Kapitel 28 - Gabriella auf dünnem Eis
Der Abend endete damit, dass ich schließlich hundemüde ins Bett kroch, die Gedanken benebelt von all dem Wein und die Augen müde von dem anstrengenden Tag.
Ich lauschte Bens gleichmäßigem Atmen, während ich die Arme unter dem Polster verschränkte und trostlos in die Leere blickte. Ich fühlte mich schlecht.
Schlecht, weil ich Hendrik, Lisa und Gabriella, ja, sogar ihr gegenüber fühlte ich mich schlecht, anlog. Weil ich ihnen vorschwindelte, ewig mit Ben in einer Beziehung zu sein, weil ich sie im Irrglauben ließ, dass Ben und ich sowas wie Seelenpartner waren und unsere Beziehung das Höchste der Gefühle wäre.
Und noch schlechter fühlte ich mich, weil ich mich selbst anlog. Weil ich etwas auf einem so wackeligen Fundament aufzubauen versuchte, das zum Scheitern, zum Fall, verurteilt war.
In ausweglosen Momenten dachte ich über meinen Glauben nach. Vielleicht hatte ich Ben angeschwindelt, als ich sagte, dass ich nicht gläubig war. Denn ich war gläubig, doch es war so privat für mich, dass ich mit niemandem darüber sprechen wollte.
Ich lag im Bett und dachte an Matthäus 7, an die Geschichte des Hausbaus auf Felsen und Sand.
Mein Haus würde mit der Sintflut weggeschwemmt werden. Gab es ein Szenario, in dem ich diese Sintflut umgehen konnte?
Nur ein einziges. Und es baute darauf, dass ich Ben vertrauen konnte.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass das ein leichtes Spiel für mich werden würde, Bens Freundin zu spielen und allen ein wenig auf der Nase herumzutanzen. Mit nervigen Menschen kannte ich mich aus, schließlich würde der ein oder andere mich selbst als eine solche Person kategorisieren.
Das, was meinen Plan jedoch durchkreuzt hatte, war die Tatsache, dass mir Ben eines Tages etwas bedeuten würde. Als Mensch, als Freund, als Kerl. Mehr als nur ein Abenteuer für zehntausend Kröten, mehr als nur irgendein Typ, dessen kleiner Bruder auf meine Xoodle-Annonce geantwortet hatte.
Ben und ich waren zwei Menschen, die auf der Suche waren, und irgendwie verband uns das. Wir waren auf der Suche nach dem Leben, dass für uns vorgesehen war. Wir waren auf der Suche nach dem nächsten Stopp, denn dieser konnte nicht das Ende sein. In unserem Streit lag die Harmonie, in unserer Stille die Konversation.
Manchmal fühlte es sich so an, als wären wir eine fremde Spezies, vielleicht von Außerirdischen ausgesetzt. Zwei Fremde, die sich gefunden hatten, zwar nicht wussten, dass sie von derselben Spezies waren, doch immer mehr voneinander erfuhren. Nach Hause telefonieren war keine Option mehr.
Obwohl Ben mich erst seit einer Woche kannte, kannte er mich besser als viele Menschen, die schon weitaus länger in meinem Leben waren. Bis dato hatte ich gedacht, schon alles auf dieser Welt gesehen zu haben, alles gefühlt und alles erlebt zu haben. Nur eines hatte ich vergessen: Ich hatte vergessen, wie sich diese Schuld gegenüber einer Person anfühlte, die man gernhatte.
Es war dasselbe Gefühl wie damals, als mein Sozialbetreuer meinen Eltern verkündet hatte, dass diese Wohnkonstellation nicht länger funktionierte und ich auszöge. Damals war ich noch ein Kind gewesen, und doch war dieser Schmerz, dieser Druck, in meiner Brust so schlimm gewesen, dass sich das Gefühl in meine Seele eingebrannt und in mein Herz eingeritzt hatte.
Meine Schwester Liz war damals noch so klein gewesen, dass sie überhaupt nicht verstand, was los war. Für mich war dieser Tag der Tag, an dem ich erwachsen wurde. Mama hatte stoisch geschwiegen, Papa war an die Decke gegangen.
Ein einziges Mal hatte ich mich an erste Stelle gestellt und auf das gehört, was ich wollte — und das Resultat? Ich tat allen um mich herum weh. Vielleicht war das der Grund, wieso ich lieber niemanden so nahe an mich heranließ.
