Kapitel 24 - Der erste Kuss

Der Hafen von Saint Martin war genauso traumhaft wie der Name der Stadt.

Saint. Ich meine, wenn man einen heiligen Ort besuchte – und dann auch noch einen, dessen Heilig-Sein auf Französisch zelebriert wurde – dann bekam man schon manchmal ein Flattern in der Magengegend oder weiche Knie, die jedenfalls kein standhaftes Fundament für die fünfundsechzig Kilo goldwerte Person, die ich nun mal war, darboten.

Vielleicht sprachen hier ja einige Bewohner Französisch – dann konnte ich Gabriella endlich einmal unter die Nase reiben, dass ich sehr wohl etwas im Kasten hatte. Für mein Studium war es nämlich verpflichtend, eine zweite Fremdsprache neben Englisch zu beherrschen. Da ich seit meiner Kindheit in diversen Französischkursen und -klassen gewesen war – die Volksschule hatte ich sogar im Lycée français de Vienne absolviert – beherrschte ich die Sprache.

»Bist du aufgeregt?«, fragte mich Ben, weil ich in eine Schnappatmung verfallen war und jetzt wie ein kleiner Chihuahua neben ihm hechelte.

Chihuahua? Ja, ich wäre vermutlich wirklich so ein kleiner Kläffer, der eigentlich mit einem Fußkick aus dem Weg befördert werden könnte, aber durch sein Gebell selbst einem Schäferhund Angst einjagte.

Und Ben? Mit seinen türkisen Augen wäre er wahrscheinlich ein Husky. Oder vielleicht doch der eingeschüchterte Schäferhund?

Kian wäre ein Dackel. Da gab es für mich gar keinen Zweifel.

»Wieso sollte ich aufgeregt sein?«, fragte ich eine Spur zu selbstsicher. Ich warf die Haare aus dem Gesicht zurück in den Nacken. »Solange im Essen keine Milch ist und mein Darm nicht einen auf TNT macht, gibt es keinen Grund, aufgeregt zu sein.«

Ben zog eine Braue hoch. »Ich kenne da wen, der etwas anderes behaupten würde.«

»Ach ja?«, fragte ich erstaunt. »Wen denn?«

»Dein Myokard

»Mein was?«

»Dein Herz.«

»Ach so, du musst wieder mit Fremdworten angeben.« Ich legte den Kopf schief. »Ja, das macht meistens irgendwas und nicht das, was mein Kopf will.«

»Dann bist du wohl ein Kopfmensch«, nickte Ben.

»Seh ich etwa aus, als wäre ich völlig bescheuert? Wer auf sein Herz hört, hat sein Leben wirklich nicht im Griff. Das da«, ich deutete auf mein Gehirn, »ist wichtiger. Zwar braucht man beides zum leben, aber nur eines davon kann bestimmen, was es tun will.«

»Aha. Man braucht jedes Organ zum Leben — außer bei den Nieren, da braucht man nur eine.«

»Du bist doch selber ein Kopfmensch, jetzt schau nicht so blöd«, murrte ich in seine Richtung. Die Poolboys lenkten die Yacht gerade in ihren Parkplatz — ein äußerst kritisches Unterfangen. Ich sah uns bereits zwischen gammelnden Oktopoden und Bierdosen im Meer um unser Leben strampeln – der Titanic-Moment schlechthin.

Besser hätte man es nicht inszenieren können, wirklich nicht.

Jedes Mal, wenn im unmittelbaren Radius des Schiffes ein anderes Boot auftauchte, musste ich wegschauen, weil ich sonst Angst hatte, dass wir einen Auffahrunfall herbeiführten. Mit dem Boot.

Sachen gab's.

»Klar bin ich ein Kopfmensch. Die Ratio ist das Einzige, was uns am Leben hält. Wer etwas anderes behauptet, redet Unsinn. Aber ... Ich finde die Vorstellung davon, dass das Herz unbewusst uns mitteilt, was gut und was schlecht ist, irgendwie ... romantisch.« Es war Ben sichtlich unangenehm, dieses Wort — romantisch — auszusprechen. Tatsächlich hätte ich nie gedacht, dass Ben ein Romantiker war. Vorhin dieses ganze Gerede über offene Beziehungen hatte mich in meinem Glauben nur bestätigt und bekräftigt. Und jetzt redete er irgendwas über Romantik? Der kann sich auch nicht entscheiden.

