Kapitel 35 - Bonuskapitel: Immer noch Karotten
August
»Das wird eine krasse Reise«, hörte ich Delia sagen.
Ich fühlte mich wie in ein Dé-ja-vù versetzt — vor einigen Wochen noch hatten wir genau wie heute hier gesessen. Delia, die Outfitkreationen zusammensuchte und ich, die ich ihr damals aus den Ordnern vorlas, um ein möglichst reales Bild auf die Figur zu projizieren, die Ben sein sollte. Jetzt saß Delia wieder vor meinem Koffer und packte Klamotten, während ich auf meinem Bett saß und vor mich hinphilosophierte.
Dass Bens Persönlichkeit nie und nimmer auf 600 Seiten passte, wusste ich jetzt auch. Der Gedanke an diese verrückte Zeit in der Karibik war beinahe befremdlich. Seit meiner Rückkehr nach Wien waren zwölf Wochen vergangen. Zwölf Wochen, in denen Ben und ich zu sehr guten Freunden zusammengewachsen waren. Obwohl ich wusste, dass wir beide darüber nachdachten, dass zwischen uns mehr als nur eine Freundschaft existieren könnte, so hatte es doch keiner ausgesprochen. Und obwohl ich mir, nachdem Kian mir das kleine Päckchen mit den Polaroid-Bildern überreicht hatte, sicher war, dass ich für Ben mehr als nur freundschaftliche Gefühle hegte, so hatte ich sie doch unterdrückt, ignoriert und in den letzten Winkel meines Bewusstseins geschoben. Meistens war das ganz gut möglich gewesen. Nur, wenn Ben mich so ansah, auf diese ganz bestimmte Art, wie nur er es konnte, mir diesen intensiven Blick aus seinen betörend blauen Augen zuwarf, dann gab es Momente, in denen ich kurz davor war, nachzugeben und schwach zu werden.
Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit war ich unsicher.
Unsicher, ob das, was ich tat, wirklich richtig war.
Meine Gefühle für Ben waren nicht weniger geworden — ich hatte bloß gelernt, sie zu unterdrücken. Einmal endeten wir beinahe in einer heißen Knutscherei, als wir am Donauinselfest beide ziemlich angeheitert getanzt hatten. Ich, eng an seinen Körper gedrückt, er, hinter mir, einen Arm um meine Taille gelegt. Ich wusste es nur noch episodenweise, weil mich das Gösser einiger Erinnerungen beraubt hatte, wie ich meinen Kopf in den Nacken gelegt und mich an Bens Körper geschmiegt hatte, während er auf meinen Hals sanfte Küsse hauchte. Ich spürte seine rauen Finger an meiner nackten Hüfte, die durch das bauchfreie Top entblößt wurde und sich nach viel mehr als nur einer Berührung von Ben sehnte.
Wir hatten so viel zusammen erlebt und ich habe so oft darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn ich ihm eine zweite Chance gegeben hätte. Tja, ich wäre nicht Hannah gewesen, wenn ich leicht zu bekommen wäre.
Und trotzdem bereute ich manchmal, dass ich Ben damals, als er vor meiner Türe gestanden war, zurückgewiesen hatte. Aber das war einfach nicht der richtige Zeitpunkt gewesen. Wir beide waren in den letzten drei Monaten über uns hinausgewachsen, und diese Zeit der Entwicklung haben wir gebraucht.
»Ich weiß«, murmelte ich auf Delias Meldung hin.
»Weißt du, wohin ihr fliegt?«
Ich schüttelte den Kopf.
Ben hatte mir zum Geburtstag ein Flugticket versprochen — und morgen sollte es losgehen. Wohin, das hatte er mir nicht erzählt. Nur, dass wir uns um zehn Uhr am Flughafen in Schwechat beim Eingang treffen sollten.
»Wie romantisch«, quiekte Delia.
Ich aß einen Löffel meines Eises — ohne Eis konnte man diese Affenhitze im August in Wien echt nicht ertragen. Im Winter konnte es hier so dermaßen kalt sein und im Sommer so verflucht warm. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Hitze sich über die Häuserdächer legte, wie eine Decke, und erst ging, wenn der Winter im November vor der Türe stand. Es war gar keine Seltenheit, bis im Oktober am Balkon bis spätabends sitzen zu können und nichts als eine leichte Jacke zu brauchen.
