Kapitel 32 - Alles kommt raus?

Mein Kopf ruhte auf Bens Brust, als ich am nächsten Tag aufwachte. In der Nacht hatte ich mich seitlich gedreht und Ben somit ganz an den Rand der Bettkante gedrängt, während ich das ganze Bett für mich alleine hatte.

Ich gähnte herzhaft.

Die Erinnerungen an den gestrigen Abend stiegen in mir hoch und hinterließen ein feuriges Prickeln auf meinen Lippen. Doch damit ging auch diese Nervosität einher, die ich mit einem Mal verspürte — ob die Intimitäten etwas an Bens und meinem Verhältnis verändern würden? Ich meine — wir waren beide erwachsen. Wir konnten darüber reden, wenn etwas nicht richtig lief.

Nun. Könnt ihr das wirklich?

Gut, vielleicht war ich mir da auch nicht mehr so sicher. Jedenfalls hoffte ich, dass wir es konnten. Doch abgesehen von meinen fünf unreifen Minuten am Tag (Kians kindisches Gehabe katalysierte diese geradezu) — ja, wir konnten darüber reden.

Mit einem warmen Gefühl im Magen drehte ich mich um, um Ben etwas Platz zu machen. Der Kerl war wirklich ein Wunder. Selbst, als ich ihn in die Seite pikste, wo er normalerweise ziemlich kitzlig war, zuckte er nur leicht im Schlaf zusammen. Er schlief wie ein Stein, das Gesicht im Kissen vergraben, die Decke bis zum Bauchnabel hochgezogen.

Ich gab es schließlich mit einem Seufzen auf, Ben wachbekommen zu wollen, und stand auf. Lieber wäre es mir gewesen, wenn er wachgeworden wäre. Dann hätte ich jemanden gehabt, mit dem ich blödeln konnte, während wir frühstückten. Aber ich wollte hinterher nicht schuld sein, wenn er launisch war, weil er zu wenig Schlaf bekommen hatte.

Gerade, als ich das Zimmer verlassen wollte, begann mein Handy leise zu klingeln.

Ach ja. Telefone gab's ja auch noch.

In meiner Zeit auf dem Boot hatte ich völlig vergessen, dass es sowas wie Internet und Handys gab.

Leise fluchend schob ich die unordentliche Schmutzwäsche zur Seite, um den Ort auszumachen, an den ich mein Handy bei unserer Ankunft gepfeffert hatte. Dass es überhaupt noch Akku hatte, wunderte mich sehr.

Schließlich fand ich es unter einem BH, den ich gewissenlos in eine Ecke gepfeffert hatte. Zugegeben, wenn man sich in unserem Zimmer umsah, konnte man leicht sehen, welcher Teil nur von Ben genutzt wurde, und welcher von mir genutzt wurde.

Delia ruft an, stand auf dem Display.

Ich knurrte einige Flüche vor mich hin — während ich den Anruf entgegennahm, schlüpfte ich rasch in Unterwäsche und zog mir eins meiner Strandkleider über.

»Hallo?«, ächzte ich ins Telefon.

»Einen wunderschönen guten Abend, meine herzallerliebste beste Freundin«, zwitscherte Delia mir ins Ohr. Eine freudige Gänsehaut pflanzte sich auf meine Arme, als ich die Stimme meiner besten Freundin hörte. Es fühlte sich an, als hätte ich sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen — dabei war bloß etwas mehr als eine Woche vergangen.

»Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe«, murmelte ich zerknirscht ins Telefon und beeilte mich, aus dem Zimmer zu kommen, um Ben nicht aufzuwecken. Schließlich ging ich ins Badezimmer am Ende des Flures, wo ich die Türe hinter mir verriegelte und mich auf den kühlen Klodeckel fallen ließ.

