Kapitel 3: Die Erbin
Niemand hatte Danielle von Rudde je ein sonniges Gemüt nachgesagt. Sie hatte scheinbar permanent herabhängende Mundwinkel und schien der Welt mit einem missbilligenden Blick zu begegnen, und das war selbst dann noch so, wenn sie lächelte.
Man hätte meinen können, das dies der Grund war, weshalb sie trotz ihrer guten Aussichten, das gesamte Vermögen ihres Vaters zu erben, mit beinahe 29 Jahren immer noch unverheiratet war. Allerdings hatte Danielle über die Jahre hinweg immer wieder Verehrer gehabt, die sie schroff abgewiesen hatte, wann immer diese versucht hatten, ihr näher zu kommen.
„Ich werde niemals heiraten!" hatte sie bereits als Kind geschworen.
„Unsinn! Kind, was soll aus dir werden, und wer soll für dich sorgen, wenn du ganz allein auf der Welt ohne Mann und Kinder bist?" hatte ihre Gouvernante, Fräulein Diecke, geantwortet.
Doch Danielle meinte es ernst. Sie sah nicht ein, weshalb sie aufgrund ihres Geschlechts anders behandelt wurde: Weshalb durfte ein Mann Junggeselle bleiben und war trotzdem bei allen beliebt? Weshalb durfte ein Mann Hosen tragen und keiner störte sich daran, aber warum war es ein großer Skandal, wenn sie in der Öffentlichkeit welche trug? Weshalb galt es als unschicklich, wenn sie beim Reiten keinen Damensattel benutzte?
In den beiden Dörfern L. und W., die in der unmittelbaren Nähe des Schlosses lagen, war Danielles exzentrisches Verhalten bekannt, aber es wurde schweigend hingenommen, seit der Pfarrer von W. in der Sonntagsmesse für sie gebetet und dabei nicht versäumt hatte, darauf hinzuweisen, dass das „arme Mädchen" es offensichtlich nicht leicht im Leben gehabt hatte: Allzu lange war sie ohne eine Mutter aufgewachsen mit einem Vater, der zwar ein guter Geschäftsmann war, der aber offenkundig selbst nicht viel davon verstand, wie eine feine Dame erzogen werden sollte, und ihre Erziehung einer Gouvernante überlassen hatte. Außerdem war die zweite Frau ihres Vaters selbst noch ein halbes Kind gewesen, als sie den Baron geheiratet hatte, und mit dem störrischen, verwöhnten Mädchen überfordert gewesen. Daher konnte Danielle es als Erwachsene nicht verstehen, wieso sie nicht auch bezüglich ihres Wunsches, unverheiratet zu bleiben, gegen alle gesellschaftlichen Konventionen verstoßen und einfach ihren Willen durchsetzen konnte.
Da seine Tochter nun auf die 30 zuging, hatte selbst der Baron, der auch nicht jünger wurde, das Problem erkannt. „Danielle, so geht das nicht weiter! Du kannst nicht ewig allein bleiben!", entfuhr es ihm eines Tages am Frühstückstisch.
„Warum nicht?", fragte seine Tochter, die an diesem Morgen ausreiten wollte und deshalb komfortable Kleidung trug, zu der auch die Cordhosen und das einfache Arbeitshemd eines Stallburschen gehörten, die sie diesem abgekauft hatte.
„Weil ich irgendwann nicht mehr für dich da sein kann und dich an dem Tag, an dem ich sterbe, gut versorgt sehen möchte", erwiderte Bernhard von Rudde.
„Es sieht aber nicht so aus, als ob du bald sterben wirst. Du bist immer noch jung genug, um mit Conny den Sohn zu bekommen, den du dir immer gewünscht hast. So wie ich dich kenne, würdest du es ohnehin bevorzugen, wenn dein eigener Sohn die Hütte übernehmen würde", meinte Danielle, während sie vorsichtig die Schale von einem gekochten Frühstücksei löste.
Bernhard seufzte. Seine Tochter wusste nur zu gut, dass sie damit einen wunden Punkt getroffen hatte. Denn er führte zwar mit Constanze seit 20 Jahren eine Ehe, die aus seiner Sicht glücklich war. Aber da sie kinderlos geblieben war, fühlte sie sich bis heute nicht vollkommen an. Freilich machte er dafür weder Constanze noch sich selbst verantwortlich; das Schicksal oder der liebe Gott, an dessen Existenz er zu zweifeln begonnen hatte, seit Constanze vor zwei Jahren ihre dritte Fehlgeburt erlitten hatte, hatte es schlichtweg nicht anders gewollt. Natürlich war es immer noch möglich, dass er und Constanze mit einem gesunden Kind gesegnet werden würden. Doch mit jedem Tag, der verging, schwand seine Hoffnung, dass sich sein Kinderwunsch am Ende erfüllen würde, ein wenig mehr. „Ich würde mich an deiner Stelle nicht so sehr darauf verlassen, dass sich alles am Ende von allein regeln wird", sagte Bernhard aus diesem Grund zu seiner Tochter. „Abgesehen davon bestehe ich darauf, dass du dieses Jahr mit uns an die Ostsee fährst. Du kannst dich nicht immer hier im Wald verkriechen und deine Pferde reiten, sondern musst auch mal unter Leute deines Standes kommen!"
„Ach, Papa, muss das unbedingt sein? Du weißt doch, wie sehr ich die paar Wochen im Sommer, in denen ich hier allein die Stellung für dich halte, genieße!", protestierte Danielle und musste sich bemühen, nicht die Beherrschung zu verlieren, als ihr Vater betonte, dass dies sein Wille sei und sie diesem Folge zu leisten habe, solange sie unter seinem Dach wohnte.
Während der zwei bis drei Wochen im Sommer, welche der Baron und die Baronin an der Ostsee und in Berlin verbrachten, war Danielle die Herrin des Schlosses und der Hütte. Dies waren zugleich auch die einzigen Tage im Jahr, während der niemand sie aufgrund ihres Geschlechts offen für unfähig hielt, ihren Vater zu vertreten, und während derer sie an seiner Stelle Entscheidungen treffen konnte. Obwohl ihr Vater ihr bislang in jedem Jahr detailreiche Instruktionen hinterlassen hatte, was sie zu erledigen hatte, hatte sie durchaus eigene Akzente setzen können, etwa als sie vor drei Jahren den Bau einer Krankenstation für die Hüttenarbeiter und ihre Familien in Auftrag gegeben hatte.
Abgesehen davon war der derzeitige Geschäftsführer der Hütte, Gustav Hoffmann, ein sehr kompetenter Mann, der ihr viel über die Leitung einer Hütte beigebracht hatte. Wenn er nicht schon ein verheirateter Familienvater gewesen wäre und von ihrem Vater verdächtigt worden wäre, ein Sozialist zu sein, hätte sie sich durchaus vorstellen können, ihn zu heiraten.
Jedenfalls war Danielle während ihres Ausritts noch so wütend auf ihren Vater, dass sie so schnell, wie sie nur konnte, durch den dichten Wald galoppierte, in dem sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte. Hier in der freien Natur konnte sie ihren Tränen darüber, wie unfair ihr Leben war, freien Lauf lassen, und keiner scherte sich darum, dass sich ihre langen, kastanienbraunen Locken aus ihrem eleganten Zopf lösten, bis sie am Ende ihres Ritts aussah wie eine wilde Kriegerin.
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