»Romantisch?«, frage ich mit dem Löffel im Mund. »Was, wenn er mich entführen will?«
»Trete ihm in die Eier und renn«, sagte Delia simpel.
»Wenn er mich fesselt?«
Einen Moment lang dachte sie nach. Dann fragte sie: »Soll ich dir ein Pfefferspray mitgeben? Um ihn zu vergraulen reicht die ruppige Art der Hannah Jäger, wie sie leibt und lebt, ja offensichtlich nicht.«
Obwohl ich wusste, dass das ein Scherz sein sollte, nickte ich. »Sicher ist sicher.«
»Vielleicht fliegt ihr auf die Bahamas ... Oder nach New York? Dubai? Shanghai?« Delia erzählte schwärmerisch vor sich hin, während sie immer mehr Gewand in meinen Koffer legte. Es hatte sich schon ein richtiger Berg gebildet.
»Das Ding wird garantiert nicht zugehen«, murrte ich und sah skeptisch auf die zweite Hartplastikschale, die da über die erste sollte. Es war derselbe Koffer, den ich auch nach Costa Rica mitgenommen hatte. Derselbe Koffer, der mit sehr vielen Erinnerungen verbunden war.
»Ach, das geht schon. Und jetzt erzähl mir endlich — seid ihr als Freunde oder als ... Freeeeunde unterwegs?« Sie betonte die Worte so komisch, dass ich die Brauen verzog.
»Ben und ich sind nur zwei Menschen, die sich gut verstehen, mehr nicht«, sagte ich und sah sie streng an.
»Wow.« Delia nickte anerkennend. »Das war beinahe so überzeugend, dass ich es dir abgekauft hätte.«
»Was soll das denn heißen?« Ich richtete mich empört auf.
»Selbst ein Blinder mit Krückstock kann sehen, dass deine Gefühle alles andere als vorbei sind. Vielleicht gut versteckt in einer Schublade deines Gehirns, die du am liebsten nie wieder öffnen willst — aber bist du dir wirklich sicher, dass das gesund ist?«
Ha, ha, nein.
»Ja!«
»Du bist auch echt der einzige Mensch auf dieser Welt, der zu stur ist, um glücklich zu werden, hm?« Delia schüttelte den Kopf und drückte den Koffer zu. Wie ich es prophezeit hatte, passte das Ding von vorne bis hinten nicht. Und sollte es jemals zugehen, dann würde es garantiert bei der ersten Rampe platzen oder explodieren.
»So ein Blödsinn.«
Da kannte ich nämlich noch einen Kandidaten dieser Art.
* * *
Als ich am nächsten Tag am Flughafen Schwechat aufkreuzte, — ich hatte darauf plädiert, dass Ben mich nicht wieder mit seinem Fahrer abholen kam — musste ich mich erst einmal zurechtfinden. Der Flughafen war riesig und ich kannte mich kaum aus.
Ben hatte mir allerdings eine SMS geschrieben, — ja, er war einer dieser raren SMS-Schreibe-Menschen — in der stand, dass er direkt beim A-Eingang auf mich warten würde. Deswegen ging ich die Halle entlang, bis ich dort ankam.
Ben hatte nicht gelogen. Direkt neben der Glasschiebetüre sah ich seine schlaksige Gestalt. Trotz des heißen Tages, der vor uns lag, trug er lange Chinos. Seine Haare waren ein bisschen länger als sonst, aber das stand ihm irgendwie. Verlieh ihm einen Sam-Claflin-auf-Urlaub-Look.
»Hey.« Ich grinste ihn an und schloss ihn in eine Umarmung.
Das war so unsere Begrüßung, auch wenn ich bei seinem intensiven Ben-Duft immer mal wieder mit dem Gedanken spielte, ob ich ihn nicht vielleicht einfach küssen sollte. Zu mir ziehen, die Wahrheit sagen, endlich reinen Tisch machen?
Stopp, Hannah. Das Thema haben wir schon durchgekaut. Kein Küssen — hör endlich auf darüber nachzudenken. Das wird nichts.
