18
Hildegards Blick war von Ulfs gefangen, nirgendwo anders hin konnte sie ihn richten. Sie standen sich unbewegt gegenüber, und doch standen sie nicht still. Es war, als würde sich der Boden unter ihren Füßen bewegen, als würden sie fahren, oder... fliegen? Im Augenwinkel nahm Hildegard wahr, dass die Umgebung sich veränderte. Das Flackerlicht der Kammer wich reiner Nachtschwärze, diese dann dunklem Grün und Braun von... Bäumen?
Das Gefühl von Bewegung verschwand. Hildegard konnte ihren Blick immer noch nicht von Ulfs Augen wenden, aber sie hörte Rascheln von Blättern, Rufe von Käuzchen, Trippeln von Pfoten, fühlte einen leichten Luftzug, roch Blüten, spürte... Dinge nicht aus dieser Welt.
"Sind wir in einem Wald?", fragte Hildegard. "Ist dies... der Wilde Wald?"
Ulfs Augen lächelten. "Ja", sagte er. "Und nein. Wir sind da, und wir sind nicht da."
"Ich kann verstehen, dass Atgarion Euch nicht versteht", sagte Hildegard.
"Du verstehst mehr als Atgarion", sagte Ulf. "Vielleicht mehr, als er jemals verstehen wird, wir werden sehen. Deine Worte an die Menge klangen, als würdest du schon einiges ahnen..."
"Das war nur, was mir gerade in den Sinn kam", sagte Hildegard. "Salbungsvolle Worte, die ich von den Priestern aufgeschnappt habe. Wohlklingende Wendungen aus den unzähligen Heldenliedern, die ich gelesen habe."
"Du stellst dein Licht unter den Scheffel", sage Ulf. "Da steckte mehr dahinter. Hast du gesehen, was kommen wird?"
"Was kommen wird? Wie ein Seher aus den Sagen? Nein, das kann ich nicht. Könnt Ihr das?"
"Nein", sagte Ulf. "Das ist wenigen vorbehalten. So wie der, die sieht. Weißt du, wer das ist?"
Hildegard lag das "Nein" auf der Zunge, doch sie zögerte. Eine Antwort drängte sich ihr auf. "Großmutter? Lutgard?"
Wieder lächelten Ulfs Augen. "Ja, Lutgard. Sie hat dafür gesorgt, dass ich gekommen bin."
"Aber..." Hildegard fehlten die Worte. Wirklich ihre Großmutter? Eine Seherin?
"Sie hat gesehen, was droht", sagte Ulf. "Beinahe hätte sie es verpasst, weil es sie schmerzte, hinzuschauen. Glücklicherweise hast du einen Boten geschickt, der sie doch hinsehen ließ."
"Nein!", sagte Hildegard. "Ich habe keinen Boten geschickt, ich habe Marco einfach nur..."
"Es läuft auf dasselbe hinaus", sagte Ulf. "Was immer du dachtest, was deine Absicht war."
"Aber... Aber wie hat sie Euch so schnell holen können?"
"Sie hat Gerbert gebeten, mich zu rufen", sagte Ulf.
"Gerbert? Den alten Gerbert? Aber der ist doch ein Apotheker, kein Zauberer oder sowas!"
"Bist du sicher?"
Nein, Hildegard war sich nicht sicher, über gar nichts mehr. "Haben alle außer mir besondere Fähigkeiten, von denen ich nichts geahnt habe?"
"Nein, zumindest keine magischen. Durch einen unglücklichen Umstand kommt jetzt alles auf einmal auf dich zu. Du wirst noch verstehen. Aber jetzt, ..." Ulfs Augen wurden größer und größer und saugten Hildegard in sich auf, seine Stimme füllte ihren Kopf. "... jetzt musst du erst einmal lernen."
*
"... euch", sagte Hildegard. Sie blinzelte, sah sich um. Vor ihr stand Ulf und lächelte freundlich – und sie waren wieder in der Gewölbekammer, im Turm, als sei nichts Besonderes geschehen. Hildegard blinzelte noch einmal, fühlte ein leichtes Schwindelgefühl, das aber sofort wieder verschwand. War sie kurz in Schlaf gefallen und hatte geträumt? Aber sie lehnte immer noch aufrecht an der Wand!
Atgarion war auch da und schaute Ulf grimmig an. Er wirkte nicht, als hätte er etwas Ungewöhnliches bemerkt, während sie Ulf gedankt hatte.
"Nun, wo das undankbare Volk da draußen seine Gutenachtgeschichte bekommen hat und jetzt brav schlafen geht", knurrte Atgarion Ulf an, "könnt Ihr wieder verschwinden und Euch aus meinen Angelegenheiten heraushalten. Und du", fügte er hinzu und zeigte auf Hildegard, "du hast noch das Schwert, und jetzt sogar ein Kleid dazu. Wir machen da weiter, wo wir aufgehört haben!"
"Meister Atgarion", sagte Ulf, "so nehmt doch Vernunft an!"
"Vernunft? Ich?!", rief Atgarion. "Wer bekommt denn hier kein vernünftiges Wort heraus, kann nur in Rätseln und Andeutungen sprechen?"