Doch am Ende des Tages bin ich nach einigen Jahren der Schuld zu der Erkenntnis gekommen, dass wir alle nur dieses eine Leben hatten und diesen einen Körper, aus dem keiner herauskonnte. Wir mussten uns selbst überlegen, wann wir uns an erste Stelle stellten und wann nicht. Wann eine Grenze überschritten war, und wann noch Luft nach oben blieb.
Ich hatte das Gefühl, dass dieser Moment bald kommen würde — dieser Moment, in dem ich mich fragte, ob ich dieses Spiel mit Ben noch länger aufrechterhalten konnte. Der Moment, in dem ich mich fragte, ob ich noch höher auf diesem sandigen, fragilen Fundament bauen wollte, ob ich diese Lüge noch dichter spinnen wollte und ob ich noch länger mit den Menschen, denen Ben wichtig war und die Ben wichtig waren, spielen konnte. Weil er mir wichtig war.
Irgendwann spürte ich, wie er sich im Schlaf wälzte und zu mir drehte. Seine Hand umfasste meine Hüfte, weshalb er instinktiv näher an mich rutschte. Ich spürte seinen gleichmäßigen, ruhigen Atem in meinem Nacken.
Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel.
Ich hatte das Gefühl, in meiner eigenen Schuld zu ertrinken. Und dieses Mal würde mir keiner helfen. Dieses Mal lag es an mir.
* * *
Am nächsten Morgen war von dem Trübsal der letzten Nacht nichts mehr übrig.
Delia nannte es immer liebevoll meine ›melancholischen drei Tage‹, die immer kurz vor meiner Menstruation eintraten. Sie selbst hatte keine so großen Stimmungsschwankungen — ganz im Gegensatz zu mir. Um die Zeit meines Eisprungs war ich eine filmreiche Hollywood-Schauspielerin, die im Regen ihrer verblassenden Jugend hinterherheulte.
Als ich erwachte, war Ben nicht mehr im Bett. Die Decke war zusammengelegt und ordentlich gefaltet worden. Ich befühlte mit der Hand die Matratze, auf der er nachts gelegen hatte — noch warm. Das bedeutete, dass er wohl noch nicht allzu lang auf den Beinen war. Müde gähnte ich, bis ich schließlich Sternchen sah und das als gutes Zeichen nahm, aufzustehen und den Tag zu beginnen.
Ein paar Minuten später ging ich in Flipflops rauf ans Deck. Es war kurz nach neun, die Sonne stand schon weit am Himmelszelt und verriet, dass der Tag heute schöner und noch heißer werden würde, als der gestrige. Wir schaukelten nach wie vor am offenen Meer, doch in der Ferne glaubte ich, die Umrisse von Land zu erkennen.
»Guten Morgen«, pfiff Kian mir gut gelaunt entgegen. Zu meiner Überraschung saß er im Schneidersitz auf einer Yogamatte und hatte die Hände gefaltet, während er blinzelte, weil ihn offenbar das Sonnenlicht kitzelte.
»Namasté«, grinste ich. Yoga machte ich normalerweise nur, wenn ich sehr gestresst war oder wenn ich das Bedürfnis hatte, mich zu dehnen.
In diesem Moment hörte ich, wie sich auf den Holzdielen Schritte näherten. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass es Ben war — und für eine Sekunde blieb mein Herz stehen, ehe es doppelt so schnell weiter schlug.
Er sah so gut aus.
Wenn man Intelligenz am Äußeren einer Person sehen könnte, wäre er eine Glatte zwanzig auf einer Skala von eins bis zehn. Die Art, wie er selbstbewusst das Deck entlang ging, majestätisch, obwohl er alles andere als majestätisch gebaut war, war beeindruckend. Als er bei uns angekommen war, kratzte er sich am Kinn.
»Guten Morgen«, sagte er rau.
Das Lächeln war nur an mich gewandt. Ich wollte das einzige Mädchen sein, das er mit einem solchen Lächeln belohnte.
»Morgen«, piepste ich. Wieder einmal kletterte meine Stimme einige Oktaven höher, weshalb ich betont tiefer fortfuhr: »Und ... was sagt Captain Iglo zur Wetterlage?«
»Zeit für eine kleine ... Schwimmtour«, gab Ben zurück. Es amüsierte ihn offensichtlich, welche Auswirkungen er auf mich hatte, denn anders konnte ich mir sein unterdrücktes Lachen nicht erklären.
