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Atgarion saß vom Pferd ab, machte zwei große Schritte und erklomm dann die Bühne, jedes Auftreffen seiner Stiefel auf die Stufen ein Trommelschlag. Ohne Umschweife trat er an die erste Maid heran und betrachtete sie von oben bis unten, wie ein Stück feilgebotenes Vieh.

Nun erst überwand sich auch Hildegard, die Maid näher anzusehen. "Trude", entfuhr es ihr. Sie war überrascht. Trude war hübsch, keine Frage. Aber sie war nur die Tochter eines Schneiders. Egal, wie wenig erstrebenswert es war, dort oben zu stehen – Hildegard hätte gewettet, dass die Töchter der vornehmsten Familien trotzdem die vordersten Plätze beanspruchen würden. Trude hätte bestimmt gern getauscht. Ihr Blick war auf den Boden geheftet und sie zitterte sichtlich.

Atgarion ging weiter zur nächsten Maid.

Hildegard erschauerte. Vor dem Krieg hatte sie den Brauch nur aus Heldenliedern gekannt. Da die Freien Städte seit vielen Jahren jegliche Beteiligung an kriegerischen Auseinandersetzungen vermieden, hatte es keine Gelegenheit mehr für siegreiche Helden gegeben. Der Brauch erschien aber auch, als würde er in eine andere Zeit gehören, in der nur Männer kämpften und Frauen vor allem lieblich aussahen.

In den Heldenliedern war der Brauch ein fröhliches Fest, bei dem jede Maid freudig hoffte, erwählt zu werden. In Waldingen, der ersten befreiten Stadt, war es noch so ähnlich gewesen. Kaum eine Maid hatte von klein auf davon geträumt, von einem unheimlichen Kampfmagier erwählt zu werden, aber nüchtern betrachtet konnte das für manche eine gute Möglichkeit sein, sich zu verbessern. Vorausgesetzt, er würde sie zur Frau nehmen. Das war zwar der übliche Fall, aber es gab auch Geschichten, in denen der Held die Maid jemanden anderen heiraten hieß, etwa seinen Sohn oder einen Gefährten.

Da Atgarion sich von jeder befreiten Stadt eine Maid ausbedungen hatte, wollte er sie wohl nicht für sich zur Frau. Für seine Kämpen, wie manche befürchtet hatten, anscheinend auch nicht. Weitere Möglichkeiten wagte niemand laut auszusprechen. Was Hildegard gesehen hatte, sprach aber für die schlimmsten der geflüsterten Gerüchte.

Atgarion kam zu einer Maid, die als eine der wenigen nicht nach unten starrte, sondern über die Menge und die Dächer hinweg in die Ferne. Sie zitterte aber nicht weniger als die anderen.

"Mina!", stieß Hildegard leise hervor. War die nicht zu jung, um bei den Maiden zu stehen?

Atgarion betrachtete sie länger als die anderen. Eisige Kälte umfasste Hildegards Herz.

"Nein!", rief die Maid neben ihr. "Nicht sie!"

Berta, Minas große Schwester. Sie war schon immer die unerschrockene gewesen und hatte versucht, ihre kleine Schwester zu beschützen – ob die das wollte oder nicht.

Atgarion wandte sich ihr zu.

"Nehmt mich, wenn es sein muss", sagte Berta, "aber lasst sie in Ruhe!" Sie hielt Atgarions Blick kurz stand, dann schlug sie die Augen nieder.  Mina ergriff Bertas Hand, drückte sie, schüttelte den Kopf. Sie ließ Berta wieder los und sah Atgarion an. Atgarions Blick taxierte Berta, dann wandte er sich wieder Mina zu. Auch Mina hielt dem Blick nicht stand.

Ungebeten drängten sich Bilder aus Hildegards jüngeren Erinnerungen hoch. Die Holzkiste in Menschengröße, die in Waldingen aus Atgarions Quartier getragen wurde. Die Maid von Wiesingen, die von Barmherzigen Schwestern weggeführt wurde, äußerlich unverletzt, aber ohne Leben in den Augen.