»Mhm.« Ich konnte förmlich hören, wie Delia ihre kleine Stupsnase rümpfte. »Wie siehts aus? Hast du den Herrn Adelssohn schon über Bord geworfen, die Mutter ermordet und die Yacht übernommen?« Sie imitierte die Stimme eines Nachrichtensprechers. »Und nun kommen wir zu den weniger erfreulichen Nachrichten des Tages. Seit einigen Tagen treibt eine junge Frau ihr Unwesen auf einem gekaperten Schiff im karibischen Meer. Hüten Sie sich! Sie ist gefährlich!«

Ich verdrehte die Augen, musste allerdings kichern. »Ich bin froh, dich zu hören«, gab ich ehrlich zu. »Nein, den Herrn Adelssohn habe ich noch nicht über Bord geworfen und die Mutter auch nicht ermordet. Leider.« Das sagte ich mit so viel Nachdruck, dass Delia lachte.

»Was, ist es so schlimm auf einer Yacht in der Karibik

Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn man davon absieht, dass die Mutter eine verdammte Schnepfe ist, die mir nichts Gutes will ... Nicht umsonst reimt sich ihr Name auf Cruella! Das kann ja kein Zufall sein!« Ich gab einen wüsten Laut von mir, der meinen Frust unterstrich.

»Hm. Gibt es irgendwelche süßen Jungs an Bord?«

Bei diesem Gedanken wurde mir ganz warm. Ja, da gibt es einen.

»Beispielsweise einen brasilianischen Poolboy?«, imaginierte Delia.

»Warum muss er genau aus Brasilien kommen?«, fragte ich kopfschüttelnd.

Warum nicht aus den Niederlanden?

»Keine Ahnung. Ist so eine Vorstellung.« Sie seufzte. »Und wie sieht es mit Ben aus? Kratzt ihr euch die Augen aus oder ist er gar nicht so schlimm?«

»Nein ...« Vermutlich war das der Moment, indem ich die Karten offen auf den Tisch legen sollte — zumindest Delia gegenüber. Außerdem musste ich sie um Rat fragen, was ich tun sollte.

»Nein, was?«, fragte sie neugierig. Auf einmal war sie ganz Ohr.

»Nun ja ...« Ich haderte ein wenig, die richtigen Worte zu finden. Schließlich wagte ich einen Versuch — mit Flipflops auf Eis war schließlich auch eine Möglichkeit. »Ich glaube, ich bin ein bisschen ... verliebt.«

Delia quiekte heiser auf. Einen Moment lang sagte sie nichts, dann schrie sie mir beinahe das Ohr blutig: »Was

»Schwer vorstellbar, ich weiß. Aber ... er ist eigentlich gar nicht so schlimm, wie ich angenommen hatte. Klar, er hat seine Makel. Und Himmel, dieser Ordnungsdrang ist beinahe schon zwanghaft. Und ja, er nervt mich, wenn er immer irgendeine bescheuerte Antwort hat, die noch dümmer ist, als meine. Aber... gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass ich mit ihm über alles reden kann, eben weil er genauso bescheuerte Gedanken hat, wie ich.«

»Die hat jeder. Nur spricht sie nicht jeder aus«, sagte Delia.

»Ja, aber siehst du? Das ist es doch! Er geniert sich nicht, einen Scheiß auszusprechen. Er kann gut Scherze machen und er hört mir zu, egal, was ich zu sagen habe.«

»Wow.« Delia war hörbar baff.

»Ich weiß. Es ist ... eine komische Geschichte. Da wird man einmal für einen Auftrag bezahlt und verkackt das Ganze haushoch.«

»So kann man es auch sehen — aber es ist doch etwas Gutes, wenn du verliebt bist, oder? Aus deinen Worten geht für mich zumindest heraus, dass es ihm scheinbar ähnlich geht.«

»Keine Ahnung ...« Da kam mein mageres Selbstbewusstsein wieder hoch. Die starke Hannah, als die ich mich ausgab, war ich nämlich nicht wirklich. Jedenfalls nicht in solch sensiblen Themen.

»Habt ihr euch schon geküsst?«, fragte Delia forsch. Sie wiederum genierte sich nicht, genaue Informationen mir aus der Nase zu kitzeln.