Vielleicht schaute ich deswegen so als würde er mir gerade verkaufen wollen, dass zwei mal drei nicht sechs sei. Herzlich willkommen bei Pippi Langstrumpf.

»Äh ...«, stieß ich deswegen etwas überrascht aus. »Wusstest du, dass das Herz ein eigenes Erregerzentrum hat?«

Wenn er mit Fakten trumpfen konnte, dann konnte ich das auch. Wenn ich nervös war, tendierte ich ohnehin dazu, wissenschaftliche Fakten, die ich irgendwann irgendwo in irgendwelchen Dokus aufgeschnappt hatte — wenn ich mich ärgerte, weil ich bei Homescapes schon wieder versagt hatte — zum Besten zu geben. Meistens redete ich mich in einen unsinnigen Strudel.

Eigentlich war es ja kein Unsinn, bloß synthetisierte ich damit einer sehr, sehr komische Konversation. Passte ja eigentlich zu Ben und mir, die dafür bezahlt wurde, mich als die Freundin eines menschenfeindlichen Kerls auszugeben. Es war schließlich alles nur eine Frage des Preises.

Und jetzt? Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher, was ich wirklich hier tat.

Auf jeden Fall machte es mich nervös, wenn er so nahe bei mir stand und ich sein Parfum riechen konnte. Eine herbe Note, aber genau so, dass man in seinem Umkreis häufiger schnuppern wollte.

Eventuell tat ich genau das, weshalb mir Ben einen merkwürdigen Blick zuwarf.

»Da war was«, beeilte ich mich zu sagen.

»Und darum hast du so geschnuppert?« Er sah nicht besonders überzeugt aus.

Ich nickte heftig. »Ganz genau.«

»Na gut. Soll mir recht sein. Wenn du schon so Spannendes über das Herz redest — wusstest du, dass das Herz drei eigene Erregerzentren hat? Also kann es zweimal versagen und noch immer funktionieren! Wenn man das Herz aus dem Körper nimmt, schlägt es von selbst noch immer! Unglaublich, oder? Unglaublich, was das Herz kann.«

Ben sah mich an. In seinen Augen lag irgendwas, das ich nicht deuten konnte. War das tiefe Verzweiflung? War das pure Lust? Oder war das zu viel Rotwein zu Mittag?

Mir wurde flau im Magen.

Oder ... flirtete er gerade mit mir?

Ich riss die Augen auf. In diesem Moment wurde mir nämlich einiges klar.

Erstens, meine schwitzigen Hände und die weichen Knie lagen vielleicht nicht nur an der Hitze, die die Sonne verbreitete.

Zweitens, es gab einen Grund, warum mein Herz Blut durch meine Arterien pumpte, als gäbe es kein Morgen. Natürlich gab es einen Grund.

Und drittens: Ben flirtete mit mir und mein Körper ging voll darauf ein. Mein Körper — ich ging voll drauf ein.

Das konnte nur eines heißen. Ich mochte Ben. Mehr als ich vielleicht sollte, mehr als Arbeitskollegen sich mochten. Mehr als man es auf einer Geschäftsreise sollte.

Konnte es sein, dass mir dieser komische Kauz mehr ans Herz wuchs, als ich es zugeben wollte? Denn obwohl ich ihn manchmal gerne auf den Mond schießen würde, obwohl ich sein ständiges Gerede manchmal nervig fand, ... Ich konnte mich von Tag zu Tag weniger an die Zeit ohne ihn erinnern.

Und ich wollte nicht an die Zeit denken, die nach dieser Reise kommen würde.

Denn dann würden wir wieder Hannah Jäger und Benjamin Van Hagen sein, zwei Studierende, die eigentlich nichts miteinander zutun hatten und definitiv nicht zusammen waren. Ich, an der WU, er, am Juridicum. Zwei Bezirke, zwei Unis, zwei Leben, zwei Realitäten — die nichts miteinander zutun hatten.