"Was macht Euch so wütend?", fragte Ulf.
"Dass ich so kurz davor war, zu erlangen, was ich so lange erstrebe, und es mir wieder versagt wurde!", brüllte Atgarion.
"Seid Ihr sicher?", fragte Ulf. "Seid Ihr sicher, was Ihr sucht? Sucht Ihr ein Ding, oder sucht Ihr mehrere? Kann es nicht sein, dass Ihr ein Ding, dass Ihr sucht, gefunden habt, aber nur auf ein anderes schaut?"
"Hört auf! Ich schwöre, Erzzauberer oder nicht, ich hacke Euch in Stücke, wenn Ihr nicht endlich mit diesen verfluchten Rätseln aufhört!"
"Was erstrebt Ihr?", fragte Hildegard.
"Es ist nicht an dir, das zu fragen!", donnerte Atgarion. "Du würdest es als erste wissen, wenn ich es gefunden hätte!"
"Aber Ihr habt etwas gefunden!", sagte Ulf. "Seid Ihr wirklich zu blind, es zu sehen?"
Ein Wirbel, ein Blitzen und Klingen – und plötzlich waren zwei Schwerter über Ulfs Kopf gekreuzt: Atgarions, aufgehalten von Hildegards. Die Schwerter zitterten in der Luft, von starken, miteinander ringenden Kräften gegeneinander gepresst.
"Ihr seid jetzt der Kampfmagier?", zischte Atgarion Ulf zu.
"Das bin ich nicht", sagte Ulf, scheinbar ungerührt von der Gefahr, in der er schwebte. "Versteht Ihr nun?"
Atgarion brüllte. Beide Kämpfer schritten zur Seite, drehten sich umeinander, schneller und schneller, begannen einen rasenden Tanz, lösten die Klingen und tauschten blitzschnelle Schläge aus. Die Schwünge wurden heftiger und heftiger, trafen, was immer ihnen in der Kammer in den Weg kam. Tönerne Lichter zersprangen in Stücke, hölzerne Foltervorrichtungen zerbarsten in Splitter, eiserne Instrumente flogen durch die Kammer.
Ulf stand mittendrin, bewegungslos, auf wundersame Weise von allem unberührt.
Hildegard fühlte Feuer durch sich strömen, ihr Schwert war federleicht, ihre Bewegungen schneller als Gedanken. Was sie traf, war zerbrechlich wie Glas. Es war wie auf dem Schlachtfeld – nein, stärker! Und es kam nicht von Ulf, oder von Atgarion – es kam aus ihr!
"Genug", sagte Ulf. Ein gleißendes Licht erfüllte die Kammer, blendete Hildegard, ließ jeden Willen zum Kampf in ihr versiegen. Die Augen zu Schlitzen verengt, sah sie auch Atgarion sein Schwert senken.
"Jetzt ein Priester?", fragte Atgarion tonlos.
"Nicht nur Priester des Witu können einen Friedensbann beschwören", sagte Ulf. "Obwohl sie das sicher gerne glauben. Meister Atgarion, ich mache Euch einen Vorschlag. Beantwortet mir eine Frage, und ich werde mich bemühen, auf Eure Fragen Antworten zu finden, die Ihr klarer findet. Was erstrebt Ihr, wofür Ihr Euch die Maiden der Städte erwählt?"
Atgarion rührte sich zunächst nicht. Dann sagte er: "Eine zu finden, in der das Talent eines Kampfmagiers steckt."
"Indem Ihr sie zu Tode oder in den Wahnsinn foltert?", fragte Hildegard. Die Wörter kamen sanfter aus ihrem Mund, als sie es beabsichtigt hatte.
Atgarion antwortete nicht.
"Das ist es, was Itrata mit Euch getan hat, nicht wahr?", fragte Ulf.
Atgarion antwortete wieder nicht.
"Itrata? Die legendäre Kampfmagierin?", fragte Hildegard.
"Ja, die selbige", sagte Ulf. "Atgarion war ihr Lehrling."
"Und sie hat ihn in den... fast zu Tode gefoltert?", fragte Hildegard.
"Wahrscheinlich war sein qualvoller Tod das, was sie eigentlich wollte", sagte Ulf. "Dann entdeckte sie dabei aber ihr eigenes Talent auch in ihm. So ließ sie ihn leben und lehrte ihn ihre Kunst. Erst kämpfte er in ihrem Gefolge, dann allein. Was genau zwischen den beiden vor sich gegangen ist, kann ich nur raten."
"Und Ihr wolltet nun auf die gleiche Weise eine Maid finden, sie so lange foltern, bis sich ihr Talent zeigt – oder sie zerbricht?", fragte Hildegard Atgarion. Sie hätte es ihm ins Gesicht geschrien, aber der Bann erlaubte es nicht.
Atgarion starrte sie nur an.
"Atgarion", sagte Ulf, "ich frage dich zum zweiten Mal und erwarte eine andere Antwort: Was erstrebt Ihr, wofür Ihr Euch die Maiden der Städte erwählt?"
Atgarions Blick blieb auf Hildegard gerichtet, sein Mund zuckte. Endlich sagte er ein Wort: "Rache."
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