Diese doofen Liebeshormone machten mir echt einen Strich durch die Rechnung. Denn obwohl Ben bei seinem Schweigen auf der Yacht mein Herz in tausend Teile gebrochen hatte, so hatte die Zeit diese Wunde geheilt. Einige Schrammen waren noch immer zu sehen, aber die Teile meines Herzens, die irgendwie in meinem ganzen Körper verstreut gewesen waren, hatten nach und nach wieder den Weg zueinander gefunden. Und jetzt war es so gut wie ganz. Ben war der Kleber, der die Scherben zusammenhielt, was irgendwie ironisch war, schließlich war er auch derjenige, der die Ursache für den Herzbruch war.
»Hey«, sagte Ben. Seine tiefe Stimme war definitiv einer meiner Lieblingstöne. Sie zauberte eine Gänsehaut auf meine nackten Unterarme, von der ich lieber nicht wissen wollte, zu was sie sonst noch so fähig war.
»Also.« Ich räusperte mich und löste mich von Ben. Unter seinem wachsamen Blick fühlte ich mich wie in der Zeit zurückversetzt — direkt zu dem Tag, an dem wir uns das erste Mal geküsst hatten. »Wohin werden wir fliegen?«
Ben grinste zufrieden. »Es zerreißt dich, das nicht zu wissen, hm?«
Ich nickte. »Wenn du mit einer ganzen Hannah ankommen willst, solltest du langsam mit der Sprache rausrücken!«
Er kratzte sich am Kinn.
»Na gut. Ich sage es dir.«
Einen Moment lang wirkte er unentschlossen, ehe er sich ein wenig nach vorne beugte und flüsterte: »Wir fliegen nach Den Haag.«
Ich riss die Augen auf. Überrascht. Den Haag? Das war doch seine Heimat!
»D-Den Haag?«, stotterte ich. »Das Den Haag in den Niederlanden?«
»Na, falls du noch ein anderes kennst, dann dorthin«, erwiderte er schulterzuckend. Als mein Blick auf sein Gepäck fiel, stellte ich fest, dass er bei Weitem nicht viel dabei hatte, wie ich. Diese Erkenntnis trieb mir die Hitze ins Gesicht.
Dass ich wenig Gepäck dabei hatte, konnte man wirklich nicht behaupten. Da ich ja nicht wusste, was ich brauchen würde, hatte ich so ziemlich von allem ein bisschen eingepackt, was darin resultierte, dass mein Koffer so viel wog wie ich nach den Weihnachtsfeiertagen. (Diese Pfunde versuchte ich dann das ganze darauffolgende Jahr wieder abzunehmen, und wenn ich es wirklich hinbekam, war das eh erst kurz vor dem nächsten Weihnachten, wo dann schon die nächste Ladung Punsch, Glühwein und Weihnachtskekse auf mich wartete).
»Wir fliegen zu mir«, sprach er leise.
Zu Ben.
Mit einem Schlag wurde mir klar, was das für ein riesiger Schritt für ihn sein musste. Er wollte mir wirklich zeigen, wie wichtig ihm das war. Er zeigte mir den Ort, den er als Teenager gehasst und schließlich gemieden hatte. Den Ort, von dem er bei erster Gelegenheit geflohen war.
»Ich ... Ich rechne es dir hoch an, dass du mir dein zuhause zeigen willst.«
Ben lächelte, doch mit einem Mal wirkte sein Lächeln etwas gequält.
»Freu dich lieber nicht zu früh. Dein Lieblingshausdrache hat nämlich vor, dich jetzt, wo ich dich trotz Familienkollision anschleppe, ganz genau unter die Lupe zu nehmen.«
»Noch genauer als letztes Mal? Was will sie denn finden? Und was bitte hast du ihr erzählt?«
»Beweise, dass du ein Alien bist?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich meinte, dass ich meine Freundin mitnehme. Dich.«
Warte, was? Seine Freundin? Oder ... meinte er das als Kumpel-Freundin?
Herrje, dieses Freund-Freundin-Kumpel-Irgendwas-Gedöns war wirklich nicht einfach zu verstehen. Ständig musste man dreimal um die Ecke denken.
Bei dem Gedanken an die Alien-Beweise musste ich jedoch tatsächlich grinsen. »Hm. Vielleicht sollte ich mich mit einem Aluhut schlafen legen, dann hat sie wenigstens etwas zum Lästern.«
Ben stieg in mein Lachen ein und schüttelte einfach nur den Kopf.