Nur ... ich war mir sicher, dass ich das nicht wollte.

Ich wollte nicht einfach in eineinhalb Wochen zurück in meine Wohnung kehren und eine triste, kleine Behausung vorfinden. Ohne Ben. Nein, ich wollte es nicht. Ich wollte, dass er ein Teil meines Lebens blieb. Als wer oder was, das wusste ich nicht.

Aber für mich stand eines fest: Wenn ich nicht aufpasste, dann könnte es passieren, dass ich wirklich noch Gefühle für Ben entwickelte. So skurril es klang; so wenig ich es erwartet hätte. Ich meine — wenn man sich Ben ansah, dann würde man nie denken, dass er irgendeine Freundin hätte oder es überhaupt schaffte, zu flirten.

Und dann? Dann sah er einen mit diesem durchdringenden Blick an, der mir durch Mark und Bein ging. Dieses Band, dieses Gummiband, das zu Anfang schlaff zwischen uns hing und uns irgendwie miteinander verband, begann sich zu spannen. Mehr und mehr.

Die Frage war nur: Würde es reißen, oder würden wir rechtzeitig einen Schritt aufeinander zumachen, um das Band heil zu wahren?

»Hast du gerade einen Schlaganfall?«, riss mich Bens Stimme aus den Gedanken.

»Hm?«, machte ich reichlich verspätet.

»Du hast mich angeschaut — für geschlagene drei Minuten und einfach nichts gesagt. Ich dachte mir, dass du vielleicht einen Schlaganfall hättest.« Er zuckte mit den Schultern.

Gerade, als ich zu einer Antwort ansetzen wollte, ertönte das klassische Horn, das der Kapitän immer betätigte, wenn das Boot zum Stillstand kam. Ich warf einen Blick um uns herum.

Wir standen sicher im Hafen von Saint Martin. Überall hatte man kleine, höchstens einstöckige Häuser mit lustigen Dächern hingebaut.

Die Ähnlichkeit zu den Niederlanden (immerhin war es eine niederländisch-französische Insel) war unglaublich. Auf dem schmalen Küstenstreifen, der durch eine Asphaltstraße befahrbar gemacht wurde, tummelten sich bereits Touristen und Einheimische, die mit ihren winzigen Moped-Autos, die eher an den Prater erinnerten, herumfuhren.

»Wow«, murmelte ich. Aus der Nähe betrachtet waren die kleinen Restaurants mit den verspielten Lichterketten und den efeubewucherten Fassaden noch viel schöner, als ich es am offenen Meer angenommen hatte.

Ben nickte. »Ziemlich schön.« Dann entfernte er sich von mir und ging zu seiner Mutter, die bereits dabei war, die wackelige Treppe hinunterzuklettern. Dass sie sich das in dem Alter noch zutraute, war wirklich verwunderlich.

Andererseits ... Der Gedanke daran, dass sie ausrutschte und zwischen Müll und Seetang im ekeligen Hafenwasser landete, befriedigte meinen Humor auf eine seltsame Art, die wohl für Normalsterbliche nicht gesund war.

»Kommst du?«, rief Kian mir zu.

»Sie braucht eine Extraeinladung«, antwortete Ben.

Ich rollte die Augen. »Ich bin schon auf dem Weg«, antwortete ich und schlenderte zu ihnen hinüber. Kian war bereits an Land, Gabriella erreichte soeben die letzte Stufe und Ben machte sich daran, ebenso auf die Straße zu kraxeln.

Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wurde mir kurz schwindelig. Ich war es gar nicht mehr gewohnt, dass es unter mir nicht mehr so beruhigend schaukelte, sondern der Asphalt sich hart und fest in meine Sohlen bohrte. Vielleicht waren die Sandalen nicht die beste Idee gewesen, aber hinterher war man bekanntlich immer schlauer.

»Wohin gehen wir?«, fragte Kian an seine Eltern gewandt. Hendrik war wie immer die Ruhe in Person, während Gabriellas Gesicht von Tag zu Tag mürrischer wurde. Noch ein paar Tage warten, und die Zornesfalten über ihren Augen veranlassten, dass die Schlupflider sie erblinden ließen.