»Erst kommt die Piranhafütterung!«, widersprach ich, doch Ben ignorierte meinen Einspruch.
»Scheiße«, quiekte ich, als mir klar wurde, was er vorhatte. Ben zog sich galant das Poloshirt über den Kopf. Er trug bereits die rote Badehose, während ich noch immer mein Schlafoutfit trug. Eine kurze Hose und ein Trägerleibchen, das über meinen sowieso eher kleineren Brüsten Falten warf.
»Keine falsche Scheu«, erwiderte Ben grinsend, während er auf mich zukam. Ich wich einige Schritte zurück — doch hinter mir bohrte sich das erbarmungslose Metall der Reling in meinen Rücken und signalisierte mir, dass hier Endstation war.
Ben hingegen nahm mich einfach, hob mich hoch und warf mich über die Schulter, wie er es schon einmal getan hatte — bloß, dass jetzt jeder an Deck mein Gekreische mitbekam.
Ich versuchte, ihn zu boxen, doch Ben war flink und außerdem war es ihm egal, dass ich mich wehrte. Einen Moment lang überlegte ich, ihm in die Kronjuwelen zu schlagen, doch das wäre dann wahrscheinlich ein Fail gegen mich selbst: Sollten Ben und ich jemals eine Zukunft gemeinsam haben, würde wahrscheinlich auch irgendwann das Thema Kinder auf den Tisch kommen. Ich wollte keine deformierten Kinder mit Ben haben, bloß, weil ich ihm einmal eine reingehauen hatte.
Ben klappte die Leiter des Decks herunter — und spätestens ab diesem Zeitpunkt erstarb jegliche Hoffnung, die ich bis dahin noch an den Tag gelegt hatte.
»Du hast doch nicht ernsthaft vor, zu springen, oder?«, rief ich in Panik.
»Wieso denn nicht?«, fragte Ben. Ich konnte dieses Grinsen hören.
»Weil ... weil ...« Mir fiel nichts ein. »Ich bin gerade erst aufgestanden!«
»Eine schwache Ausrede, Dornröschen«, erwiderte Ben schulterzuckend.
Und im nächsten Moment sprang er ins Meer, gemeinsam mit mir über seiner Schulter. Noch im Sprung jedoch schubste er mich ein bisschen von sich, damit ich nicht auf seiner Schulter im Wasser landete und mich verletzte.
Als die kühle, salzige Gischt meine Haut berührte und ich ein bisschen Meerwasser einatmete, musste ich sofort husten.
»Igitt«, murmelte ich und rotzte und spuckte vor mich hin. »Sowas Ekliges habe ich ja noch nie geschmeckt. Salzig und ...«
In diesem Moment, als ich gerade mit mir selbst redete, tauchte Ben neben mir auf. Während ich wie ein Sternfisch vor mich hin zappelte, legte er koordinierte Bewegungen hin und schwamm flach wie ein Brett dahin.
»Du spinnst«, fauchte ich. Ich wollte wütend sein, doch mir war viel zu kalt, um auch nur irgendeine Emotion zu empfinden. Abgesehen davon war ich gerade eben erst so richtig wach geworden — der Schwall kaltes Wasser traf mich eiskalt.
»Schmollt da jemand?«, fragte Ben grinsend und pirschte sich an mich heran.
Genau in diesem Augenblick kam mir eine Idee — vielleicht keine, die irgendein Erwachsener getan hätte, doch im Inneren war ich sowieso ein trotziges Kind, weshalb ich mich von keinerlei Vernunft aufhalten ließ.
Ich tauchte einfach unter. Die Luft anzuhalten war schon immer eine meiner Stärken gewesen, auch wenn ich Angst vor dem Meer hatte. Im Schwimmbad war ich früher beinahe eine ganze Bahn getaucht, weil ich es so mochte. Dementsprechend war das meine Gelegenheit, Ben eins auszuwischen.
Wie ein Fisch schwamm ich ein wenig auf und ab. Der Motor der Yacht lief glücklicherweise nicht — zu groß wäre meine Angst gewesen, zu Fischfutter verarbeitet zu werden. Als ich die Augen unter Wasser öffnete, glaubte ich für einen Moment, dass das Salzwasser fürchterlich brennen würde, doch das tat es nicht. Tatsächlich spürte ich nichts. Meine Sicht war allerdings auch nicht gerade berauschend; ich konnte gerade so meine eigenen Füße als hautfarbige Würstchen im Meer erkennen.
