Kapitel 27 - Wein muss sein
Der Regen klang nach und nach ab.
Wir standen zu viert unter einem Aludach. Wären in diesem Moment Aliens auf der Erde gelandet und hätten meine schlimmsten Alpträume aus The 100 wahr werden lassen, wären wir auf jeden Fall sicher gewesen, denn das Aludach glich regelrecht einem Backblech. Wir stellten abwechselnd fachmännische Überlegungen an, wann der Regen wohl aufhören würde und wo wir überhaupt lang mussten.
Die geografische Kenntnis hatte wohl nicht nur mich verlassen, denn für mich sah es hier überall gleich aus: Steppe, Strand, Meer und winzige Häuschen, die aussahen, als würden sie den nächsten Sturm nicht überleben. Aber irgendwie hatten sie wohl schon einige Stürme überlebt.
Durch den plötzlichen Sommerschauer hatte sich die Sicht etwas zugezogen. Die Sonne war verschwunden — zurück blieb ein trister, grauer Himmel, der in all seinen Schattierungen und Nuancen nur von Bob Ross' Malkünsten hätte übertroffen werden können.
»Wir sollten uns langsam auf den Weg machen«, räumte Ben ein, während er die flache Hand unter dem Aludach hervorstreckte und somit fühlte, wie stark der Regen war. Ganz offensichtlich fiel das Tröpfeln für ihn in die Sparte ›Unangenehm, kann man aber überleben‹, denn kurz darauf verließ er unseren sicheren Unterschlupf und stellte sich ins Freie.
»Ach ja? Hast du jetzt auch schon einen Master in Meteorologie oder was?«, pflaumte Kian seinen Bruder an. Seine schlechte Laune stand ihm ins Gesicht geschrieben und zähmte offensichtlich seine Zunge auch nicht.
»Nein, aber ich habe einen IQ von über hundert. Jeder normale Mensch kann starken und schwachen Regen unterscheiden. Außer natürlich, du verfügst über eine taktile Störung. Wobei diese Dysfunktion bei dir wahrscheinlich nicht die Einzige wäre.« Ben warf Kian einen Blick zu.
Kian verdrehte die Augen. »Besserwisser«, fluchte er dann vor sich hin. »Je denkt echt dat je alles weet.«
Jetzt wechselten sie wieder ins Niederländische, aber aus dem Kontext heraus konnte ich mir so ungefähr vorstellen, was Kians Worte wohl hießen — irgendwas nach dem Motto: Du glaubst auch wirklich, dass du alles weißt.
»Leute«, funkte ich dazwischen. »Mit Streiten kommen wir auch nicht weiter!«
Wenn ich eins nicht leiden konnte, dann war es Streit — Streit zwischen zwei Menschen, die ich gerne hatte.
Ich selbst konnte streiten bis zum Umfallen — wobei ich die Bezeichnung lebhaft diskutieren eindeutig präferierte — aber wenn sich zwei Menschen, die ich beide gerne mochte, stritten, mutierte ich zu einem emotionalen Wrack. Dann konnte ich wirklich jede Art des Heulens imitieren, meistens jedoch traf ich intuitiv Reese Witherspoons Tonlage in Natürlich Blond.
»Sie hat recht.« Ben nickte. »Lasst uns zurückgehen.«
Ein Teil von mir war ein bisschen traurig, weil ich gerne noch mit Ben in eine Bar gegangen wäre, um etwas zu trinken, aber ein viel größerer Teil von mir freute sich einfach nur darauf, zu duschen und dann die Beine hochzulegen und einfach zu schlafen.
Der ganze Tag hatte mich so müde gemacht, dass meine Beine mit jedem Schritt schwerer wurden. Die imaginierten Bleiquader an meinen Fußsohlen zogen mich auf den Boden zurück — ich hätte wirklich nicht gedacht, dass Gehen so schwierig war.
Wir setzten uns schließlich in Bewegung, als es nur noch leicht tröpfelte. Der Wahnsinnsschauer, der kurz zuvor auf die Erde niedergegangen war, war nicht ohne Rückstände von Dannen gezogen: Am durch Risse unterbrochenen Asphalt hatten sich Lacken gebildet, außerdem tropfte es von den Sträuchern und Dächern im Kanon.