»Zur Hölle«, sagten Ben und ich gleichzeitig. Ich sah ihn an. Er sah mich an. Kian lachte. Vielleicht dachten Ben und ich doch ähnlicher, als ich dachte.

»Naja, vielleicht können wir am Weg dorthin noch einen Zwischenstopp bei einer Pizzeria einlegen«, wandte Ben ein. Er hielt mir die Hand ein.

Ich schlug ein.

Ben und Kian sahen mich mit einem undefinierbaren Blick an, Gabriella zog eine Braue hoch und Hendrik kicherte hinter vorgehaltener Hand.

»Ich habe dir die Hand hingehalten, damit du sie nimmst«, sagte Ben ganz leise, sodass nur ich es hörte.

Mir stieg die Hitze in die Wangen. Wahrscheinlich war ich nun genauso rot wie meine Culotte.

»Oh.« Peinlich berührt legte ich meine Hand in seine. Seine Haut war ganz warm und weich. Zwar verschränkten wir unsere Finger nicht, aber allein die Geste veranlasste, dass mein Herz einige Takte schneller schlug. Hoffentlich überarbeitete es sich nicht — sonst wäre Ben vielleicht noch an meinem Tod, einem Infarkt, schuld.

»Gut gemacht«, lobte er mich grinsend.

»Bekomme ich jetzt ein Leckerli?«, fragte ich augenrollend.

Ben befeuchtete seine Lippen, weshalb mein Blick automatisch zu ihnen gelenkt wurde. Schmal und hell, aber trotzdem sahen sie weich aus.

Wie es wohl wäre, ihn zu küssen?

Also, so richtig, ohne dabei zu denken, es wäre Show?

Nein, nein, nein. So durfte das nicht weitergehen. Ben und ich waren zwar zusammen, aber ... ich durfte nichts für ihn empfinden. Nach dieser Reise wäre es so und so vorbei.

»Dann lasst uns mal losgehen, bevor wir hier noch Wurzeln schlagen«, räumte Hendrik ein. Zum Glück, denn in meinem Hals bildete sich allmählich ein Kloß – der bei Bens Antwort nur noch größer wurde.

»Was hättest du denn gerne?«, fragte er rau.

Wusste er eigentlich, wie heiß er sein konnte?

Wenn er nur das Richtige sagte, konnte man ihn für kurze Zeit mit irgendeinem Hardin Scott oder Christian Grey verwechseln. Aber wirklich nur kurz, denn dann wurde er wieder zum nervigen, alten Ben.

Der mir ans Herz gewachsen war und eigentlich eh viel besser als diese pseudodominanten Leinwand-Fuzzis war.

»Keine Ahnung«, piepste ich. Als ich merkte, wie hoch meine Stimme war, räusperte ich mich und sprach bemüht tiefer weiter: »Eine große Tüte Eis mit mindestens fünf Kugeln wäre ein Anfang.«

Ben hob eine Braue. »Natürlich laktosefrei.«

Ich nickte und lächelte. Vielleicht hatte es ja etwas zu bedeuten, dass er sich daran erinnerte.

»Gut, dann auf zur nächsten Pizzeria«, bestimmte Hendrik und nahm den Arm seiner Frau, um ihn bei sich einzuhängen. Sie sah minder begeistert aus, allerdings ignorierte sie den stummen Protest ihrer Zornesfalten und folgte ihm.

* * *

»Ich habe Hunger.« Meine Stimme klang gedämpft, weil wir in unserem kleinen Zimmer standen. Ben und ich.

»Ernsthaft jetzt? Wir haben doch vorhin erst gegessen!« Er rollte die Augen.

Ich nickte mit einem vielsagenden Blick. »Allerdings, und unter den Adleraugen deiner Mutter habe ich mich nicht getraut, etwas Nahrhaftes zu bestellen. Oder glaubst du, ich esse freiwillig in einer Pizzeria nur einen Salat?«

Ben lachte rau. Leise. Genau die Art, die mir die Gänsehaut auf die Oberarme trieb. Bei dem Gedanken schnappte ich mir meine Weste und zog sie über.