Keine Ahnung, ob Ben bereits Panik bekam. Ich summte leise unter Wasser und legte ein paar Pirouetten hin — dann geschah es.
Ben zog mich unsanft am Handgelenk aus dem Wasser nach oben. Dort schnappte ich erst einmal nach Luft, obwohl ich mir sicher war, dass ich es noch länger unter Wasser ausgehalten hätte.
»Hannah!«, zischte er. Seine Kiefer mahlten, was seinen Ärger unterstrich.
»Was?«, fragte ich engelsgleich. Ich strich mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Mach das nie wieder, hast du verstanden?«, fauchte er. Er zog mich am Arm zu sich, doch ich wehrte mich und schwamm weg.
»Ich wüsste nicht, seit wann ich mir von irgendwem, vor allem nicht, seit wann ich mir von einem Typen wie dir, sagen lassen sollte, was ich tun darf und was nicht. Ich bin dreiundzwanzig und kann selbst entscheiden, was ich tun kann!«, gab ich ebenso patzig zurück.
»Ach ja? Dann verhalte dich mal so!«, fauchte er.
Damit hatte er ausnahmsweise recht — die Aktion war kindisch gewesen. Nichtsdestotrotz war er ja nicht viel besser.
»Aber jemanden mit sechsundzwanzig Jahren ins Meer schubsen, das zeugt von Erwachsensein, oder wie?«, antwortete ich sarkastisch und rollte die Augen.
Dagegen konnte Ben nichts sagen und das schien er auch zu realisieren. Die Furche zwischen seinen Augen glättete sich. Er sagte gar nichts mehr, sondern schwamm einfach zu der Leiter und kletterte aus dem kalten Salzwasser. Ich tauchte noch einmal unter, um meine Haare zu nässen, ehe ich ihm folgte.
* * *
Wir verbrachten den Tag damit, uns zu sonnen, UNO zu spielen und abwechselnd ins Wasser zu hüpfen. Lisa verpasste Kian einen flotten Haarschnitt, denn er beschwerte sich, dass seine blonden Haare viel zu lang seien. Die ganze Zeit war es hier zu lang, dort zu kurz, dann passte ihm nicht, dass sie die Seiten auf zehn Millimeter machte und schließlich meinte er, er sähe aus wie Justin Bieber und das wäre eine Katastrophe. Irgendwann hielt ich sein Gezeter nicht mehr aus und wollte schon das Küchenmesser nehmen, um ihm eine Glatze verpassen, doch Lisa kam mir zuvor (zu Kians Glück). Trotzdem sah dieser jetzt nicht gerade glücklich aus, was wahrscheinlich an der misslungenen Kurzhaarfrisur lag. Zuvor reichten seine Haare ein wenig über die Ohren; jetzt konnte man gut durchfahren, ohne hängenzubleiben.
Ich hätte ja vorgeschlagen, dass Ben auch gleich zu Lisa ins Friseurstudio gehen sollte, aber ich mochte seine dunkeln, längeren Haare. Sie standen ihm gut. Er sah ein bisschen so aus wie eine magere Form von Sam Claflin und der sah heiß aus.
»In einer halben Stunde erreichen wir Vieques«, informierte mich Ben, während ich gerade in meine Sandalen schlüpfte.
»Ich dachte, wir fahren nach Puerto Rico?«, gab ich etwas begriffsstutzig zurück.
»Vieques ist eine kleine Insel neben Puerto Rico«, erklärte Ben.
»Hm«, stieß ich aus.
»Hm«, machte Ben.
»Machst du mich nach?«
»Was, wenn es so wäre?«
»Dann wärst du einfallslos und das wäre Plagiat!«, fauchte ich.
»Ach so?«, fragte Ben amüsiert.
Ich nickte. Dann tupfte ich etwas Parfum auf meinen Nacken und Hals.
»Ich hab was für dich.« Bens Stimme wurde etwas leiser, weil er offenbar nicht wollte, dass man ihn an Deck hörte.
Überrascht blickte ich auf, bemühte mich jedoch, nicht allzu neugierig auszusehen.
Ben kramte etwas aus seiner Nachttischlade heraus. Es war ein Buch.
»Ein ... Buch?«, fragte ich verwirrt. »Wofür ist das denn?«
»Zum Lesen«, half mir Ben auf die Sprünge. »Lesen kannst du ja, nicht wahr?« Prüfend sah er mich an.
