Prolog

April

Habt ihr euch je gefragt, was passiert, wenn man zu wenig Geld hat, um im Restaurant zu bezahlen, aber das Essen schon verspeist hat? Muss man sich in die Küche stellen und solange abwaschen, bis die Rechnung beglichen ist? Muss man den Boden wischen, Kunden betreuen oder vielleicht seine beste Freundin als Bürgschaft aussetzen?

Tja, ich kann es euch sagen. Leider.

Der Kellner sah mich erbarmungslos an, als mir meine Bankomatkarte anzeigte, dass ich zu wenig Geld auf dem Konto hatte, um zu bezahlen — denn das Geburtstagsessen zu Ehren des 24. Geburtstages meiner besten Freundin Delia kostete weitaus mehr als die elf Euro und siebenunddreißig Cent auf meinem Konto. Wo die Kamera fünf Pfund zum Gewicht addierte, so wünschte ich mir, sie würde auch fünf Euro zu meinem Kontostand addieren.

In diesem Moment verfluchte ich mich dafür, dass ich gestern allen Ernstes einkaufen gegangen war. Ein Loch im Magen, im Geiste eine Kriegerin, so war ich losgezogen, bereit, mich um die letzten Salatköpfe und Haferflocken zu streiten.

Der Kellner, dem die Liebe zu seinem Job offenkundig ins Gesicht geschrieben stand, klopfte abwartend mit den Fingernägeln auf das glatte Mahagoniholz.

Delia und ich kannten uns ewig — wenn es nach ihr ginge, hätte ihr ein doppelter Cheeseburger völlig gereicht, um mit Fettfingern und erhöhtem Herzinfarktrisiko ein weiteres überlebtes Jahr auf dem Planeten zu zelebrieren und sich im Katalog bereits nach einem Gemeinschaftsgrab umzusehen.

»Wird das heute noch was?«, fragte der Kellner mürrisch. Er hielt mir genervt den Scanner hin, damit ich endlich bezahlte, als hätte ich nicht kapiert, wie das Ding funktionierte. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gesagt: Am Akustischen liegt's nicht, doch vor meinem geistigen Auge sah ich mich bereits den Küchenboden schrubben, um mir mein Essen zu verdienen, weshalb ich mir lieber meine Antwort verkniff.

Wie es mir immer gelang, mich selbst in solch peinliche Lagen zu manövrieren, war mir selbst ein Rätsel. Doch die Antwort auf die Frage nach der Bezahlung war nicht sonderlich aufregend oder spektakulär. Beinahe schon langweilig.

Immerhin gab es eine Antwort, die da lautete: Die Person, mit der man unterwegs war, musste den Preis begleichen. Schließlich war nichts im Leben gratis, selbst der Tod kostete das Leben.

»Äh ... Ja, äh«, stammelte ich verlegen. Delia strich sich ihr seidiges, lockiges Haar aus der Stirn und bedachte mich mit einem schrägen Seitenblick.

»Was ist denn los, Hannah?«, wisperte sie verwirrt. »Hast du ... hast du deinen Code vergessen?«

Gut, man konnte mir wirklich viel anmaßen — aber den Code meiner Bankomatkarte vergessen? Das würde ich im Leben nicht!

Wieso hatte ich auch einen so hippen Laden rausgesucht?

In Situationen wie diesen musste leider meistens meine Unterlippe dran glauben, auf der ich auch jetzt nervös kaute. Schließlich beugte ich mich zu Delia und flüsterte leise: »Ich hab zu wenig Geld auf dem Konto ...«

Delia sah mich verständnislos an. »Was? Ich habe kein Wort verstanden. Sprich doch normal, Hannah.«

Ich rollte die Augen — die Hitze stieg mir unübersehbar in die Wangen. Das Musikgesäusel im Hintergrund wurde mir unangenehm, das Klirren der Teller und die Gespräche der anderen Gäste zu laut. Die ganze Situation war einfach nur zum Schämen — ich hatte selbst Mitleid mit mir, und das war eine ganz neue Etage der Retrospektive des eigenen Lebens. Gewappnet mit diesen neuen Emotionen sollte ich am besten schleunigst nach Hause gehen und meine Autobiographie mit dem Titel »Sie war stets bemüht« anfangen, um wenigstens irgendwas Sinnvolles mit meiner Zeit anzufangen.