»Ja.«

»Und ... mehr?«

»Ja.«

»Okay, nun, dann wissen wir ja jetzt, womit wir es zutun haben.« Sie seufzte brüsk. »Wie planst du weiter vorzugehen?«

»Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Ich hatte gehofft, du könntest mir da weiterhelfen.« Ich seufzte. »Ich ... Ben ist mir wichtig. Ich will ihn und seine Familie nicht verletzen. Auch wenn seine Mutter nichts anderes verdient hätte.«

»Dann ... gibt es wohl nur noch einen Ausweg, oder?«

Eine unbehagliche Gänsehaut überzog meine Schultern. Ich verlagerte das Gewicht auf die andere Pobacke, weil der Klodeckel ganz schön unangenehm war.

»Wohl wahr.«

Delia musste nicht aussprechen, was sie dachte, denn ich wusste es auch so.

Ich musste reinen Tisch machen. Die Wahrheit erzählen. Ich wollte Bens und meine Beziehung — oder das, was wir eben hatten — nicht auf einer Lüge aufbauen. Wieso musste ich ihn auch ausgerechnet unter diesen Umständen treffen? Wieso nicht einfach in irgendeinem Studentenlokal in Wien, im Bricks oder im U4? Warum musste es ausgerechnet er sein, um dessen Gunst ich lieber nicht kämpfen wollte? Schließlich sollte mir Kian immer noch das Geld geben.

Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich das Geld nicht wollte.

Ich würde es immer mit Ben verbinden und mit dieser Reise. Ob es etwas gäbe, das mir wert genug wäre, das Geld dafür auszugeben?

»Also werde ich es sagen. Ich werde ihnen sagen, dass ich gar nicht die Freundin ihres Sohnes bin und dass das alles eine Lüge war.« Die Worte verließen nur schwerlich meinen Mund, doch Delia pflichtete mir bei.

»Das ist wahrscheinlich für alle das Beste.« Sie seufzte. »Außer für dich, Hannah, das weißt du doch, oder?«

»Wieso?«

»Naja ... Weil seine Eltern wahrscheinlich nicht gerade begeistert sein werden. Immerhin ist das keine kleine Lüge, auf die du dich da eingelassen hast.«

»Am Ende des Tages ist immer noch Kian schuld!«, rief ich ins Telefon.

»Wenn du meinst. Aber du hast mitgemacht ...«

»Was auch immer. Ich werde reinen Tisch machen. Aber ... denkst du nicht, dass Ben dann nichts mehr mit mir zutun haben will?« Meine Stimme klang unsicher.

»Wieso sollte er? Nur, weil seine Eltern böse auf dich sind, heißt das noch lange nichts.«

»Ich könnte es mir aber vorstellen. Er ist nicht der Typ, der seine Klappe in brenzligen Situationen aufmacht.« Zumindest schätzte ich ihn so ein und was die letzten Familienessen anging, hatte ich mich da nicht verschätzt.

»Wer weiß. Aber bevor du es ihnen sagst, solltest du vielleicht deine Sachen gepackt haben. Du kannst schließlich nie wissen. Und ich würde es ihnen nicht verübeln, wenn sie dich vom Boot schmeißen wollen.«

»Hey!«, rief ich.

»Ja, was denn? Hannah, das ist eine riesige Lüge gewesen, auf die du dich da eingelassen hast. Hinterher ist man immer schlauer, ich weiß. Aber war es wenigstens das Abenteuer wert?«

Mein Herz schlug einen Salto.

»Oh ja.« Ich nickte. Allein schon der Gedanke an gestern bestätigte mich darin. Mit jemandem intim zu sein wurde so viel intensiver, so viel schöner, wenn man die Person sehr gern hatte. Wenn man den Charakter attraktiv fand, und nicht nur den Körper.

»Gut. Dann ... viel Glück, Hannah. Pass auf dich auf. Wenn du sagst, er ist es wert, dann glaube ich dir das.«

Mir wurde warm. Ich konnte mich so unfassbar glücklich schätzen, eine solche beste Freundin zu haben, wie sie Delia war.

»Danke. Ich rufe dich dann an.« Mit etwas Verspätung fügte ich hinzu: »Holst du mich vom Flughafen ab?«

Sie lachte, aber wir wussten beide, dass das kein Witz war. »Na hör mal. So schnell schießen die Preußen nicht.«

Und wir wussten beide, dass das ein ›Ja‹ war.

