Tiefe stürzen - eine Schicht nach der anderen - und in ihrem Körper machte sich ein Kribbeln breit.
Dann wurde auch sie nach unten gerissen - weg von der Vertrautheit und weg von ihren Gefährten.
Ihr ungesprächiger Nachbar behielt recht. Der Sturz ähnelte nichts, was sie jemals erlebt hatte.
Der Wind hatte sie fest im Griff und ohne jeden Halt wurde sie umhergeschleudert, von einer Böe zur nächsten. Immer wieder erhaschte sie einen kurzen, verschwommenen Blick auf die anderen.
Doch so sehr sie sich auch nach ihrer Berührung ausstreckte und wie laut sie auch gegen das Tosen des Windes anschrie: Sie blieb allein.
Zum allerersten Mal war niemand an ihrer Seite.

Als sie schon glaubte, der Sturz würde niemals enden, trat sie in eine kältere Luftschicht ein.
Sie kannte die Kälte; hatte beinahe ihre gesamte Existenz als Teil des ewigen Eises verbracht. Doch diesmal war es anders. Diesmal konnte sie sich nicht an ihren Kameraden festklammern – denn da war niemand.
Und so streckte sie ihre Arme allein der Leere entgegen, breitete sie aus wie Flügel, und ergab sich der Kälte. Jedoch: Nicht aus Verzweiflung. Es war vielmehr Teil ihres Wesens, ein tiefsitzendes, inneres Bedürfnis.
Sobald es gestillt war, wurde es ganz ruhig und friedlich in ihr.
Das Gefühl passte zu dem sanften Dahingleiten, mit dem sie nun zu Boden sank.

An ihrem Ziel angekommen, wurde sie von ihren Kameraden aufgefangen.
Auch sie hatten die Kälte umarmt. Auch ihre Körper waren verwandelten worden und mit ihren unzähligen, geometrischen Facetten reflektierten sie das Licht in alle Richtungen.
»Jeder von ihnen sieht anders aus,«, dachte sie, »und keiner wie ich.«
Dabei schimmerte sie und glitzerte und schmückte sich mit den Farben des Regenbogens.
In all den Jahrmillionen hat sie sich noch nie so einzigartig und wunderschön gefühlt.

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