»Ich hab' zu wenig Geld am Konto!«, zischte ich durch mein geschlossenes Zahngehege, doch Delia kapierte es immer noch nicht. Himmel, nächstes Jahr würde ich mein Geld sinnvoller investieren und ihr statt eines überteuerten Restaurantbesuchs ein Hörgerät schenken.

»Was?«

»Ich habe zu wenig Geld auf dem Konto!«, rief ich schließlich.

Laut.

Leider etwas zu laut, wie ich eine Sekunde darauf feststellte. Das ältere Pärchen neben uns hatte aufgehört zu essen. Der Mann murmelte etwas von »geldgeile Jugend«, die Frau hingegen ließ sich über meine mangelnde Artikulationsfähigkeit aus. Was sollte ich denn sonst sagen? Mein Konto ist genauso mager wie das Hühnerfilet, das Sie gerade verspeisen?

Vermutlich glaubten diese Menschen, das Irrenhaus hätte Wandertag. Der Kellner allerdings räusperte sich, denn auch er hatte mitbekommen, was ich gesagt hatte. Ich legte den Kopf auf die Tischplatte. Mittlerweile waren meine Wangen wahrscheinlich alle Schattierungen von kirschrot bis karminrot durchgegangen, als hätte ich ein Bob-Ross-Tutorial mit Rouge ausprobiert.

»Oh!«, machte Delia. Ihr Gesicht hellte sich auf, als wäre ihr ein Licht aufgegangen. »Ach soooo.«

»Ich habe noch andere Gäste zu bedienen, wenn Sie also endlich einmal weiter machen würden und zahlen!«, steuerte der Kellner grimmig bei. Ihn schien unser Kabarett nicht wirklich zu amüsieren. Ich rollte die Augen — er hatte noch andere Gäste zu bedienen und ich hatte kein Geld, um zu bezahlen.

»Warte, dann zahl' ich einfach schnell«, sagte Delia mit einem Schulterzucken. Sie schnippte ihr Portemonnaie hervor, aus dem sie einen Fünfziger nahm. Ich runzelte die Stirn.

»Aber ... Das sollte doch dein Geburtstagsessen werden!«, seufzte ich kläglich.

Der Kellner tippte etwas in sein Bezahlungsgerät ein, woraufhin eine Rechnung aus dem Schlitz geschossen kam. Diese pfefferte er Delia unfreundlich vor die Nase.

»Schönen Abend«, zischte der Mann schlecht gelaunt und zog ab. Ich hätte schwören können, dass aus seinen Ohren Rauch dampfte.

»Oh Mann«, stöhnte ich gedemütigt und stützte den Kopf auf die Hände. »Ich ... ich wollte dich doch einladen! Wie konnte ich das nur vergessen? Zu wenig Geld auf dem Konto — hallo? Gehts noch peinlicher?« Ich schüttelte den Kopf über meinen eigenen Fauxpas.

Mitleidig lächelte mich Delia an. »Ach Schätzchen! Das macht doch gar nichts. Nächstes Mal ... nächstes Mal zahlst dann einfach du. Mach dir keine Sorgen.« Dann wechselte sie galant das Thema. »Wie läuft es eigentlich mit deinem Job? Arbeitest du noch immer als Eisverkäuferin?«

Aus ihrem Mund klang das irgendwie lächerlich.

Bereits früh hatte ich das Prinzip, nach dem es sich zu leben lohnte, herausgefunden: Geld stank nicht. Wo das Geld herkam, war piepegal, Hauptsache, man hatte es.

Was bei dir ja offensichtlich nicht der Fall ist, murmelte ich im Geiste zu mir selbst.

»Schlecht. Der Job hat sich erübrigt.«

Ich seufzte. Meine Chefin hatte ich sowieso nie gemocht, und als mir der Kragen bei einem Kindergeburtstag in der Eisdiele geplatzt ist, war's das dann auch mit ihrer Geduld und Barmherzigkeit.

Und nun? Nun konnte ich es mir nicht einmal mehr leisten, für meine beste Freundin eine Pizza zum Geburtstag zu bezahlen.