Warum Mina? Warum konnte es nicht eine reiche Tochter sein, die bisher ein sorgenfreies Leben gehabt hatte? Der Vater von Mina und Berta war lange tot, die Mutter hatte die Gerberei allein weiter betrieben und die Töchter mussten mithelfen bei dem stinkenden Gewerbe.

Atgarions Blick wanderte zu Berta, zurück zu Mina, wieder zu Berta. Konnte er sich nicht entscheiden, welche Wahl mehr Unheil anrichten würde?

Dann ging er an beiden vorbei zur nächsten Maid.

Hildegard war verblüfft. Jemand begehrte in aller Öffentlichkeit gegen Atgarion auf, und nichts geschah? War das schon je vorgekommen? Sie wusste es nicht. Seit sie im Heer war, hatte es niemand versucht – auch sie nicht.

Atgarion war erneut länger stehengeblieben.

"Hedwig", murmelte Hildegard. Noch eine, die eigentlich zu jung war.

"Du kennste sie alle, oder?", raunte Marco ihr zu. "Das musse schlimm sein."

"Ja", raunte Hildegard knapp zurück und starrte gebannt weiter auf Hedwig und Atgarion. Das Mädchen sah nicht ihn an, sondern die nächste in der Reihe. Natürlich, ihre Schwester Gertrud. Die beiden stammten aus einer Kaufmannsfamilie, aber ihre Eltern hatten bei unglücklichen Geschäften fast das ganze Vermögen verloren.

Hedwig mochte hoffen, dass ihre Schwester auch für sie das Wort erhob, wie Berta. Gertrud war jedoch nicht aus Bertas Holz geschnitzt. Sie starrte geradeaus auf den Boden. Das einzige Zeichen, dass sie die stumme Bitte ihrer Schwester vernommen hatte, waren die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen. Hedwig gab auf und sah wieder zu Boden.

Atgarion sah von der einen zur anderen, dann ging er weiter.

Hildegard atmete auf. Sie hatte nicht viel mit den beiden zu tun gehabt, aber sie hätte es ungerecht gefunden, wenn es sie getroffen hätte. Es gab Maiden, um die sie weniger traurig gewesen wäre. Suchend ließ sie den Blick über die Bühne schweifen. Auf Anhieb entdeckte sie keine aus den wohlhabenden Familien. Natürlich gab es nicht so viele reiche Familien, und nicht alle hatten eine Tochter im passenden Alter. Manche sorgten auch schon für fast so frühe Heirat wie der Adel, so dass ihre Töchter das Maidentum übersprangen.

Atgarion hatte die erste Reihe abgeschritten und ging die zweite entlang.

Hildegard sah sich die erste Reihe noch einmal gründlicher an. Keine einzige Maid darin war aus angesehener Familie, alles arme oder minder angesehene Handwerker und Krämer. In der zweiten Reihe sah es genauso aus. In der dritten Reihe entdeckte sie die Tochter der Baderin. Hildegard stutzte. Sie hätte nicht gedacht, dass die zu den Maiden gezählt wurde. In der vierten Reihe...

Hildegard blieb das Herz stehen. Die dunklen Haare, das unverkennbare schmale Gesicht... "Irmi!", formten ihre Lippen den Namen, den ihre Stimme nicht auszusprechen wagte. Da stand Irmgard, in einem weißen Kleid und mit Blumenkranz, wie all die anderen. Das war nicht möglich! Niemals konnte Irmi... durfte Irmi...

Der Rat betrog Atgarion! Ihn und die Armen und Ausgestoßenen der Stadt! Sie hatten ihre Töchter und die der anderen angesehenen Familien aus den Maiden herausgenommen und sie mit zu jungen und als "unehrlich" verrufenen aufgefüllt! Hatte nicht sogar Knicker eine Tochter im heiratsfähigen Alter, für die er angeblich wenig erfolgreich einen Bräutigam suchte, der ihm einen geschäftlichen Vorteil mindestens in Höhe der Mitgift verschaffen würde? Hildegard drehte sich um und sah hinüber zu seinem Haus hier am Platz. Hinter einem der feinen Fenster in den oberen Geschossen meinte sie ein Gesicht zu erkennen, das sich plötzlich zurückzog. Feigling!