»Komm mit, Hannah«, sagte er und zog mich in Richtung Check-In. »Jetzt sieht du mal, wie die Welt auf Seehöhe aussieht.«
Ben hatte sich echt ins Zeug gelegt. Wir flogen zwar ganz normal in der Economy-Class, doch er hatte Jause zum Naschen eingepackt. Salzkräcker und Gummischlangen, die sauren, weil er wusste, dass ich sie liebte.
»Sauer macht lustig!«, schwor ich, ehe ich die Packung aufriss und mir gleich zwei in den Mund steckte.
»Mmmh«, kaute ich genüsslich. So ein Zuckerschock hoch über den Wolken hatte wirklich etwas!
»Du, bitte, iss alle auf. Musst nicht mit mir teilen, nein, nein, mir welche anbieten, wieso auch?« Ben rollte die Augen, was mich zum Grinsen brachte. Er war ein bisschen zu groß für den winzigen Economy-Sessel, sodass er die Beine am Gang ausstrecken musste.
»Danke«, sagte ich zufrieden und steckte mir gleich noch eine Schlange in den Mund.
»Pass bloß auf«, sagte Ben und zog eine Braue hoch. »Nicht, dass du meiner Mutter zu freundlich begegnest, weil du so viel Zucker gegessen hast. Oder wie ein Duracel-Männchen wieder irgendwas von Lukas aus Alaska erzählst.«
Bei dem Gedanken wurde mir ganz warm. Das war einer meiner geistigen Brillier-Momente, die ich lieber noch tiefer in meiner Erinnerung vergrub, als meine Gefühle für Ben. Kurz streiften seine Finger meinen Arm, wodurch mein Inneres sofort in Alarmbereitschaft versetzte wurde. Macht er jetzt einen Zug?
Nein, natürlich nicht. Er richtete sich bloß, weil der Sitz wirklich zu klein war.
»Ich werde sie einfach anstarren und nicht reden«, murmelte ich.
»Wieso?«
»Vielleicht zerfällt sie ja spontan zu Staub.« Triumphierend aß ich noch eine Gummischlange. »Und wenn ich meine Klappe halte, können auch keine weiteren Lukas-aus-Alaska-Märchen über meine Lippen wandern.«
»Du spinnst.« Ben schüttelte lachend den Kopf.
»Ich weiß! Und es ist wunderbar!«
* * *
Zu Mittag landeten wir endlich in Rotterdam, von wo aus wir von Bens Cousin mit dem Auto zum Elternhaus chauffiert werden sollten.
Bens Cousin hieß Mats und war achtundzwanzig, also nur ein bisschen älter als Ben. Er wartete geduldig auf uns, die wir (zugegeben, das ging auf meine Kosten) ewig brauchten, bis wir unser Gepäck hatten, weil ich eine halbe Runde auf dem Gepäckband mitfuhr und es kurzzeitig lahmlegte. Das war bestimmt die Schuld der Weihnachtskilos.
Aber diese Erfahrung würde nie mehr jemand von mir nehmen können! Weihnachtskilos hin oder her.
Mats brachte uns auf direktem Wege nach Den Haag.
Während der Autofahrt sprachen er und Ben leise auf Holländisch, doch das kümmerte mich nicht. Ich hatte ohnehin alle Hände voll zu tun, weil ich mir die Nase an den Scheiben plattdrückte.
Die Niederlande.
Hier war ich noch nie gewesen — und es war so viel schöner, als auf den Bildern! Normalerweise kannte ich nur die typischen Amsterdam-Schnappschüsse mit Fahrrädern über Kanälen, die mit Blumenbouquets geschmückt waren. Und jetzt sah ich diese Tumblr-Landschaft ›in echt‹.
Die schmalen Häuser mit den großen Wohnungen leuchteten geradezu saturiert, als hätte jemand auf der Farbpalette von Photoshop ein bisschen nachgeholfen. Dazwischen tauchten immer wieder Wolkenkratzer mit verglasten Fronten auf, die schwindelerregend hoch gebaut waren.
Und außerdem ...