»Hm. Soll ich mal Michi fragen, ob er einen Job für dich hätte?«, fragte Delia nachdenklich. Sie sah ein bisschen bestürzt aus, wobei es nicht einmal das erste Mal war, dass ich so nahe am Abgrund der Pleite war. Bloß, dass ich dieses Mal wirklich mit Abstand am gefährdetsten war. Unter die magische Grenze von zwanzig Kröten hatte nicht einmal ich mich bislang getraut.

Michi war Delias Freund, und das schon seit einer Ewigkeit. Mit siebzehn waren sie zusammengekommen. Eigentlich hatte niemand geglaubt, dass die Beziehung lange halten würde. Wahrscheinlich nicht einmal sie selbst — aber mittlerweile wohnten die beiden zusammen in einer schicken Apartmentwohnung im neunten Bezirk und teilten ihr Leben. Außerdem hatte Michi das Glück, dass sein Vater eine gut funktionierende Firma besaß, weshalb er jobtechnisch ganz schön viel einrichten konnte.

Ich nickte. »Danke. Das wäre super lieb, wirklich. Ich weiß echt nicht mehr, was ich machen soll. Wenn das so weiter geht, kann ich meine sieben Sachen demnächst packen — wenn ich überhaupt so viele habe — und die Wohnung räumen, weil ich die Miete nicht mehr zahlen kann ...«

»So weit wird es nicht kommen!«, rief Delia fest entschlossen und stand auf. »Du weißt, dass du immer ein Zimmer bei uns hast, ja? Du bist jung, du bist emanzipiert und du wirst einen Job finden! Es wird sich alles wieder normalisieren, das wirst du schon sehen!«

»Leichter gesagt, als getan«, maulte ich und stand matt auf. Genau wie Delia warf ich mir Schal und Jeansjacke über, ehe ich ihr aus dem Lokal folgte.

»Abgesehen davon war dieser Italiener sowieso völlig überteuert, geschmacklich nicht gerade der berauschende Wahnsinn und das Personal war unfreundlich«, zog Delia über das Lokal her, um mir meinen Unmut zu nehmen. Sie warf einen Blick über die Schulter, zurück zum Schild des Restaurants. »Und überhaupt der Name. GioVanni's. Wie einfallsreich für einen Italiener. Von denen gibt es sicher so viele wie Sand am Meer und wenn nur halb so viele einen so unfreundlichen Kellner eingestellt haben, wie der hier, dann steht der Laden sowieso bald vor dem Konkurs.«

Ich kicherte leise.

Delia japste allerdings so überraschend auf, dass ich zusammenzuckte.

»Aber weißt du was?«, rief sie erfreut.

»Nein. Was?«

»Ich habe eine Idee!«

»Schön. Ich auch.«

»Nein, ich meine, ich habe wirklich eine Idee!« Delia sprang voller Tatendrang auf und ab. »Erst letztens habe ich wieder gelesen, dass immer mehr Leute im Internet und auf Apps kleine Jobs vergeben. Alles Mögliche! Von Callgirl bis Putzkraft, Nachhilfe bis Gärtner, da wird alles gesucht! Und du bist ja immer die, die betont: Geld ist Geld!« Sie imitierte meine Stimme, was mich zum Lachen brachte.

Delia hängte sich grinsend bei mir ein, woraufhin wir zusammen zur Ampel schlenderten. Der Sommer war zwar schon im Kommen, aber die Abende waren nach wie vor zum Frösteln. Der Asphalt jedoch strahlte die Wärme, die er tagsüber aufgenommen hatte, nun ab. Ich betrachtete einen Hund, der gegen einen Reifen pinkelte, während der Besitzer Pfeife rauchte. Hm, eine schöne Darstellung dieser Stadt. Wien.

»Ich werde garantiert nicht strippen! Und Pornos dreh' ich auch keine! Nur, dass das klar ist!«, stellte ich nüchtern fest, woraufhin Delia kicherte.