»Du kannst immer essen, was du möchtest, das weißt du doch, oder?« Er kam ein Stückchen näher zu mir, legte sein Buch, das er gerade weiterlesen wollte, zur Seite und verschränkte die Arme.

»Tja, deine Moeder sieht das ein bisschen anders. Sie ist schon in meinem Kopf, ohne, dass sie anwesend ist, okay? Diese Frau ...«

»So schlimm ist sie nicht«, verteidigte Ben sie sofort.

»Sie ist deine Mutter. Natürlich siehst du das anders. Aber hast du sie dir mal mit etwas Distanz angesehen? Sie behandelt dich, als wärst du ihr persönliches Forschungsobjekt. Von Liebe oder mütterlicher Fürsorge keine Spur. Nicht, dass ich mich wahnsinnig gut damit auskenne, aber ...« Ich schüttelte den Kopf. Bislang hatte ich immer gedacht, dass ich es in meiner Familie schwer hatte. Aber jetzt? Jetzt wars anders.

Mir tat Kian noch ein bisschen mehr leid als Ben. Ben schien zumindest während des Urlaubs damit leben zu können. Vielleicht blendete er es einfach aus — ob ihm seine beschränkte, soziale Kompetenz dabei half?

Was aber, wenn Ben gar nicht so hilflos mit anderen Menschen war, wie er immer tat? Manchmal schien er genau zu wissen, was er tun sollte, und manchmal hatte er einen völligen Ausfall.

»Wie wärs mit Palatschinken?«, wechselte Ben galant das Thema. Ich seufzte und zog die Brauen zusammen.

War mir mein Hungertrieb wichtiger, oder wollte ich ihn weiterhin mit seiner Mutter ärgern?

Definitiv ersteres. Wenn ich eines im Leben gelernt hatte, dann: Nachfragen war nie gut. Irgendwann, wenn man ein starkes Bedürfnis hatte, erzählt man es von selbst. Egal, was. Es passiert einfach. Gelernt hatte ich das allerdings auf die harte Tour. Denn bei meinen Eltern gab es das nicht. Ein Grund, wieso ich damals ins betreute Wohnen gezogen war.

»Palatschinken klingt lecker.« Ich nickte. Tatsächlich meldete sich mein Magen mit einem stattlichen Knurren.

»Okay«, grinste Ben, beinahe erleichtert.

»Dann auf in die Küche«, sagte ich. »Der Ort, wo Frauen hingehören.«

Ich rollte die Augen, um den Sarkasmus in meiner Stimme zu unterstreichen. Tatsächlich waren mir im Studium schon mehrere Typen begegnet, die tatsächlich dieser Ansicht waren. Ohne Mami kein Essen. Da blieb mir wirklich nichts als Mitleid übrig.

Ben zog eine Braue hoch.

»Wenn ich das sagen würde, dann würde eine Armee von Feministen auf mich losgehen und ich würde wegen Sexismus angeklagt werden.« Er folgte mir zu den Treppen.

Ich drehte mich zu ihm um. »Tja, das ist der Unterschied zwischen uns beiden. Abgesehen davon war das Sarkasmus. Selbst ist die Frau.«

Die Küche war wirklich klein. Man konnte zwei Schritte machen, das wars. Dafür gab es sogar vier Herdplatten, was ein Wunder war, denn selbst in meiner Wohnung in Wien hatte ich nur zwei.

»Wir brauchen Eier, Milch und Mehl«, bestimmte Ben. Ich sprang mit einem Satz auf die Anrichte und setzte mich neben Ben.

»Du willst also wirklich Palatschinken machen?«, fragte ich, beinahe verwundert. Irgendwie wunderte mich der Gedanke, dass Ben kochen konnte, auch wenn es ganz normal war. Aber er wirkte nicht wie jemand, der oft kochte.

»Natürlich«, sagte er und machte einen Schrank auf. Es war der Kühlschrank — durch die graue Fassade sahen alle Türen gleich aus — und Ben nahm zwei Eier heraus. Ebenso die Sojamilch.

»Habt ihr die extra wegen mir gekauft?« Jetzt war ich wirklich baff.

