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Hildegard starrte über die Schultern ihrer Vordermänner auf das feindliche Heer. Feiner Nieselregen wehte ihr in die Augen. Durch den nassen Schleier sah es aus, als stünde auf der anderen Seite der verwüsteten Felder ein Monster mit unzähligen Stacheln und großen Schuppen. Tatsächlich war es nur eine lange Reihe Kriegsknechte mit Spießen und Schilden, wie das Heer der Freien Städte auch. Die beiden Haufen standen einander gegenüber und belauerten sich, warteten auf den ersten Schritt des anderen.
Die Nässe kroch unter Hildegards Panzerwams und in ihre Stiefel. Alles roch nach Feuchtigkeit, Kleidung, Menschen, das verstreute Stroh auf dem geplünderten Feld. Es herrschte eine unruhige Stille. Alle schwiegen, aber hier hustete jemand, dort klapperte ein Schild, weiter hinten schnaubte ein Pferd. Die wenigen Ritter des Heeres hielten sich links der Spießknechte bereit, einem eventuellen Flankenangriff ihrer Standesgenossen von der anderen Seite zu begegnen. Zum Glück war damit kaum zu rechnen. Der Herzog hatte es offenbar nicht für nötig befunden, viele Ritter zu dieser Belagerung zu schicken.
Hildegards Blick wanderte nach rechts, zu dem grauen, teilweise schwarzen Gebilde, das sich kaum von den Wolken dahinter abhob. Ihre Heimatstadt.
Zwei der Freien Städte hatten sie schon aus der Belagerung befreit. Dort hatten die Leute des Herzogs sich einfach vor alle Tore gelegt und niemanden hinein- oder herausgelassen, um die Städte auszuhungern, während sie sich selbst am Umland gütlich taten. Als das Heer zum Entsatz heraneilte, hatten sie nur kurz Widerstand geleistet und waren dann schnell abgezogen.
Hier war die Lage anders. Die Verteidigungsanlagen der Stadt hatten eine große Schwachstelle: die Gärten außerhalb des Mauerrings. Früher war dort ein Sumpf gewesen, deshalb hatte an der Seite eine einfache Mauer ohne Graben und Türme gereicht. Als Hildegard noch klein war, war der Sumpf trockengelegt worden. Während der Stadtbaumeister Mauerverstärkungen, Türme, Wälle und Gräben geplant hatte, hatten die Bürger bereits Gärten angelegt. Der Streit zwischen Stadtbaumeister und Stadthauptmann einerseits und den Gartenbesitzern andererseits war immer noch im Gange, als der Herzog seinen Anspruch auf die Hoheit über die Freien Städte verkündet hatte.
Jetzt hatten beide Seiten verloren. Die Gärten waren vernichtet, überbaut mit den Schanzwerken der Belagerer. Aus ihnen ragten drohend Wurfmaschinen und Belagerungstürme auf. Die Wurfmaschinen hatten ihre Arbeit schon begonnen, wie frische Wunden in der Mauer und verbrannte Dächer dahinter zeigten. Die Belagerungstürme hatten nur allzu guten Zugang zur Mauer. Lange hätte die Stadt nicht mehr standgehalten.
Hildegard fasste den Schaft ihres Spießes fester. Darum war sie heute hier, im Heer, und nicht hinter den Mauern ihrer Stadt. Oft genug hatte sie den Stadthauptmann bei den Übungsstunden der Bürgerwache schimpfen hören, neben mangelnden Fechtkünsten würden die Gärten eines Tages den Untergang der Stadt bedeuten. Sie hatte geübt, bis der Hauptmann an ihren Fechtkünsten nichts mehr auszusetzen hatte. Dann war sie ausgezogen, um sich dem Heer anzuschließen. Der Hauptmann war der einzige gewesen, der das gut gefunden hatte.
Nun stellte sich die Frage, ob das Heer der Freien Städte die Belagerer auch hier vertreiben konnte. Für die Erstürmung einer Stadt braucht man mehr Leute als zum Aushungern, daher standen sie diesmal einem größeren Heer gegenüber. Die Fronten der beiden Haufen waren gleich breit, aber der Haufen der Belagerer war tiefer gestaffelt. Hildegards Fähnlein von vierhundert Spießknechten stand auf dem linken Flügel statt der üblichen acht nur vier Glieder tief. Zwei Mann standen vor Hildegard, einer hinter ihr, das war's. Ihre Aufgabe war es nur, die Linie zu halten und so die Mitte vor einem Flankenangriff zu schützen.