»Wisst ihr, was das erste ist, das ich mache, wenn wir zurück auf der Yacht sind?«, fragte Kian euphorisch, während er sich seinen Hut tiefer in die Stirn zog, um nicht nass zu werden.
»Stress-Scheißen?«, seufzte Ben.
Ich kicherte leise — aber es glich eher einem Glucksen, weil ich es versuchte, zurückzuhalten. Am Ende klang ich wie ein sterbender Pinguin, da war ich mir sehr sicher, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, wie sterbende Pinguine klangen.
Kian legte den Kopf schief. Dann zuckte er mit den Schultern. »Hm. Das auch. Aber zuerst mache ich mir einen Kakao. Wollt ihr auch einen?«
»Essen, trinken, über Bord werfen?«, fragte Ben mit hochgezogener Braue.
»An die Clownfische verfüttern, von denen du anscheinend wieder Mal genascht hast, so lustig wie du bist«, fauchte Kian.
Hach, da erinnerte ich mich doch glatt wieder an die Zeit mit Liz, als ich noch zuhause gewohnt hatte. Liz, meine kleine Schwester. Ein Sturkopf — noch schlimmer als ich. Bevor ich jedoch noch sentimental werden konnte oder ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich auf ihre Einladung zur Maturafeier letztes Jahr nicht reagiert hatte, zwang ich mich, nicht länger darüber nachzudenken. Jetzt, wo sie in den USA lebte, konnte ich die Beziehung sowieso nicht mehr retten.
Liz' und unsere Bindung als Schwestern konnte man nicht in irgendeine Schublade mit Konzertkarten, Fotoalben und verheulten Tagebucheinträgen stecken. Nein, Liz und ich waren durch so viel Scheiße gemeinsam gegangen, und immer war sie die Stärkere gewesen, obwohl sie doch immer so klein war, so jung.
Ich war doch die ältere Schwester, und doch war ich diejenige, die aufgegeben hatte. Vielleicht, um sie zu beschützen.
Denke jetzt nicht daran.
»Die Wahrscheinlichkeit, in diesen Gewässern einen Clownfisch zu finden, ist Limes gegen null.« Ben sah auf die Uhr. »Oh, schon kurz vor acht Uhr ...«
»Limes? Ist das nicht ein Grenzwall oder so?«, fragte Kian. Nun musste ich mich wirklich zusammenreißen.
»Genau«, nickte Ben. »Und mit der Länge des Grenzwalles kannst du Integrale berechnen.«
Hätte ich nur halbwegs ein Verständnis für Mathe, hätte ich jetzt wahrscheinlich die Mordsgaudi gehabt.
Kian zog die Brauen zusammen. »Klootzak«, knurrte er schlecht gelaunt.
»Oh, das habe ich schon gelernt!«, rief ich dazwischen. Ich war wirklich glücklich, mir etwas von dieser komischen Sprache gemerkt zu haben.
Es klang ein bisschen so, als würde ein besoffener Wiener versuchen, zu sprechen, aber kläglich versagen. Als würden ihm die Worte, während er sie aussprach, einfach von der Zunge entwischen. Runterrollen, aus dem Mund raus purzeln, einfach weg.
»Ach ja?«, fragte Ben überrascht und legte den Kopf schief.
Ich nickte. »Klar, Arschloch.«
Er sah mich komisch an. »Warum beleidigst du mich?«
Ich klatschte mir mit der flachen Hand an die Stirn. Dafür, dass der Typ verdammt schlau war, war er manchmal verdammt dumm.
»Ich sagte Arschloch, weil klootzak Arschloch heißt.«
Ben brummte erkenntlich. »Wer von uns beiden ist hier Niederländer?«
* * *
Eine gute Viertelstunde später erreichten wir die Vredesduif, die Yacht, und retteten uns in ihr schützendes Inneres. Nach wie vor tröpfelte es, sodass ich fröstelte. Meine Kleidung klebte an meinem Leib — eventuell erwischte ich Ben dabei, wie er einen Moment zu lange auf meine Oberweite starrte — und ich konnte es kaum erwarten, unter die heiße Dusche zu steigen.