Gott, nicht er auch noch. Ich rollte die Augen.
»Nein, das hab ich deinem Bruder schon erklärt. Ich bin leider eine totale Analphabetin und habe es nur bis zum Bachelor geschafft, weil ich mit jedem Professor geschlafen habe«, fauchte ich wütend.
Einen Moment lang sagte Ben nichts und legte den Kopf schief.
Ich sprang auf und schubste ihn zur Seite.
»Ben! Wehe, du stellst dir das jetzt vor!«, rief ich empört. Vor allem deswegen, weil sich in diesem Moment ein Bild von mir und meinem Professor im Bett vor die Augen schob, was ziemlich eklig war. »Natürlich kann ich lesen!«
»Jaja«, räumte Ben rasch ein.
»Also, was ist jetzt mit diesem Buch?«, fragte ich neugierig. Das Cover verriet leider nichts über den Inhalt, denn es war einfach nur rot. Ein roter Einband.
»Das Buch ... das könnte dir gefallen. Was ist Leben? von Erwin Schrödinger. Nichts Kompliziertes, auch nicht explizit mathematisch. Nur ... ich frage mich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass zwei Menschen aufeinander treffen.« Er räusperte sich.
»Naja, gar nicht so gering. Immerhin gibts acht Milliarden davon auf der Erde, kann also schon mal vorkommen, dass—«
Ben unterbrach mein Gequassel. »Hannah, ich versuche gerade romantisch zu sein und du redest irgendwas vor dich hin.« Er rollte die Augen, ich klappte die Kinnlade zu. »Also. Zwei Menschen. Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlich gibt es kein Thema der Wissenschaft, das so ... sexy ist, wie die Wahrscheinlichkeitsrechnung.«
»Mhm. Unglaublich sexy«, pflichtete ich ihm bei.
Er seufzte. »Ich bin einfach froh, dass Kian diese Beziehung arrangiert hat«, sagte er leise. »Dass ich dich kennenlernen durfte. Und jetzt frage ich mich: War das Zufall, oder war das Schicksal?«
Ich war unfähig etwas zu sagen, weil ich in diesem Moment von den Emotionen, die ich für Ben fühlte, übermannt wurde.
»Weder noch«, sagte ich schließlich leise. »Es waren du und ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«
Ben nickte. Dann legte er mir das Buch aufs Bett.
Andere Typen hätten einem Mädchen vielleicht Ohrringe oder Perlen von der Großmutter geschenkt. Aber er war nicht der Typ, der mir Ohrringe von seiner Großmutter schenkte und ich war nicht das Mädchen, das darauf wartete, von seinem Prinzen auf dem Pferd abgeholt zu werden.
Perlen waren sowieso viel zu teuer. Da musste man sein Haus, seine Ehre und auch gleich sein Erstgeborenes verkaufen. Obwohl Ben dafür sicher geeignet war, freute ich mich dann doch über ein Buch etwas mehr.
* * *
Eine Stunde später saßen wir zu sechst an einem großen Tisch in einem schicken Lokal in Vieques mit ausgezeichnetem Blick aufs Meer. Der Wellengang war erstaunlich ruhig, ein paar Möwen kreischten jedoch über uns. Wahrscheinlich lästerten sie über Gabriellas Vogelnestfrisur und überlegten, ob sie darin nisten sollten.
Gabriella blickte missbilligend in die Speisekarte, Hendrik bastelte aus Streichhäusern ein Haus und Lisa betrachtete ihre Fingernägel. Welch eine idyllische Familie.
»Weißt du schon, was du essen möchtest?«, fragte Ben leise zu mir. Er legte, wie selbstverständlich, seinen Arm auf meinen Stuhl. Dieses Mal hatte ich kein Problem damit. Es war erstaunlich, wie viel sich innerhalb einer Woche ändern konnte — Gabriellas misstrauischer Blick jedoch hatte sich nicht geändert. Sie betrachtete wie ein Adler, wie Ben und ich uns gaben.
Wir waren das perfekte Paar. Perfekt unperfekt.
»Also Hannah«, räusperte sie sich mit ihrer hochnäsig klingenden Stimme und legte die Speisekarte beiseite.
Oh, scheiße. Die ganze Aufmerksamkeit lag plötzlich auf mir — Hendriks Streichholzhaus zerfiel, Kian verschluckte sich an seiner Limo und Ben versteifte sich merklich neben mir.
»Ja?«, fragte ich heiser.