Mit Delias Rat fühlte ich mich für die Schlacht, die es auszutragen galt, gewappnet. Ich seufzte tief, ehe ich auflegte und vom Toilettensitz rutschte. Ein Blick in den Spiegel versicherte mir, dass ich ziemlich blass war. Die Sommersprossen traten wie Feuermale hervor, meine Augen waren leer.

Wie viel einfacher es doch wäre, einfach meine Fresse zu halten und zu warten, bis der Urlaub vorbei war, doch jedes Mal, wenn Ben mich küsste oder mir eine Zärtlichkeit schenkte, ja sogar, wenn er mir eine Beleidigung an den Kopf warf, zog sich mein Herz krampfhaft zusammen. Weil ich wusste, dass das falsch war. Weil ich wusste, dass Glück, das auf einer Lüge fußte, nie von langer Dauer war.

Obwohl ich nicht oft an den Glauben dachte, weil meine Eltern ihn mir mit einer schlechten Erinnerung eingepflanzt hatten, so hatte doch der Samen ihrer Erziehung gefruchtet und ließ nun etwas zurück, das ich nicht vergessen konnte. Ich dachte an die Bibel; dachte daran, dass man doch nicht lügen sollte. Was, wenn ich zwar log, aber die Lüge erkannte und nun glättete?

Wieso habe ich nach all den Jahren immer noch das Gefühl, sie mit meinen Taten zu enttäuschen?

Ich straffte die Schultern. Meine Augen waren feucht, weshalb ich mir mit dem Handrücken schnell darüber fuhr. Ich würde jetzt sicher nicht heulen, nicht wegen meiner Familie.

Doch genau das war der Grund, weshalb ich all das berichtigen wollte. Ich wollte Ben ohne den Zwang seiner Familie kennenlernen und ohne Umstände, die uns in eine moralisch verwerfliche Lügengeschichte schubsten.

Schließlich nickte ich mir selbst zu. Ich würde das schon hinkriegen. Noch hatte ich schließlich Zeit, mir die richtigen Worte zurechtzulegen.

Doch als ich die Türe des Badezimmers entriegelte und öffnete, rutschte mir das Herz in die Hose.

Nein, ich hatte keine Zeit mehr, mir die richtigen Worte zurechtzulegen.

Denn vor mir stand Hendrik. Die Hände hingen ihm schlaff am Körper herab, sein Gesicht war ausdruckslos. In seinen Augen jedoch konnte ich etwas lesen. Enttäuschung.

»Das war ein Auftrag?«

Seine Stimme war rau. Leise. Markerschütternd klar.

Ich senkte den Blick.

Ich fühlte mich schlecht.

Genau wie der Haufen Scheiße, der ich mit dieser Aktion zu sein bewies.

Aber woher hätte ich wissen sollen, dass Ben okay war, dass sein Vater nett war, seine Mutter eine Furie, aber Kian auch ganz cool drauf war?

Woher, bitte schön?

Mich überkam eine Übelkeit, die rein auf das Konto meiner Emotionen ging.

Wann hatte ich mich das letzte Mal so schlecht wegen etwas gefühlt? Normalerweise stand ich zu meinen Taten.

Ja, normalerweise.

»Ist das wahr, Hannah?«, wiederholte sich Hendrik. Meine Hände zitterten. »Ist es wahr, dass du gar nicht die Freundin meines Sohnes bist?«

Ich nickte kaum merklich. Scheiße. Aber lügen war keine Option. Jetzt war also der Moment gekommen, vor dem ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Und dann auch noch Hendrik? Ich fühlte mich so schlecht, dass mir speiübel wurde.

»Ja.«

Meine Stimme war nur ein zittriges Hauchen, doch Hendrik hörte das Wort genau.

Er ließ die Luft aus. »Wow. Ich ...« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich ... ich bin schwer enttäuscht ... W-Wer bist du überhaupt?«

»Alles, was du über mich weißt, ist die Wahrheit!«, beteuerte ich.

»Bis auf die Tatsache, dass du die Freundin meines Sohnes bist.«

Ich nickte. Ja, bis auf das.

Den enttäuschten Ausdruck auf Hendriks Gesicht würde ich so schnell nicht mehr vergessen.

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