7
Aufgewühlt wanderte Marco durch die Straßen der Stadt. Dies war der seltsamste Tag seines bisherigen Lebens. Er hatte schon gedacht, es würde sein letzter sein, als sein Fähnlein Mann um Mann vor ihm dahinmetzelt wurde. Dann war Hildegard plötzlich wie eine Rasende über die Feinde hergefallen und hatte das ganze Heer gerettet, davon war er überzeugt. Er hatte geglaubt, man würde sie als Heldin feiern, doch es kam, wie ihm sein Großonkel immer gesagt hatte: Die wahren Helden bleiben unbesungen.
Dann ein weiteres Mal dieses schreckliche Ritual. Er konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas in seinem Heimatort stattfinden könnte. Und wer tat als einzige etwas dagegen? Wieder Hildegard, indem sie sich opferte, wie eine Heldin aus den alten Geschichten.
Und er? Hatte er ihr beigestanden? Nein. Er war nur von ihr beauftragt worden, ihre größten Schätze, ihr siegreiches Schwert und ihr Geld, zu ihrer Großmutter zu bringen. Die Großmutter musste ihre nächste Verwandte sein – vielleicht sogar die einzige? Mit den Schätzen brachte er auch die Nachricht, was ihrer Enkelin widerfahren war, die Bestätigung für die Gerüchte, die sie schon gehört haben mochte. Arme alte Frau, die diese Botschaft empfangen musste. Keine schöne Aufgabe, sie zu überbringen.
Marco straffte die Schultern. Hildegard hatte ihm diese Aufgabe überantwortet, also würde er sie ausführen. Das war er ihr schuldig. Es war das mindeste, was er tun konnte. Er hätte es nicht unbedingt tun müssen. Der Hauptmann selbst hatte angeboten, ihm die Aufgabe abzunehmen. Nun, genau genommen hatte er angeboten, die Aufgabe dem Feldweibel zu übertragen. Aber das hatte Marcos Ehrgefühl nicht zugelassen. Das und der grimmige Blick des Feldweibels.
Nur kurz hatte Marco sich gewundert, warum Hildegard nicht Ranhild gefragt hatte, die ja auch neben ihr gestanden hatte, als Frau und Landgenossin. Dann erst hatte er verstanden, was Ranhild zu ihm sagte, als Hildegard den Platz noch nicht verlassen hatte, und endlich begriffen, dass die beiden sich spinnefeind sein mussten.
Jetzt suchte er seinen Weg in dieser fremden Stadt, wich ihren Bewohnern aus, die eilig ihren Geschäften nachgingen, und Rotten von Kriegsknechten, die auf der Suche nach ihrem Quartier waren, fragte immer wieder nach dem Weg, denn die Beschreibungen der Einheimischen ließen ihn spätestens nach der ersten Abzweigung ratlos dastehen. Endlich kam er bei dem Gebäude an, das das Alte Spital sein musste, ein Heim für Alte und Gebrechliche. Ja, wahrscheinlich hatten Hildegard und ihre Großmutter wirklich keine weiteren Angehörigen, und da Hildegard die Stadt verlassen hatte und sich nicht um sie kümmern konnte, verbrachte die Großmutter hier ihren Lebensabend.
Marco atmete tief durch und klopfte an das Tor in der Hausfront. Eine alte Frau öffnete zögerlich. Sie war sich wahrscheinlich nicht sicher, was ein Kriegsknecht hier wollte; Gutes konnte er doch kaum im Schilde führen? Wirklich Gutes leider tatsächlich nicht.
"Gutene Tag, gute Frrau", grüßte er. "Iste diese das Alte Spitale, unde lebet hierr eine gewisse Lutgarrd?"
Die Frau nickte nur zu seiner Begrüßung und schien Schwierigkeiten zu haben, seine Frage zu beantworten. Oder sie zu verstehen? War sein Akzent immer noch so schlimm?
"Iste hierre Altes Spitale?", versuchte er es noch einmal, sehr deutlich sprechend.
Die Frau nickte langsam.
"Lebet eine Frrau Lutgarrde hierr, eine Lutgarrde mit einerr Enkelin namens Hildegarrde?" Wie hatte Hildegard sich auf der Bühne vorgestellt? "Hildegarrde Krrauterr?"