»Das meinte ich doch gar nicht! Wobei, ich habe gehört, das ist ein ganz schön lukratives Geschäft!«

Ich stieß sie in die Seite, woraufhin sie noch mehr lachte. Schließlich wurde sie aber wieder ernst. »Also. Ich habe gestern zum Beispiel gesehen, dass jemand auf Ebay nach einer Putzkraft gesucht hat. Das kannst du doch auch mal machen, so eine Annonce aufgeben. Da meldet sich bestimmt jemand!«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich putz' ja nichtmal meinen eigenen Saustall! Das ist dann sicher nur irgend so ein Perverser, der mir zusehen will, wie ich in einem Britney-Spears-Schul-Outfit putze und dabei komische Fantasien hat. — Nein, danke, Deli«, murmelte ich grimmig, aber sehr überzeugend, wie ich fand. Sie lachte. Schön, dass wenigstens sie von meiner finanziellen Not so amüsiert war. Aber andererseits war ich ihr das Essen schuldig, weshalb ich ihr Gelächter über mich ergehen ließ.

»Jetzt mal im Ernst. An deiner Stelle würde ich mir das echt überlegen, es hat schließlich noch keinem geschadet, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Du kannst es über eine anonyme App machen, da gibts doch bestimmt was.« Delia sah mich aufmunternd an.

»Du meinst sowas wie Xoodle

»Ja! Genau! Dieses Xoo–, na, egal, wie es heißt, auf jeden Fall, das wär doch was!« Delias Ekstase löste nicht wirklich etwas in mir aus. Jedenfalls nichts Positives.

»Da treiben sich doch nur notgeile Spinner rum, die ihren Klogang kommentieren und sich über die Schamhaarfrisuren ihrer Partnerin auslassen!« Ich schüttelte angeekelt den Kopf. Irgendwie machte es mich schon traurig, dass solche Menschen in festen Händen waren, aber ich, die ich doch ein Prachtexemplar von unfähiger Studentin mit morbidem Humor und Kitsch-Teenie-Filmvorliebe war, single blieb.

»Aber das ist doch perfekt!«, quiekte Delia begeistert.

»In welchem Universum ist das perfekt?«, fragte ich argwöhnisch. »Ich werde sicher nicht zu einem dieser Typen gehen und ihnen den Popo auswischen, nur, um ein paar Kröten zu verdienen. Lieber übernachte ich im Augarten, da ist der Ausblick auf die Sterne sowieso schöner!«

Delia verdrehte die Augen. »Papperlapapp. Du kannst doch eine ganz normale Anzeige aufgeben, nicht alles ist gleich sexualisiert! Irgendwas nach dem Motto ...« Sie überlegte kurz, ehe sie fortfuhr: »Bin für alles offen, brauche dringend Geld. Meldungen bei Jobangeboten

Ich tippte mir an den Kopf. »Genau. Noch mehr Porno geht ja kaum!«

»Denk darüber nach!«

Ich schüttelte jedoch den Kopf. Ich würde ganz bestimmt keine Anzeige auf irgend so einer Internetplattform aufgeben, die mir sowieso alle völlig suspekt waren. Einmal hatte ich mir eine Datingapp für einen Tag heruntergeladen, die versprach, dass man innerhalb von 24 Stunden seinen Traumpartner kennenlerne.

Ja, und zwei Jahre später war ich immer noch alleine.

Bei der Ampel angekommen, löste sich Delia von mir. Hier würden sich unsere Wege trennen, denn während sie in einem schönen Apartment mit ihrem Freund Michi im neunten Bezirk wohnte, wohnte ich in einem Gemeindebau im zweiten Bezirk. Ich hatte noch ein ganzes Stück mit der Straßenbahn vor mir.

»Fragst du Michi trotzdem?«, fragte ich schließlich ernst. Einen Job über konventionelle Wege zu bekommen, war mir immer noch sympathischer, als irgendeinem Kerlchen aus dem Internet zu vertrauen.

»Klar.« Delia nickte und lächelte, ehe sich mich fest in den Arm schloss. »Schreib mir, wenn du daheim bist, ja? Und ... falls du es dir doch noch einmal mit der Online-Anzeige überlegst, was ich doch sehr hoffe, schick mir ein Best-of mit den Antworten.« Sie kicherte und ließ mich wieder los.

