Erste Tür

Als sie bereits das siebte Fahrzeug innerhalb von vier Minuten überholte, warf Elias einen besorgten Blick aus dem Fenster, in der Hoffnung, ein Geschwindigkeitsbegrenzungsschild zu entdecken, auf dem stand, dass sie genau richtig fuhren und die anderen einfach nur zu schnell wahren. 

Aber leider zeigte das nächste, an dem sie gemächlich vorbei ratterten,  Hundertzwanzig an. Hastig drehte er den Kopf nun zur anderen Seite, um einen Blick auf das Tachometer zu werfen. 

Die Zahl auf dem kleinen Display ließ ihn beinahe laut seufzen. Sein Vater fuhr punktgenau Sechzig km/h. 

Auf einer Schnellstraße.

 „Wir kommen nochmal um eine Stunde später, wenn du weiterhin so langsam fährst.", murmelte Elias, während er sich resigniert in seinen Sitz zurücksinken ließ. 

„Wegen zu hohen Geschwindigkeiten passieren schwere Unfälle.", entgegnete sein Vater nur gelassen und sah in den Rückspiegel, ehe er blinkte, um die Spur zu wechseln. Ganz entspannt natürlich. 

„Und du willst doch sicherlich nicht, dass wir überhaupt nicht bei Gina ankommen, oder?" 

Elias erwiederte nichts darauf und griff stattdessen nach vorn, um das Autoradio lauter aufzudrehen. Sofort dudelten ihm die Töne von Last Christmas entgegen, und obwohl er das Lied schon längst nicht mehr hören konnte, sang er leise mit. Teilweise um zu versuchen, seinen Vater damit auf die Palme zu bringen - was aber fehlschlug. 

Er hätte es besser wissen müssen, als sich von ihm zu seiner Tante fahren zu lassen. Hätte er doch lieber den Zug, oder den Bus genommen! In beiden Fällen wäre er weitaus eher angekommen, als jetzt. 

Wenigstens würde sein Vater ihn nur bei seiner Schwester absetzten und dann weiterfahren, um irgendeinen alten Kumpel von ihm zu besuchen. 

Elias konnte froh darüber sein, Zeit allein mit seiner Tante verbringen zu dürfen, denn seit seine Eltern sich getrennt hatten, war sein Vater noch wunderlicher geworden, als er zuvor sowieso schon gewesen war. 

Als das nächste Weihnachtslied anlief, hupte hinter ihnen ein anderer Autofahrer und überholte schließlich auf rechts. 

Über dieses Verhalten schüttelte Elias Vater nur den Kopf, und über die laute Musik hinweg konnte sein Sohn hören, wie er sich verwundert, aber auch enttäuscht dazu äußerte. „Schrecklich, dass die Leute immer noch glauben, durch das Leben hetzen zu müssen. Und das auch noch in der Weihnachtszeit!" 

Elias tat so, als hätte er ihn nicht gehört. 

Nach einer weiteren halben Stunde, die sie bei normaler Geschwindigkeit in locker nur der Hälfte der Zeit geschafft hätten, erreichten sie endlich die Kleinstadt, in der Gina seit knapp zwei Jahren wohnte. 

Es war das erste Mal, dass Elias sie hier besuchen würde. Gesehen hatte er sie ebenfalls seit zwei Jahren nicht mehr. Jedoch war genau das der Grund, weshalb er sich auf dieses Weihnachten so sehr freute. Seine Tante war eine der besten Frauen auf dieser Welt. 

Und bald hatte er sowieso seinen eigenen Führerschein, und könnte sie selbst besuchen wann immer er wollte. Diese rosige Zukunft ließ seine Laune steigen, je näher sie der Adresse kamen, die sie mehrere Stunden zuvor ins Navi eingegeben hatten. 

Kleine Hochhäuser zogen an ihnen vorbei, Autos und Motorräder brummten in den Straßen. In vielen Fenstern standen bereits Schwibbögen oder schmückten bunte Girlanden mit weihnachtlichen Motiven die sonst so kahlen Scheiben. 

Und als sie an einer Kreuzung halten mussten, sah Elias am Ende einer der Straßen sogar einen Platz mit einem großen, öffentlichen Weihnachtsbaum, der bereits geschmückt worden war. Er konnte nicht verhindern, dass ihn diese Aussicht warm um Herz werden ließ. 

Er mochte die Weihnachtszeit. Allein schon deshalb, weil sie ihn immer ein Gefühl von Zuhause spüren ließ, und Gemütlichkeit und Geborgenheit bedeutete. 

Schließlich hielt sein Vater das Auto an. Als der Motor rasselnd erstarb, war die Musik aus dem Radio plötzlich doppelt so laut und Elias war der Schnellste und stellte sie ab. 