Das Gesicht der Frau leuchtete auf, sie nickte heftig und bedeutete ihm, einzutreten. Marco nickte seinerseits zum Dank und trat ein. Die Frau führte ihn quer durch das Gebäude, auf einen Hof hinaus, in ein anderes Gebäude hinein, und klopfte an eine Tür. Marco richtete sich auf. Nun kam der gefürchtete Augenblick. Hoffentlich war es nicht allzu schlimm um das alte Mütterlein bestellt.
"Herein!", rief eine Stimme. Eine kräftige Stimme.
Die alte Frau öffnete die Tür und führte Marco hinein. Zu seiner Überraschung fand er sich in einer Kräuterküche wieder. Überall hingen Kräuter oder lagen in verschiedenen Verarbeitungsstufen herum, Kräutergeruch kam aus einem großen, blubbernden Kessel, auf Regalen standen beschriftete Tiegel mit wahrscheinlich noch mehr Kräutern. Lag hier ein Missverständnis vor, weil er den Namen falsch ausgesprochen hatte?
An einem Tisch stand eine Frau, sicherlich nicht mehr jung, aber auch nicht sehr alt, auf jeden Fall in wesentlich besserer Verfassung als die Frau, die Marco hergeführt hatte, und schnitt Kräuter. Die konnte ihm bestimmt weiterhelfen.
"Was gibt es?", fragte die Frau, ohne von der Arbeit aufzusehen.
"Ich suche Lutgarrde, Grroßmutterr von Hildegarrde", sagte Marco. Den Nachnamen ließ er lieber erst einmal weg.
"Das bin ich, wenn wir über dieselbe Hildegard sprechen", sagte die Frau und sah kurz zu ihm auf, bevor sie mit ihrer Arbeit fortfuhr.
Marco starrte sie verblüfft an. Das konnte doch unmöglich die richtige Großmutter sein! Sie war nicht alt genug. Aber sie sah ihr schon etwas ähnlich... "Die Hildegarrde, die mich hate geschickt, iste eine Spießknecht in meine Fähnelein. Ihrre Familienname iste Krrauterr."
Die Frau hielt inne. "Ja", sagte sie, "das ist meine Enkelin. Sie schickt mir eine Nachricht?"
"Ja", sagte Marco. "Oderr nein, nichte wirrkelich eine Nacherricht. Sie bate mich, euche das hierr zu geben." Er hielt ihr das Schwert im Gehenk sowie die Geldbörse hin.
Lutgard starrte die Sachen an, ohne sich zu rühren. "Warum schickt sie mir diese Dinge?"
Marco zögerte. Eigentlich wusste er das nicht genau. Alles war ganz anders, als er sich das vorgestellt hatte. Er konnte der Großmutter nur sagen, was auf dem großen Platz geschehen war. Sie schien doch noch nichts davon gehört zu haben. Wie sollte er es ihr schonend beibringen?
"Junger Mann", sagte Lutgard und sah ihm in die Augen, "auch wenn es um meine Enkelin geht – ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Eine kurze und knappe Erklärung wäre sehr willkommen."
Marco blieb kurz der Mund offenstehen, dann schluckte er hart. "Hildegarrde bate mich, euche das hierr zu geben, weile... weile sie hate sich frreiwillig angeboten dem Kampfemagierr Atgarrion, alse Maide dieserr Stadt, unde... ere... hate sie gewählt." Er stockte.
Lutgard sagte nichts und rührte sich nicht, sah ihn nur weiter an.
Marco schluckte wieder. "Sie... sie hate die Sachen abgelegt, bevorre sie liefe zu die Bühne, unde sie gabe sie mirre, unde sagte, sie seien fürr euche... Und ich... habe euche gesuchte, unde... hierre bin ich." Er verstummte.
Lutgard starrte wortlos weiter. Marco bekam den Eindruck, dass sie ihn gar nicht ansah. Sie starrte durch ihn hindurch, sah Dinge, die ihm verborgen blieben. Er wandte den Blick zu der alten Frau, die ihn hergeführt hatte. Die sah nur mit großen Augen zwischen Lutgard und ihm hin und her.
"Tita", kommandierte Lutgard plötzlich, "hol Ingrid, sie muss hier übernehmen. Beeil dich!"
Tita, offensichtlich die alte Frau, eilte davon.
"Junger Mann, wie lautet dein Name?", fragte Lutgard ihn.
"Marco. Marco Scarpieri, ause..."
"Marco, leg die Sachen auf den Tisch dort hinten. Wenn du eine Belohnung erwartest, komm morgen wieder. Ich habe dringende Dinge zu erledigen. Du findest allein hinaus."
Minuten später stand Marco auf der Straße und verstand die Welt nicht mehr.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top