Ich grummelte ein wenig widerwillig, grinste dann aber doch auch. »Mach ich«, rief ich ihr noch nach, obwohl ich genau wusste, dass ich es mir nicht noch einmal überlegen würde. Ich würde garantiert keine Anzeige auf Xoodle schalten, da konnte ich mir doch gleich die Kugel geben. Solange es nicht sowas wie eine Internetpolizei gab, sollte man da lieber aufpassen, worauf man sich einließ, und so naiv, wie ich meistens leider war, sollte ich mich gar nicht erst in die Gefahr eines Betrugs wagen.

Als ich endlich zuhause ankam, war ich hundemüde. Die Müdigkeit war so übermannend, dass ich kaum die Stufen zu meiner Wohnung hinaufsteigen konnte. Es war bereits nach halb zwölf, doch während für andere Menschen jetzt die Nacht erst so richtig los ging, war es für mich schon zwei Stunden nach meiner normalen Schlafenszeit. Die Straßenbahn hatte zudem eine Störung gehabt, weshalb ich den ganzen Weg zu Fuß gehen musste. Eine gottverdammte Dreiviertelstunde Fußmarsch mit existenzkritischen Gedanken im Hinterkopf war wirklich nicht das, was ich unter einem Verdauungsspaziergang verstand.

Ich schlüpfte aus den Schuhen, hängte die ausgebeulte Second-Hand-Jacke an den Türhaken und schloss hinter mir ab. Vor mir lag eine stille, triste Wohnung. Es fiel mir immer noch auf, obwohl ich schon seit einer Ewigkeit alleine wohnte.

Zuerst hatten hier noch zwei andere WG-Mitglieder gewohnt, schließlich hatte sich das betreute Wohnen aber aufgelöst und ich finanzierte mir die Wohnung mit Studienbeihilfen, Kindergeld und meinem mickrigen Lohn aus dem Eissalon selbst.

Finanzierte.

Vergangenheit, denn auf letzteres konnte ich ja jetzt nicht mehr zählen.

Die Einrichtung war auch ganz nett. Wild zusammengewürfelte Second-Hand-Stücke, die Unikate waren und meinem verrückt-bunten Stil entsprachen. Mittlerweile jedoch gaben einige Sideboards nach, sodass es schon mal vorkam, dass es Erbsen und Bohnen regnete. Manchmal auch Scherben, weshalb ich nicht mehr an das Sprichwort »Scherben bringen Glück« glaubte. Sie hatten mir kein Glück gebracht.

Die Bodendielen knarrten und das Bücherregal im Wohnzimmer war so windschief, dass man glauben könnte, es würde jeden Moment zusammenstürzen. Aber trotzdem hing ich an der Wohnung. Seitdem ich dreizehn war, wohnte ich schließlich hier.

Ich schlüpfte in meine Patschen und machte mich auf den Weg in die Küche, um mir einen Tee zuzubereiten. Bevor ich heute Nacht nicht alle möglichen Foren und Websites nach Jobangeboten durchforstet hätte, würde ich garantiert kein Auge zubekommen. Anstatt reglos und heulend im Bett zu verweilen, konnte ich genauso gut meine Zeit nutzen und alle Anzeigen ansehen. 

Eine Stunde später stellte sich jedoch heraus, dass scheinbar niemand, wirklich niemand, in meiner Nähe derzeit in der dringenden Not einer Hilfskraft war, deren Ansprüchen ich gerecht wurde. Mein beinahe abgeschlossenes Bachelorstudium der Betriebswirtschaftslehre half mir da leider auch nur mäßig weiter. Für die einen war das zu qualifiziert, für die anderen zu unterqualifiziert.

Instinktiv holte ich mein Handy hervor und öffnete Xoodle, um ein wenig durch die Nachrichten zu scrollen.

Eigentlich war es ja eine tolle App.

Man konnte anonym posten, was einem gerade so durch den Kopf ging und andere kommentierten das. Man fand Leidensgenossen, Freunde, konnte lesen, ob im Brick's gerade was los war oder ob alle am Kårli chillten, allen voran die Chemiker, deren Labore de facto um die Ecke waren, die die besten Partys in Wien schmissen und deren Studienabbruchquote wahrscheinlich so hoch war, wie meine monatliche Miete.