„So, da wären wir.", meinte sein Vater. „Willst du allein gehen, oder soll ich mitkommen?" 

„Meinst du das ernst?" Genervt verdrehte Elias die Augen und öffnete die Beifahrertür, um auszusteigen. 

„Ich bin fast erwachsen, ich kann meine Tante allein besuchen. Und du hast selbst gesagt, dass du ihr nicht Hallo sagen willst." Damit knallte er die Tür zu, stapfte um das Auto herum und riss stattdessen die Kofferraumklappe auf. 

Was fragte sein Vater ihn denn so etwas Bescheuertes? Bereits am Beginn der Frage war seine Laune wieder in den Keller gesunken. Hinzu kam, dass sein Vater ihm am Vorabend noch lang und breit erklärt hatte, warum er ihn nur direkt vor Ginas Tür absetzen wollte. 

Er empfand seine Schwester als eine besonders andere Art von Mensch, aber soweit sich Elias an seine Tante erinnern konnte, war sie viel normaler drauf als sein Vater selbst. Aber das hatte er ihm lieber nicht gesagt und es für sich behalten. 

Während Elias also seine kleine Reisetasche aus dem Kofferraum zerrte, beobachtete sein Vater ihn dabei durch den Rückspiegel. „Ich wünsche dir viel Spaß bei Gina.", begann er schließlich. Die Gezwungenheit, mit der er sich bemühte so zu klingen, als würde er es wirklich so meinen, hörte Elias ganz klar aus seiner Stimme heraus. 

„Und übertreib es nicht." Es war das letzte, das sein Vater zu ihm sagte, denn dann schloss er den Kofferraum, hängte sich die Tasche über die Schultern und ging zur Eingangstür, ohne noch einen einzigen Blick zurück zu werfen. 

Gina wohnte in einem Mietshaus, aber sie war die einzige Mieterin. Sie hatte ihm Anfang November einen Brief geschickt, indem sie schrieb, dass es daher kam, dass alle anderen Wohnungen renoviert werden mussten. 

Die Vorstellung, ganz allein in einem so großen Haus – denn dass es gewaltig war, bemerkte er bereits, als er die Tür aufstieß und das Treppenhaus betrat – zu wohnen, war ein bisschen unheimlich. 

Als sich die hölzerne, dunkle Eingangstür langsam hinter Elias schloss, hörte er, wie sein Vater das Auto wieder startete und davon fuhr. Erleichtert darüber atmete er aus, dann sah er sich um. Er befand sich in einem Raum, dessen Wände mit abblätternder Farbe gestrichen waren, die wohl einmal Türkis oder ein ähnlicher Farbton gewesen sein musste. 

Direkt ihm gegenüber führte eine Treppe nach oben und ein weißes Geländer mit geschwungenen Gitterstäben grenzte sie ab. 

Ein Altbau, schossen Elias die Worte aus dem Brief seiner Tante durch den Kopf. Deshalb die Renovierung. 

Zögerlich ging er auf die Treppe zu und stieg schließlich die ausgetretenen Stufen hinauf, wobei er sich immer nah an der Wand hielt. Nur um sicher zu gehen. Er wollte ja schließlich nicht, dass das Geländer plötzlich abbrach und ihn mitriss. 

Gina wohnte gleich im ersten Stock, aber es gab noch zwei weitere, also insgesamt vier, wenn man das Erdgeschoss nun mitzählte. 

Als er am Ende der Treppe angekommen war, pochte sein Herz und er musste mehrmals tief durchatmen, um wieder vernünftig Luft in seine Lunge zu bekommen. Seine Kondition war auch schon einmal besser gewesen. 

Dann machte Elias sich auf die Suche nach Ginas Wohnung. Er zählte die Türen auf der linken Seite von der Treppe an, und blieb vor der fünften stehen. Hier, hatte seine Tante ihm geschrieben, wohne sie. 

Eilig strich er sich noch ein paar seiner schwarzen Haare aus der Stirn, die ihm während des Treppensteigens und Türensuchens immer wieder im Gesicht gehangen hatten. Dann sah er den Klingelknopf an der Wand, über dem auch ein kleines Schild mit dem Namen seiner Tante darauf hing. Wie um sich Mut zu machen, atmete noch einmal tief durch, dann drückte er auf den Knopf. 

Als Elias klingelte, hörte er, wie es hinter der Tür im Inneren der Wohnung schellte. Dann wartete er. Auf Schritte, eine Stimme, klappernde Schlüssel – auf irgendetwas. 

Aber nichts geschah. 

Keiner machte auf. 

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