Ben nickte. »Ich muss schließlich mitleiden, wenn du in der Nacht zu einer ... Pupsmaschine wirst.«

»Wow, vielen Dank für diese charmante Beschreibung«, murmelte ich augenrollend und sah Ben dabei zu, wie er das Mehl aus einem Schrank holte. »Woher weißt du, wo alles ist?«

Ben warf mir einen Blick zu, der wohl soviel sagen sollte, wie: Das weiß doch jeder. Gleich darauf erklärte er sein Handeln. »Ich komme seit fünfzehn Jahren jedes Jahr auf dieses Boot um mit meinen Eltern und Kian auf Urlaub zu fahren. Jedes Jahr zur selben Zeit am selben Boot mit derselben Crew. Irgendwann kommt man drauf, wo das Mehl steht.«

Hm. Das klang einleuchtend. Ich fragte mich, ob ich jemals herausfinden würde, wo bei Ben das Mehl stand. Schließlich bedeutete das dann doch was, oder? Man erzählte ja nicht jedem Dahergelaufenen, wo das Mehl stand. Ja, das bedeutete dann was.

»Ich war nie wirklich oft auf Urlaub«, platzte es aus mir heraus. Immer, wenn ich mit Ben alleine war, hatte ich den Drang, über mein Leben zu erzählen und zu philosophieren, wie es mir wohl in einem früheren Leben ergangen wäre.

Ben zuckte mit den Schultern. »So schön ist es ja nicht. Brasilien ist eigentlich ein ziemlich armes Land; sobald man aus Rio ein bisschen draußen ist, stehen überall Favelas. In Sylt ist es teuer, Pellworm ist so gut wie leer. In den USA ist das Essen eklig.«

Ich wusste, was er mir damit sagen wollte. Dass es manchmal zuhause auch ganz schön war. Aber bei der Vorstellung, das Geld zu haben, auf so tolle Reisen zu gehen und so entlegene Kulturen kennenzulernen, werde ich ganz neidisch.

»Ach, nicht zu vergessen; in Thailand glaube ich jedes Mal nach dem Essen, dass in meinem Arsch eine Rakete wohnt ...« Er schüttelte den Kopf und schlug die Eier auf.

Ich kicherte bei der Vorstellung leise.

»Aber ... Es wäre schon schön, wenigstens ein bisschen was von der Welt zu sehen. Abgesehen von meinen Großeltern in Oberösterreich und ein paar Ausflügen an den Gardasee habe ich noch nicht sehr viel erlebt«, gab ich schließlich zu bedenken.

»Hast du deshalb dein Studium gewählt? Um herumzukommen?« Während Ben die Milch und das Mehl in die Schüssel lehrte, beobachtete ich seinen Rücken. Er war schlank und groß, doch auch ein schlanker Rücken konnte entzücken. Seine dunklen, fast schwarzen — mittlerweile hatte ich herausgefunden, dass sie dunkeldunkelbraun waren — Haare hatte er für das Abendessen ordentlich gekämmt und geföhnt, doch mittlerweile fielen ihm ein paar Haarsträhnen auf der Seite in die Stirn.

»Vielleicht. Wir sind alle verlorene Seelen, die nur auf der Suche nach sich selbst sind«, murmelte ich in unsere Stille hinein. Zu meinem Erstaunen schaltete Ben im selben Moment — als hätte er sich dasselbe gedacht — das Radio an. Es war eines mit Antenne, ziemlich antik, aber es funktionierte einwandfrei — zumindest, wenn man von einem leichten Rauschen absah. Ein italienisches Lied ertönte. Ich verstand nicht viel; es ging darum, dass ein Mann über seine große Liebe sang, die er eines Tages am Strand getroffen hatte, doch sie wurden getrennt, weil sie aus einer Geldbörse kam.

Das war wahrscheinlich nicht die richtige Übersetzung, aber für mehr reichten meine mickrigen Italienischfähigkeiten dann auch wieder nicht aus.

»Wie poetisch«, sagte Ben. »Ich glaube nicht, dass ich eine verlorene Seele bin. Ich glaube auch nicht an Seelen.«

Ich rollte die Augen. Natürlich musste er diesen Moment zerstören.

