22

Bernhardin bemühte sich, das Gesicht nicht zu verziehen, als Atgarion eintrat.

"Meister Atgarion, gut, dass Ihr da sein", sagt der Graf und blickte von dem Tisch voller Schriftstücke auf, hinter dem er stand.

"Euer Erlaucht", grüßte Atgarion mit einem Minimum an gebotener Höflichkeit.

"Es war leider notwendig, Euch so kurzfristig herzubitten", sagt der Graf. "Als Oberster Feldhauptmann der Freien Städte stehe ich vor einem Problem, das dringend gelöst werden muss, und das Problem betrifft Euch."

Atgarion starrte den Grafen wortlos an.

Der Graf setzte ein höfliches Lächeln auf. "Natürlich sind Eure besonderen Fähigkeiten von unschätzbarem Wert für uns, wie Ihr zuletzt hier, vor den Toren dieser Stadt, bewiesen habt. Eure Verdienste für den Sieg sind unbestreitbar, auch wenn einige der Ritter das gerne versuchen würden."

Über Bernhardins Lippen huschte ganz von selbst ein einstudiertes Schmunzeln als Antwort auf den Scherz des Grafen, auch wenn der ihn gar nicht ansah. Sicher war sicher.

Atgarion verzog keine Miene.

Der Graf nahm das Lächeln wieder aus seinem Gesicht. "Dass Ihr Euch von jeder Stadt eine Maid ausbedungen habt, bringt uns aber in eine zunehmend missliche Lage, die sich in dieser Nacht bedauerlich zugespitzt hat. Die Vereinbarung über den Lohn wurde zwischen Euch und den Städten getroffen, ist also nicht meine Angelegenheit – zumindest, solange das Abkommen seinen Zweck erfüllt, das Heer zu stärken." Der Graf hielt kurz die offene Hand vor sich, um seine Aussage zu unterstreichen.

Bernhardin nickte pflichtschuldig.

Atgarion blieb weiterhin unbewegt.

Der Graf stützte die ausgestreckten Arme auf den Tisch. "Genau das ist aber gerade in Gefahr. Die Vereinbarung führt zu Unruhe. In Waldingen und Wiesingen hielt sich das noch in Grenzen. Hier aber, hier ist es geradezu zu einem Aufruhr gekommen, weniger von Seiten der Städter, dafür um so mehr von unserem eigenen Fußvolk. So etwas kann uns allen leicht zum Verhängnis werden." Der Graf starrte Atgarion in die Augen.

Atgarion starrte zurück.

"Ich hörte", sagte der Graf und wandte sich Bernhardin zu, "dass die erwählte Maid selbst sich mit einer Ansprache an das versammelte Volk gewandt hat und die Wogen vorerst glätten konnte."

Bernhardin nickte eifrig.

Der Graf wandte sich zurück zu Atgarion. "Das ist gut. Überraschend, aber im guten Sinne. Die Frage ist nur: Wie geht es weiter? Wie sieht es morgen aus? Wird die Maid dann weitere Ansprachen halten können, falls erneut Unruhe aufkommt?"

"Wenn es sein muss, Euer Gnaden", sagte Atgarion. "Vielleicht wird es die Leute bereits beruhigen, wenn sie erfahren, dass ich die Maid als Lehrling annehmen werde."

Der Graf hob die Augenbrauen. "Tatsächlich? Ist es das, wofür Ihr Euch die Maiden habt versprechen lassen: einen geeigneten Lehrling unter ihnen zu finden? Ich muss schon sagen, nachdem, was mir über die erwählten Maiden von Waldingen und Wiesingen zugetragen wurde, habt Ihr offenbar ein sehr hartes Auswahlverfahren. Vielleicht sollte ich mir daran ein Beispiel nehmen." Er wandte sich wieder Bernhardin zu und bedachte ihn mit einem prüfenden Blick.

Bernhardin versuchte, den Augenblick mit einem Lächeln zu überspielen. "Das ist ausgezeichnet!", sagte er mit bemühtem Überschwang. "Erlaubt mir, als höchstem Vertreter der magischen Künste hier vor Orte die Patenschaft für den Lehrling zu übernehmen. Wir sollten diesen freudigen Anlass in einer öffentlichen Zeremonie begehen. Das wird den Leuten gefallen und sämtliche Bedenken zerstreuen! Ich schlage den Ort vor, an dem die Maid auch erwählt wurde: den Großen Markt!"

Der Graf sah ihn nachdenklich an. "Einverstanden", sagt er dann. "Ich werde das direkt am Morgen mit dem Bürgermeister besprechen. Ich denke, wir können seine Zustimmung gewiss sein. Wir sollten keine Zeit verlieren; es sollte möglich sein, bis zum Nachmittag alles zu regeln. Ich überlasse die Details Euch, Bernhardin. Sprecht mit allen Beteiligten und sorgt für einen reibungslosen Ablauf." Er wandte sich wieder an den Kampfmagier. "Meister Atgarion, es warten morgen wieder große Aufgaben auf Euch. Ich will Euch nicht länger aufhalten."

Atgarion nickte und ging. Der Graf wandte sich den Schriftstücken zu. Bernhardin tupfte sich mit dem Zipfel seines Ärmels die Stirn ab. Letztendlich war er bei der Sache ganz gut weggekommen, vor allem vor seinem Dienstherrn.

"Habt Ihr dem Wein zur Feier des Tages tüchtig zugesprochen?", fragte der Graf, ohne aufzusehen. "Ihr wart etwas ungestüm. Tragt morgen zur Feier der Zeremonie eine frische Robe."

Bernhardin unterdrückte ein Fluchen.

*

"Wirr sollten... wirrklich nicht das Schlimmste annehmen", sagte Marco. "Lasst Dimis und mich euch nun nach Hause brringen!"

"Lutgard!", sagte Berta.

"Wase?", fragte Marco überrascht und verwirrt.

"Da ist Lutgard!", sagte Berta und zeigte auf eine Gestalt, die aus einer der Gassen auf den Platz trat und zum düsteren Haus eilte. Alle vier sahen zu, wie Lutgard in der Dunkelheit direkt neben dem Haus verschwand. Sie hörten ganz leise ein Klopfen, dann, noch leiser, die Geräusche einer Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde.

"Was will Lutgard beim Henker?", fragte Berta nachdenklich.

"Henkerr?", fragte Marco.

"Ja", sagte Berta. "Das ist das Henkershaus. Wusstest du das nicht? Ist doch naheliegend: Direkt neben dem Turm mit der Folterkammer und dem Gefängnis; da hat er es nicht weit zur Arbeit."

Marco bleib der Mund offen stehen.

"Sie will vielleicht den Geheimgang benutzen", sagte Mina.

"Das ist doch nur eine Legende", sagte Berta.

"Bist du sicher?", sagte Mina. "Man sagt, man sieht den Henker nie vom Turm zum Haus gehen oder vom Haus zum Turm."

"Das ist doch nur Gerede", sagte Berta. Sie schwieg eine Weile. "Andererseits..."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top