»Darf ich zuerst duschen?«, fragte ich Ben, als wir in unserem Zimmer ankamen. Die Schuhe hatten wir schon oben am Deck abgestellt, um nichts dreckig zu machen. Ich musste ein Zittern unterdrücken, um ein Haar hätten meine Zähne munter losgeklappert.
Er nickte. »Klar.«
Zufrieden ging ich zu meinem Kleiderschrank und holte eine Jogginghose (die wollte Delia eigentlich zuhause lassen, aber wie sagte man so schön? Ohne meine Jogginghose geh ich nicht zum Militär ... oder so.) und ein T-Shirt heraus und wollte mich gerade auf den Weg ins Mikrobadezimmer machen, als mir etwas einfiel.
Mein Blick fiel auf mein T-Shirt.
Dann fiel er auf den Stapel mit Bens T-Shirts.
Sie waren allesamt ordentlich gefaltet und zusammengelegt, gebügelt und gepflegt.
»Ähm ...«, druckste ich schüchtern herum. Ich räusperte mich. Ben sah von seiner Zeitschrift auf und warf mir einen fragenden Blick zu.
»Ähm ...« Erneutes Räuspern meinerseits.
»Ja?« Er lehnte sich nach vorne und legte die Zeitung kurz weg. Seine Stimme war rau. War mir eigentlich schon früher aufgefallen, wie verdammt gut er mit seinem Dreitagebart aussah? Scheiße man.
»Sag mal ... dürfte ich vielleicht ... also ... ein T-Shirt von dir ... ausborgen?« Ich merkte förmlich, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Meine Wangen wurden heiß.
Auf Bens Gesicht erschien ein Schmunzeln, das seine Mundwinkel hob und die Grübchen, die ich so mochte, auf seinen Wangen hervorkommen ließ.
»Klar«, sagte er schließlich. »Was habt ihr Mädchen mit Jungsklamotten?«
»Sie sind bequem!«, beharrte ich.
Das war natürlich nur die magere Cover-Story. Sein T-Shirt roch nach ihm, obwohl es frisch gewaschen war. Nach Ben und nach Waschmittel roch es, und ich mochte diesen Geruch. Ich mochte die Nähe. Manchmal sehnte ich mich danach, Bens Herzschlag zu spüren. Einfach nur, weil mir diese Muskelkontraktion versicherte: Das hier ist echt.
Das hier war ein Abenteuer, das ich wahrscheinlich nie wieder in meinem Leben erleben würde. Ben war ein Abenteuer. Und ich war bereit, mich auf dieses Abenteuer einzulassen — ohne zu wissen, wohin es mich führte.
Ben war allerdings durchaus zuzutrauen, dass er seine Shirts so lange im Schleudergang der Waschmaschine wie Schnitzeln durchklopfen ließ, bis sie nur noch nach Hygienespüler und Waschmittel dufteten. Und trotzdem gehörte dieser eigene Waschmittelgeruch irgendwie zu Bens Geruchsensemble.
Deine Gedanken sind so verrückt, Hannah.
»Ist das Rote genehm?«, holte Ben mich zurück in die Realität. Ich umrundete das Bett, pflanzte mich neben ihn und warf einen kritischen Blick über seine Schulter.
Na gut. Machen wir uns nichts vor. Ich hätte zu jedem T-Shirt ja gesagt. War doch piepegal, welche Farbe es hatte. Hauptsache, es stammte von Ben.
»Mhm«, machte ich zustimmend. Ben nahm das oberste T-Shirt aus dem Schrank und reichte es mir.
»Aber nichts kaputt machen«, sagte er warnend. Ich verdrehte die Augen, während ich mich umdrehte und mitsamt meines Kleiderberges im Bad verschwand.
Nichts kaputt machen. Das hätte ich ihm vor dieser Reise sagen sollen.
* * *
Gute zehn Minuten später kam ich, flankiert von einer Wasserdampfwolke, aus dem winzigen Badezimmer heraus. Ich hatte meinen Körper einer grundlegenden Reinigung unterzogen, meine Beine von ihrem Stacheldraht-Dasein befreit und Conditioner in mein Haar einmassiert. Sogar die Augenbrauen hatte ich mir gezupft – und dabei war mir etwas Komisches aufgefallen.