Hildegard wandte sich wieder der Bühne zu. Sie gönnte es keiner der Maiden, aber Atgarion durfte nicht Irmi wählen. Er konnte nicht! Es war unmöglich. Wenn er es tat, war alles verloren, alles vergebens...

Was konnte Hildegard tun? Hilflos wandte sie sich nach links, zu Marco. Der sah sie mitfühlend an. Bestimmt ein netter Kerl und guter Spießgeselle, der vielleicht mit ihr die Bühne stürmen würde, wenn sie ihn darum bat – was nur ihrer beider Tod bedeuten würde. Sie schielte nach rechts, wo Ranhild ungerührt stand. Die würde keinen Finger rühren für irgendjemanden, der nicht wenigstens aus ihrer Stadt kam, oder vielleicht aus Trolland. Und selbst dann würde sie wahrscheinlich anführen, dass eine wahre Frau, besonders eine Trolländerin, für sich selbst kämpft.

Aber war Hildegard besser? Hatte sie in Waldingen oder Wiesingen irgendetwas für die Maiden getan?

Sie sah wieder zur Bühne. Atgarion war in der Mitte der zweiten Reihe angekommen. Noch waren es viele zwischen Irmgard und ihm.

Dann schritt er plötzlich zwischen zwei Maiden hindurch und betrachtete eine in der dritten Reihe, die vor Schreck fast umfiel. Nach kurzem Augenschein ging er aber weiter zur nächsten – näher zu Irmgard.

Hildegards Mund wurde trocken. Das Unglück wartete ungeduldig darauf, zu geschehen. Sie musste etwas tun, irgendetwas musste ihr einfallen. Aber was? Hier war sie hilflos. Sie war ausgezogen und hatte sich dem Heer angeschlossen, weil sie damit am ehesten etwas bewirken konnte, selbst wenn es ihren Tod bedeuten sollte. Ein Wunder hatte auf dem Schlachtfeld ihr Leben und die Freiheit der Stadt gerettet. Welches Wunder konnte Irmgard retten?

Atgarion hatte erst ein paar Maiden in der dritten Reihe begutachtet, als er noch einmal die Reihe wechselte, zur vierten. Nur noch zwei andere Maiden, dann würde er vor Irmgard stehen.

Da erst fiel es Hildegard auf: Irmgard sah nicht zu Boden oder in die Ferne, sie sah Atgarion an, mit einem furchtlosen, durchdringenden Blick. Warum, oh, warum tat sie das? Trüge sie ihr übliches Kleid, mochte selbst Atgarion vor diesem Blick zurückschrecken. Aber sie trug ein Maidenkleid, und Atgarion hatte keine Ahnung, wer da vor ihm stand. Fast achtlos trat er an einer weiteren Maid vorbei, war beinahe bei Irmgard.  Nur noch Augenblicke, dann würde es Geschehen, ob das Unglück das Wunder. Auf dem Schlachtfeld hatte Hildegard mittendrin gestanden, dort, wo das Wunder gebraucht wurde. Auf dem Platz stand sie unten in der Menge, statt...

"Der traurige Haufen da oben ist alles, was diese Stadt zu bieten hat?", flüsterte Ranhild laut, scheinbar zu niemand bestimmtem.

In Hildegard formte sich ein Gedanke, der nicht gedacht werden wollte, gegen den sich alles in ihr sträubte. Aber es war die einzige Lösung.

Atgarion ließ die nächste Maid stehen und trat an Irmgard heran. Sie sah ihm in die Augen und er sah zurück.

"Halt!", schrie Hildegard. "Das sind nicht alle!"


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