Hildegards Blick wanderte zur Mitte, wo der entscheidende Kampf stattfinden sollte. Hier stand ganz vorn Atgarion, der Kampfmagier, mit seinen Kämpen. Auf ihm ruhte die Hoffnung, gegen die Übermacht bestehen zu können. Ein Hüne von einem Mann, wäre er schon als normaler Krieger eine ehrfurchtgebietende Gestalt gewesen. In der einen Hand hielt er ein Schwert, in der anderen eine Streitaxt, die er beide mit übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit führte. Statt eines Schildes trug er eine überschwere Rüstung. Sollte etwas diese durchdringen, so hieß es, konnte er die Wunde mit seinen Zauberkräften sofort schließen. Damit war er so gut wie unbesiegbar und allein ein Fähnlein wert. Sein Dutzend Kämpen waren von ihm ausgesuchte altgediente Krieger, die alle besser kämpfen konnten, als einem Sterblichen möglich sein sollte. Man munkelte, dass sie in Atgarions Nähe an seinen Kräften teilhaben konnten und damit noch ein weiteres Fähnlein aufwiegen konnten.
Hildegard scharrte unwillig mit dem Fuß. Sie war nicht ganz davon überzeugt, dass Atgarion wirklich so gut war. Bisher hatten sich die Truppen des Herzogs immer nur kurz an ihn herangetastet, um dann doch lieber den Rückzug anzutreten. Hier aber würde sich zeigen, ob er wirklich den unglaublichen Preis wert war, den er für seine Dienste verlangt hatte.
Hartmann, Hildegards Vordermann, drehte sich zu ihr um. "Ungeduldig?", fragte er.
Hildegard schüttelte nur den Kopf.
"Solltest du auch nicht sein", sagte Hartmann. "Du stirbst früh genug."
"Eine richtige Kriegerin fürchtet den Tod nicht!", ließ Ranhild sich von rechts vernehmen.
Hildegard spähte nur im Augenwinkel zu ihr. Warum musste ausgerechnet die neben ihr stehen? Natürlich hatte sie wieder die Heldenpose angenommen, die sie angeblich von ihrer trolländischen Mutter gelernt hatte.
"Dann ist eine richtige Kriegerin wohl eine tote", meinte Hartmann leichthin.
Ranhild wandte stolz den Blick ab und antwortet nicht.
Ein leichtes Lächeln zupfte an Hildegards Mundwinkeln. Wenigstens mal ein Mann, der sich nicht von Ranhild beeindrucken ließ. Obwohl sie aus Manningen, einer der Freien Städte, stammte, war sie groß und schön, wie es in den Liedern von den trolländischen Frauen hieß, das musste man ihr lassen. Nur die Haarfarbe passte nicht: angeblich waren alle Trolländer blond. Für rote Haare waren eigentlich die Leute von den Inseln bekannt. Oder, nach Meinung dummer Kinder, böse Hexen. Ranhild war die erste Rothaarige, bei der Hildegard das Gefühl hatte, da könnte etwas dran sein. Hatte Ranhild doch gleich bei ihrer ersten Begegnung gemeint, das Blond von Hildegards Haaren sei an ihr gewöhnliches Aussehen völlig verschwendet.
"Ehrrenhaft ist es, im Kampfe zu sterrben, ehrrenhafter ist es, den Siege zu errleben", zitierte hinter Hildegard eifrig Marco, der Südländer mit seinem rollenden R.
"Weise Worte, mein Junge", sagte Hartmann. "Halt dich dran, denn wenn der Tod zu dir da hinten kommt, dann wird es für uns keinen Sieg geben."
"Verrestanden!", sagte Marco.
Wieder zuckten Hildegards Mundwinkel. Der Junge war schon irgendwie süß, aber viel zu hibbelig. Hildegard spähte im linken Augenwinkel zu Baldo. Der stand wie immer still und ungerührt da, so wie er Hildegard für sich eingenommen hatte. Allerdings waren seine Augen eindeutig auf Ranhild gerichtet und enthielten keine Spur von Spott. Jeder Anflug eines Lächelns verschwand aus Hildegards Gesicht. Nur eine der kleinen Niederlagen, die sie selbst bei diesem Feldzug erlitten hatte. Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn. Dort fand der Krieg statt, den sie gewinnen musste.
Ein Horn ertönte von der anderen Seite der Felder, Rufe folgten.
Der Feind griff an.
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