Die eine Augenbraue war viel kleiner und unförmiger als die andere. Ich wusste, dass Augenbrauen Schwestern waren, und nicht Zwillinge, aber bei mir sah das nicht einmal mehr nach einer Cousine aus. Eher wie eine Stiefschwester zweiten Grades.
Ich trug nur Bens T-Shirt und eine kurze Hose, die allerdings kaum sichtbar war, weil sie überdeckt wurde. Als ich mein dreckiges Gewand im Koffer verschwinden ließ, spürte ich Bens Blick auf mir.
»Ist irgendwas?«, fragte ich, denn als ich mich umdrehte, sah er mich immer noch an.
Er schüttelte den Kopf. Dann legte er die Zeitung zur Seite und stand auf. Ohne ein Wort zu sagen, ging er schnurstracks auf mich zu — und nahm mein Gesicht in seine Hände. Ben küsste mich — sanft, aber gleichzeitig bestimmend.
Ich war ziemlich überrascht, zumal ich nicht gedacht hätte, dass eine solche Geste von ihm aus gehen würde. Aber offensichtlich hatte ich mich getäuscht.
»Wofür ... wofür war das denn?«, fragte ich leise, ein bisschen außer Atem, als wir uns wieder voneinander lösten.
Ben lachte heiser. Leise. »Einfach so. Du siehst süß in meinem T-Shirt aus.«
»Ach so?«, fragte ich mit schief gelegtem Kopf.
Er nickte. Die Grübchen auf seinen Wangen gruben tiefe Kerben in die Haut. Glückskerben. Seine Pupillen waren geweitet — ich war mir nicht sicher, ob nur das fahle Licht daran schuld war.
»Findest du nicht auch, dass meine Augenbraue komisch aussieht?« Ich wechselte ganz nonchalant das Thema (zumindest hoffte ich, dass es so rüberkam, denn in Sachen Themenwechsel waren sowohl Ben, als auch ich keine wahre Koryphäe), und ging sicherheitshalber ein bisschen auf Abstand. Wer weiß, ansonsten hätte ich vielleicht wirklich noch Gebrauch von dem Kondom, das Delia spaßeshalber in den Koffer geworfen hatte, machen müssen.
»Welche?« Er lehnte sich vor. Im Ernst? Na, die, die hässlich ist!
»Na, die rechte!«
»Also, ich sehe da keinen Unterschied.«
Ich rollte die Augen und sah mich wieder im Spiegel an. »Doch! Sie sieht komisch aus! Deswegen ist die linke meine Lieblingsaugenbraue.«
»Deine bitte was?«
»Lieblingsaugenbraue. Jeder hat eine Lieblingsaugenbraue.«
Er zog die Brauen hoch. »Ich habe mir noch nie Gedanken zu meinen Augenbrauen gemacht.«
»Tja, ich schon. Und die rechte ist doof.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ist doch wurscht. Sieht eh keiner.«
Etwas später kam Ben wieder aus dem Badezimmer, zog sich an, legte sich der Länge nach auf das Bett und streckte die Gliedmaßen von sich. »Übrigens ... ich habe noch einmal über die Sache mit der offenen Beziehung nachgedacht. Wir haben ja letztens darüber geredet.«
Nun war ich es, die ihre Lieblingsaugenbraue hochzog. »Ach ja?«
Ben nickte. »Es ist doch scheißegal, wen ich küsse, solange ich die eine Person liebe.«
Ich seufzte. »Ben, es ist nicht so einfach. Es kommt immer darauf an, wie viel dir ein Kuss wert ist.«
»Ein Kuss hat nur einen Wert, wenn die Person einen Wert für mich hat.«
Das ging direkt ins Herz. Ich schluckte, bevor ich antwortete.
Gerne hätte ich jetzt einen auf Danny Glover in Lethal Weapon gemacht und »I'm gettin' too old for this shit« gestöhnt, aber ich ließ mich auf die Diskussion ein.
»Stimmt. Aber ... Trotzdem.«
»Aber, trotzdem, was?«
»Trotzdem finde ich offene Beziehungen nicht gut.« Ich seufzte und verteilte etwas After Sun auf meinen Wangen, weil mich die Sonne heute ziemlich erwischt hatte.