Naja, seit der Urlaubsreise, die mir diese ganze verrückte Story eingebrockt hatte, hatte ich mich für einen Niederländischkurs angemeldet. Wenn man Deutsch als Muttersprache hatte, wurde man automatisch in die nächstfortgeschrittenere Gruppe gesteckt. So hatte ich in den letzten Wochen nicht nur erfolgreich meinen Bachelor bestanden und war jetzt BSc. Hannah Jäger, sondern auch ein bisschen gelernt, die niederländische Sprache zu verstehen — und zu sprechen. Das war mein kleines Ass im Ärmel.
Deswegen wusste ich auch ungefähr, worüber Ben und Mats sprachen — nämlich die Familie und was sich in Den Haag so getan hatte. Scheinbar hatte es ernsthafte Eheprobleme zwischen Hendrik und Gabriella gegeben. Das wunderte mich nicht wirklich, aber ehrlich gesagt ... ein wenig tat sie mir schon leid.
Als wir schließlich in der Stadt hielten, stellte ich fest, dass Bens trautes Heim ein richtig schönes Haus war. Klar, denn die Van Hagens konnten sich das leisten — und Himmel, das war eine gute Wertanlage.
Das mit Ziegelsteinen vertäfelte Haus strahlte nur so in der Mittagssonne, während die weißen Fensterläden das Licht reflektierten. Unten, am Eingang, sah ich ein rundes Eingangstor. Es sah genauso aus, wie ich mir das Leben im Ikeakatalog immer vorgestellt hatte, bloß, dass das hier real war. Die winzigen Steinstufen, die empor zum Tor führten, waren auf der Seite von Steinstatuen gesäumt. Die Straße war gepflastert, uneben, aber irgendwie strahlte das Charme aus.
Ich löste vorfreudig den Sicherheitsgurt und sprang erfreut, wie ein kleines Kind, aus dem Auto, um meine ganze Umgebung ohne getönte Scheiben zu sehen.
Die Gassen, auf denen sich bummelnde Menschen herumtrieben, sahen so heimelig aus, dass ich gar nicht mehr nach Wien zurückwollte. Bislang hatte ich gedacht, Wien sei der schönste Fleck auf Erden, doch nun, wo ich hier in Den Haag stand, war ich mir da nicht mehr so sicher.
Die Häuser standen windschief, irgendwo plätscherte ein Kanal.
»Hannah. Schön dich wiederzusehen.«
Ich hörte ihre vertraute Stimme, noch bevor ich sie sah. Doch da stand sie, unverwechselbar, dieselbe Frau. Dieselbe Frau, die mich vor drei Monaten von ihrem Boot geschmissen hatte. Neben ihr stand ein hagerer, älterer Herr. Unverwechselbar — Hendrik. Mein Herz ging auf, als ich den fröhlichen Mann sah, dessen Haar noch grauer war, als Ende April. Sie standen nebeneinander, Gabriella und Hendrik.
»Gleichfalls«, sagte ich höflich. Und das Abstruse war, dass ich es wirklich so meinte. So sehr ich Gabriella auch verabscheute, aus irgendeinem Grund freute es mich wirklich, sie wiederzusehen. Vielleicht, weil ich sie mit dem größten Abenteuer meines Lebens verband.
»Wie ich sehe, haben sich dein Weg und der meines Sohnes wohl nicht getrennt.« Ihre Stimme klang kühl, doch trotzdem bei Weitem nicht so kalt wie noch vor einigen Monaten.
Ich nickte. »Ja. Das stimmt.«
Unauffällig sah ich zu Ben hinüber, der am Auto lehnte. Er hatte die Türe noch nicht einmal zugeschlagen, sondern lehnte einfach mit dem Unterarm am Dach. Auf seiner Nasenspitze ruhte eine Ray Ban, die ihm wirklich gut stand.
Scheiße, man. So viel zum Thema nicht-verlieben-oder-offensichtlich-verliebt-agieren.
»Wie schön.« Gabriella trat einen Schritt nach vorne zu Mats. »Danke, Matthäus, dass du sie vom Flughafen abgeholt hast.« Sie wechselte ins Niederländische, doch weil sie tatsächlich sehr klar sprach, verstand ich jedes ihrer Worte. »Deine Mutter ist auch schon da. Sie hat oben eine Nachmittagsjause vorbereitet. Vielleicht gehst du ja schon vor, ich muss hier noch etwas besprechen.«
Dass Gabriella bei Mats einen verängstigenden Eindruck erweckte, sah man ziemlich deutlich. Mats beeilte sich, ihrer Forderung nachzukommen und verschwand im Stadthaus.