»Du und Ben. Wie ich sehe, ist eure Beziehung sehr ernst.« Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Viel eher glich es einer Grimasse.
»Ja«, nickte ich.
»Eine Beziehung baut auf verschiedenen Eigenschaften, die jeder der Partner einbringen sollte. Ehrlichkeit. Sag mir Hannah, wie stehst du zu Lügen?« Sie lächelte süffisant.
Hätte ich etwas gegessen, wäre ich in diesem Moment erstickt. Aber meine eigene Spucke tat es auch — ich verkutzte mich so stark, dass ich kräftig husten musste.
»Wie bitte?«, fragte ich rau.
»Lügen. Ehrlichkeit.« Sie legte den Kopf schief.
Konnte es sein, dass sie irgendwas wusste?
»Ehrlichkeit ist mir sehr wichtig«, beeilte ich mich zu sagen. »Ben und ich sind immer ehrlich zueinander.« Zu anderen ... da sah die Sache anders aus.
»Ach«, nickte Gabriella. Sie seufzte. »Ich verstehe immer noch nicht, Thijs, wieso du nicht mit Emma zusammen bist. Stattdessen treibst du dich mit dieser ...« Sie nickte mit dem Kinn zu mir, »herum.«
Das war der Moment, in dem ich am liebsten aufgesprungen wäre und einen filmreifen Abgang hingelegt hätte. War sich Gabriella eigentlich dessen bewusst, welche Worte sie in den Mund nahm?
Ich schluckte. Schluckte noch einmal. Aber der Kloß in meinem Hals war hartnäckig. Eindeutig nicht hydrophil.
»Sag mal«, fauchte Ben. Überrascht sah ich zu ihm. Das war das erste Mal, dass er so mit seiner Mutter sprach — in meiner Anwesenheit jedenfalls. »Was soll das? Mir ist scheißegal, was du zu meinem Beziehungsleben zu sagen hast, weil es dich genau null Komma gar nichts angeht!« Er stellte sein Glas so rasant ab, dass die Flüssigkeit über den Rand schwappte.
»Thijs, ik hou niet van deze toon!«, rief Gabriella erbost.
»Mir ist sowas von egal, was du dir verbittest und was nicht! Das ist meine Freundin! Wie kannst du in ihrer Gegenwart über Emma sprechen? Und wieso überhaupt? Willst du, dass unsere Beziehung in die Brüche geht? Ist es das, was du willst? Wieder einmal alles kaputt machen, was mir etwas bedeutet, weil du selbst unglücklich bist?« Ben sprang auf.
So in Rage hatte ich ihn noch nie erlebt. Normalerweise war er immer die Ruhe selbst — doch nicht jetzt, nicht heute.
Die Gäste am Nachbartisch warfen interessierte Blicke zu uns. Ich konnte es mir nicht nehmen lassen, ihnen eine hässliche Grimasse zuzuwerfen, woraufhin sie betreten wegsahen. Fehlte nur noch, dass ich Eintritt für dieses Kabarett verlangte.
»Ben«, warf Hendrik in diesem Moment ein, doch auch sein Vater konnte Ben nicht beschwichtigen. Er war rot vor Wut.
»Mutter, ich sage dir das jetzt ein für alle Mal: Akzeptiere Hannah, oder akzeptiere sie nicht. Sie ist meine Freundin. Mir ist scheißegal, was du davon hältst. Und weißt du wieso? Weil ich erwachsen bin und mir selbst aussuchen kann, von wem ich etwas halte. Dieser ganze Familienurlaub ...« Ben machte eine allumfassende Handbewegung. »Dieser Urlaub ist dein letzter Versuch, unsere Familie irgendwie zu retten. Aber soll ich dir einmal etwas sagen? Das wirst du nicht schaffen. Du hast unsere Familie zerstört und das schon vor Jahren. Jetzt kommst du angekrochen und willst irgendwas retten? Scherben zusammenfügen, die längst nicht mehr da sind? Sorry, aber dafür ist es zu spät. Du hast zu lange gewartet und jetzt hat jeder von uns gelernt, mit dieser Scheiße zu leben.« Er schüttelte den Kopf und schob seinen Stuhl zurück. »Komm Hannah. Wir gehen.«
Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Ausnahmsweise wollte ich auch nicht widersprechen.
Author's Note:
Nach Hause telefonieren ist ein berühmtes Filmzitat aus »E.T.«. In diesem Film geht es um einen Außerirdischen.
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