Ben, dessen Haare noch feucht vom Duschen waren, tauchte neben mir im Spiegelbild auf. Er hockte auf den Füßen, während ich im Schneidersitz vor dem Wandspiegel saß. Selbst jetzt überragte er mich um ein paar Zentimeter.
»Der Mensch ist nicht dazu ausgerichtet, nur einen Partner zu haben«, sagte er, während seine Augen im Spiegelbild nach meinen suchten.
Ich zog die Brauen zusammen. »Was soll das bitte heißen? Dann bitte, probier alle Mädels dieser Welt durch, klootzak!«
Himmel, jetzt begann ich auch schon auf Niederländisch zu schimpfen ...
»So meinte ich das nicht«, versuchte Ben zurückzurudern. Er seufzte und fuhr sich durch die Haare. »Ich meine nur ... Ich glaube nicht an diese eine Liebe.«
»Schön«, knurrte ich schnippisch. Keine Ahnung, wieso ich jetzt so reagierte, aber zu meiner Verteidigung sollte ich in den nächsten Tagen meine monatliche Schlachthausshow abziehen, also war diese Hormonschwankung gerechtfertigt, wie ich einstimmig beschloss.
»Warum bist du jetzt wieder genervt?«, fragte Ben und rollte die Augen.
»Vielleicht deswegen, weil ich drauf und dran bin, meine Prinzipien für dich über Bord zu werfen! Du kannst mir wohl kaum erklären, dass da nichts zwischen uns ist! Ich merke selbst, dass ich mehr als nur Abneigung für dich empfinde, und du redest irgendwas von ›Ich glaube nicht an die große Liebe‹ daher und gibst mir praktisch indirekt einen Korb!«, rief ich. Der Plan sah nie vor, so ehrlich zu sein, aber jetzt wars immerhin raus.
»Bitte was?«, fragte Ben mit schiefgelegtem Kopf.
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. »Egal.«
Mit diesen Worten ließ ich Ben alleine im Zimmer stehen. Ich hatte das Gefühl, dass ich rausmusste — einfach mal alleine sein. Zumindest nicht mit Ben, denn es war verdammt schwer, sich selbst zu erklären, wofür man selbst keine Worte hatte.
Zuflucht fand ich überraschenderweise an Deck, denn ich sah, dass jemand in der Essnische hinten am Yachtende saß. Kerzenlicht flackerte im Dunklen der Nacht. Erst beim Näherkommen erkannte ich, dass es Hendrik und Lisa waren.
Sie redeten leise, gedämpft, und natürlich auf Niederländisch, sodass ich nichts verstand. Hendrik jedoch sah meinen Schatten und rief erfreut: »Oh, hallo, was führt dich denn noch heraus?«
Ich seufzte trostlos. »Ich brauche Alkohol und habe leider vergessen, meinen Flachmann mitzunehmen.« Das war immerhin die Wahrheit. Früher hatte ich nie kapiert, was die Menschen an Alkohol so toll fanden. Mittlerweile sah die Situation etwas anders aus.
»Dann bist du bei uns genau richtig, wir haben gerade eine Flasche Côte de Provence geköpft. Schlückchen?« Hendrik klang wie immer sehr freundlich, beinahe väterlich.
Ich nickte erleichtert und ließ mich neben Lisa auf die gepolsterte Bank fallen. Hendrik befüllte ein drittes Glas randvoll mit Wein — offenbar sah man mir die Verzweiflung an.
»Was liegt dir am Herzen, Sternchen?«, fragte Hendrik mit einem lieben Lächeln.
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. »Ach, es ist nichts ... Ich will euch nicht stören ... Redet ruhig weiter, ich muss sowieso ein bisschen nachdenken ...«
»Drückt es dir am Herzen? Ist etwas mit Thi—, ähm, Ben?«, hakte Hendrik ungeachtet meiner Worte nach.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ein Duell der Giganten, Kopf gegen Herz. Und wer steckt die Verluste ein? Richtig, die Leber.«
Hendrik lachte leise. »Wieso bist du so witzig?«, fragte er kopfschüttelnd und nippte am Weinglas.