»So.« Gabriella trat einen weiteren Schritt in meine Richtung. »Und nun zu dir. Hannah.«
Dass sie mir garantiert nicht verziehen hatte, wie sehr ich auf ihrer Nase getanzt hatte, merkte ich deutlich — und irgendwie konnte ich ihren Ärger auch nachvollziehen. Rückblickend war es wirklich eine riesige Lüge gewesen.
»Mein Sohn hat dich also mitgebracht. Interessant.« Sie trat einige Schritte um die Schnauze des Autos herum, ehe sie sich wieder umdrehte. »Du scheinst ihm wichtig zu sein. Bisher hat er noch keine Frauen mit nach Hause gebracht.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, also—«
»Ich bin noch nicht fertig«, herrschte sie mich an, doch gleich darauf schien sie ihren harschen Tonfall zu bemerken, denn sie lächelte. Oder zumindest irgendwas in die Richtung.
»Ich frage dich das jetzt noch einmal. Jetzt, wo ich weiß, dass du nicht die Freundin meines Sohnes bist und dass ihr nicht zwei Jahre zusammen wart. Aber ich frage dich das, weil ich gern wüsste, wieso du dich auf diese Reise einlässt.«
Ich zog eine Braue hoch. Wovon zum Teufel sprach sie?
»Was fasziniert dich an meinem Sohn? Was fasziniert dich an Ben?«
Als ich das hörte, kleisterte sich das Grinsen wie von selbst auf meine Lippen. Es war genau die Frage, die sie mir schon einmal gestellt hatte — nämlich in Mexiko, direkt, nachdem sie mich kennengelernt hatte. Hatte ich damals noch keinen wirklichen Grund nennen können, so konnte ich nun hunderte Gründe nennen, und das ganz ohne in einem 300-Seiten-Ordner nachzulesen.
»Es ist immer noch dasselbe, Gabriella«, sagte ich feierlich. »Karotten.«
Als ein breites Lächeln auf Bens Lippen erschien, wusste ich, dass ich es ihm heute sagen würde. Dass ich es ihm heute sagen würde, ihm meine Gefühle gestehen würde, ihm eröffnen würde, dass ich mich wirklich in ihn verliebt hatte.
Ben knallte die Autotüre zu und kam zu mir rüber.
Gabriella zog eine Braue hoch, und dann sah ich, wie sich ihre Lippen ebenfalls zu einem ehrlichen Lächeln verzogen. Ein Lächeln, das keiner Grimasse ähnelte, sondern von Herzen kam. Und ich sah, dass Gabriella offensichtlich doch ein Herz hatte, bloß schien es von Mauern umgeben zu sein, die so hoch waren, wie Rapunzels Turm.
Hendrik trat einen Schritt näher auf uns zu und legte seiner Frau einen Arm um die Taille.
»Nou, moeder, dit is mijn vriendin.«
Ben trat zu mir und legte einen Arm um meine Schultern. Und es störte mich nicht, dass er mich nicht zuerst gefragt hatte, ob ich denn seine Freundin sein wollte. Nein, denn er hatte mich im Stillen gefragt, und ich hatte ja gesagt, und es waren tausend Worte in unserer harmonischen Stille ausgetauscht worden, die niemand hörte, außer Ben und mir.
»Mijn naam is Hannah«, sagte ich, und grinste Gabriella und Hendrik an.
Den Gesichtsausdruck, mit dem Gabriella mich bedachte, als ich meine neugewonnenen Niederländisch-Kenntnisse zum Besten gab — diesen fast schon anerkennenden Blick — den würde ich mir garantiert für immer merken.
Ich sah Ben grinsend an. Ja, mit Karotten, einer Pipi-Urkunde und der Mathe-Olympiade hatte es begonnen. Womit es enden würde, wusste ich nicht. Denn das war gerade erst der Anfang des nächsten Abenteuers, in das wir uns stürzen würden.
Ben war und blieb ein Geheimnis. Ich hoffte wirklich, dass ich auch nur halb so geheimnisvoll war, wie er. Ja, das hoffte ich. Denn auch das war nur een kwestie van prijs.
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