Nur leider war das Konzept wohl etwas nach hinten losgegangen, denn in der Folge waren die Nachrichtenboards immer voll mit den Gedanken irgendwelcher unguter Typen (und Frauen), die sich über Sexstellungen à la Kamasutra, die freiheitliche Partei und die Profs an ihren Unis ausließen. Selten gab es auch sinnvolle Nachrichten, wie beispielsweise der Hinweis, wo gerade die Fahrscheine kontrolliert wurden und bei welchen Partys gerade die Polizei nach illegalen Rauschmitteln durchsuchte.

Tatsächlich gab es, wie ich nach wenigen Minuten der Recherche feststellte, sogar einen eigenen Ordner für Anzeigen aller Art. Ich seufzte und hielt inne — sah Delias amüsiertes Antlitz vor meinem inneren Auge.

Sollte ich das wirklich wagen?

Auf der einen Seite brauchte ich das Geld wirklich. Mein Kühlschrank war leer, genau, wie mein Magen. Wovon sollte man leben, hm? Luft und Liebe waren ja nett, aber auf Dauer ließ es sich davon nicht über die Runden kommen.

Aber auf der anderen Seite ... War das nicht komisch, im Internet eine Annonce aufzugeben? Irgendein krummes Geschäft frei von den Steuern abzuschließen?

Der einzige Trost, den ich hatte, war die Tatsache, dass das Ganze sowieso anonym lief. Zur Not konnte ich mein Anliegen außerdem löschen. Es wäre, als hätte es nie existiert. Und deswegen nippte ich an meinem Tee, wünschte mir, ich hätte den Kochwein gestern nicht ausgetrunken, und begann, in die Tasten zu hauen.

Du um 0:43: Leute, ich brauch dringend (!!!) einen Job. Kann mir da wer helfen? Ich bin für fast alles bereit!!! W., 23., BWL-BSc! Es ist bloß eine Frage des Preises! Haut raus, ich nehme Bezahlung nur in Form von Geld entgegen!!! Ach ja, und: ICH DREHE KEINE PORNOS!!!

Mit zittrigen Händen legte ich mein Handy beiseite. Ich war viel zu aufgeregt, um jetzt einfach ins Bett zu gehen. Ich brannte geradezu darauf, Antworten zu bekommen. Ob es wohl zu etwas führen würde? Würde sich tatsächlich jemand finden, der mich um einen Job bat?

In diesem Moment fiepte mein Handy. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und öffnete die erste Nachricht.

@1: Is des a b'soffene G'schicht oder manst des ernst?

Die Enttäuschung breitete sich so rasant in meinen Knochen aus, dass ich mich setzen musste, um nicht zu taumeln. Aber es brachte nichts.

Hatte ich wirklich geglaubt, dass ich so einen Job finden würde? Über Xoodle? Konnten mich elf Euro und siebenunddreißig Cent alias mein mickriger Kontostand wirklich so weit zur Verzweiflung treiben?

Ich war bereits in der Versuchung, den Post zu löschen, hielt aber dann inne. Eine letzte Chance konnte ich dem Projekt noch geben. Vielleicht sollte ich einfach eine Nacht drüber schlafen und morgen nochmal nachschauen, löschen konnte ich die Anzeige dann ja immer noch. Das merkwürdige Gefühl in meinem Magen wurde immer präsenter.

Vielleicht, ja, ganz vielleicht, würde sich ja noch etwas ergeben.


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B e g i n n:

1. APRIL 2020

E n d e:
19. JULI 2020


HANNAHS PLAYLIST FÜR FIESE TAGE


Wiener — Kreiml & Samurai
0:00 •——————————• 3:48
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Jeanny — Falco
0:00 •——————————• 5:56
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tuansackl — Pizzera & Jaus
0:00 •——————————• 3:00
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I miss you — blink-182
0:00 •——————————• 3:45
⇆           ◃ ❚ ❚ ▹ ⤾

Ich bin ich — Rosenstolz
0:00 •——————————• 3:28
⇆           ◃ ❚ ❚ ▹ ⤾

I love you like I love myself — Nina Hagen
0:00 •——————————• 3:00
⇆           ◃ ❚ ❚ ▹ ⤾

Wien — Chakuza
0:00 •——————————• 2:49
⇆           ◃ ❚ ❚ ▹ ⤾

Kiss me — Sixpence none the richer
0:00 •——————————• 3:29
⇆           ◃ ❚ ❚ ▹ ⤾

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