»Weil mein Leben ein Witz ist«, murmelte ich. Das war ausnahmsweise mal kein Witz, sondern die Wahrheit, die genauso bittersüß schmeckte, wie dieser Rosé.
»Sag so etwas nicht. Das stimmt doch gar nicht. Du bist mit Ben zusammen, ich habe ihn lange nicht mehr so ... glücklich gesehen, wie in den letzten Tagen.«
Gott, der Gipfel meiner Schuldgefühle war wohl in diesem Moment erreicht. Dachte Hendrik wirklich, dass Ben glücklich war? Wenn ja, dann kannte er seinen Erstgeborenen wohl nicht gerade gut. Oder war doch etwas dran?
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich ... Es ...«
Einen Moment lang schoss mir ein ziemlich hirnrissiger Gedanke durch den Kopf. Am liebsten hätte ich noch heute reinen Tisch gemacht. Erzählt, was hier ablief; wie Ben und ich uns wirklich kennengelernt hatten — und vor allem: Wann.
Doch in der nächsten Sekunde biss ich mir auf die Zunge. War ich eigentlich völlig verrückt? Ich würde garantiert nichts sagen. Zumindest nicht jetzt. Nach dem Urlaub, vielleicht.
Immerhin waren da immer noch die zehntausend Kröten, für die ich hier war.
Ach ja. Und Ben. Den gab es auch noch. Aber wenn sich unsere Wege nach diesem Urlaub trennen würden (was ich nicht hoffte, aus irgendeinem Grund), dann hoffte ich wenigstens, mit den zehntausend Euro glücklich zu werden. Auch wenn die garantiert nicht so gut küssen konnten, dufteten oder zum Streiten geeignet waren.
»Hannah. Ich weiß, dass es in eurer Beziehung nicht immer einfach ist. Aber sieh die Sache einmal so: Es gibt wenige Menschen, die mit Ben so gut umgehen können und harmonieren, wie du.« Hendrik lächelte freundlich. Harmonieren? Dass ich nicht lachte ...
»Ich glaube, er mag dich wirklich sehr. Er weiß vielleicht nicht, was er will, aber er würde es sehr bereuen, wenn du nicht mehr da wärst.«
Erstaunlich, wie wahr diese Worte waren.
»Du hast wohl recht«, murmelte ich leise. Ich nahm einen großen Schluck des alkoholischen Getränks, in der Hoffnung, meine lauten Gedanken eindämmen zu können.
»Ich weiß. Ich habe immer recht.« Hendrik grinste verschmitzt.
Aha. Jetzt wusste ich auch, woher Ben dieses Gen hatte.
»Übrigens werden wir morgen in Puerto Rico anlegen und abends schön essen. Nach dem ganzen Futter von der Crew ...« Hendrik beugte sich vor und flüsterte leise: »Ich finde das Essen hier schrecklich! Gabriella war entzückt, weil ich so dünn das letzte Mal bei unserer Hochzeit war ...« Er schüttelte den Kopf. Ich hielt es für sehr unwahrscheinlich, dass er innerhalb der letzten Woche etwas abgenommen hatte, kommentierte es aber nicht. Stattdessen entschuldigte ich mich mit dem Glas und beschloss, ein wenig alleine auf der anderen Seite des Decks die Nachtruhe und das Wellengeräusch zu genießen.
Kurz fragte ich mich, ob Ben sich wohl neben mich setzen würde. In jedem romantischen Kitschfilm sah man das schließlich. Doch ich blieb alleine, Ben kam nicht zu mir. So war das eben, doch ich war keine Julia Roberts in Notting Hill, die auf einen Jungen stand, und ihn bat, sie zu lieben — ich war Hannah Jäger und ich würde Ben um gar nichts bitten.
Und deswegen blieb ich alleine sitzen. Ben war halt auch kein William Thacker. Ich war keine Julia Roberts. Und das war nicht Notting Hill. Das war nur die komplizierte Geschichte eines Mädchens, das auf einen Jungen stand, und ihn niemals bitten würde, es zu lieben.
Besser so, sonst wären wir wohl noch auf einen Eisblock zugesteuert.
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