»Nie von Platons Seelenlehre gehört?«, murrte ich, während Ben den flüssigen Teig verquirlte.

»Doch«, widersprach Ben. »Aber ich glaube nicht daran. Das philosophische Dreigestirn erscheint mir so und so nicht besonders realistisch, wenngleich die Denkansätze interessant sind.«

Ich legte den Kopf schief. »Wenn das meine Altgriechischlehrerin aus dem Gymnasium gehört hätte ...«

Ben wandte sich mit dem Schneebesen in der Hand um. Dabei spritzte etwas Teig auf den Boden. »Du hattest auch Griechisch?« Überraschung spiegelte sich auf seinem Gesicht wider.

Ich nickte. »Würde man nicht denken, was? Ja, ich habe mit Ödipus um seinen Ruf gebangt, mit Homer die Ilias umgedichtet und natürlich auch Sokrates' Verteidigungsrede übersetzt.«

»Bemerkenswert.« Er sah nachdenklich aus. »Wirklich bemerkenswert.«

Ich lächelte. »Es war zwar nicht mein Lieblingsfach, aber ich mochte es. Vor allem die Epikureer mit ihren Leitgedanken. Carpe diem, genieße den Tag. Lebe dein Leben so, als würdest du morgen sterben können, und trotzdem hast du alles erlebt, was du erleben wolltest.« Ich lachte trocken. »Ein guter Gedanke.«

»Tatsächlich. Manches Mal soll man einfach tun, was man fühlt. Wonach man sich fühlt. Ohne nachzudenken.« Ben lachte ebenfalls trocken auf. »Leichter gesagt als getan. Ich könnte nie meinen Kopf ausschalten.«

»Sicher? Denkst du nicht, dass es irgendwann einfach passiert?«, fragte ich.

Ben drehte sich wieder um. Er schaltete den Herd an, holte eine flache Pfanne aus einer Lade und strich sie mit etwas Öl ein. Ich ließ mich von meinem Platz auf der Anrichte gleiten und ging zu Ben. Etwas neben ihm blieb ich schließlich stehen. Er wirkte seelenruhig, als hätte er nie etwas anderes gemacht, als Palatschinken zuzubereiten.

»Warum kannst du das so gut?«, fragte ich, während Ben begann, einen Schöpfer Teig in die brutzelnde Pfanne zu gießen.

»Was? Palatschinken machen?« Er sah zur Seite, direkt zu mir. Bei diesem Blick musste ich wieder einmal stark schlucken.

»Das auch«, nickte ich. »Ich meine ... Wie kannst du so charismatisch sein? Es scheint, als würdest du gar nicht merken, wie du auf die Menschen um dich herum wirkst.«

»Glaub mir«, begann Ben mit einem Kopfschütteln, »die Menschen um mich herum ... Es gibt einen Grund, warum es nicht viele gibt; sagen wir es so.«

»Aber warum?«

»Du mochtest mich auch nicht. Keine Ahnung, wie das jetzt ist.«

Oh, da sprach er mir ja sowas von aus der Seele.

Ich wollte ihn studieren, aber ich würde dieses Studium niemals abschließen.

»Ich mag dich«, sagte ich rau. »Ich kannte dich nicht, als ich dich nicht mochte.«

»Ach ja? Jetzt kennst du mich oder wie?« Die Antwort fiel patziger aus, als ich erwartet hatte. Etwas eingeschüchtert zuckte ich mit den Schultern.

»Hannah, für die meisten Leute bin ich der Psycho. Sie durchschauen mich nicht, und das macht ihnen Angst. Aber weißt du, was das Gute ist, wenn man selbst der Psycho ist? Man muss keine Angst mehr haben.« Ben seufzte und bereitete die Palatschinke, die in der Pfanne bereits lecker zu riechen begann, darauf vor, sie zu wenden. Sie löste sich beinahe von selbst von der Beschichtung.

»Du bist kein Psycho«, murmelte ich. »Du bist normal.«

»Misst du das an dir selbst? Ich glaube nämlich, dann sind wir beide eher nicht normal. Nur es fällt uns nicht auf, weil wir ähnlich sind.«

Ich zuckte mit den Schultern. Bens Worte hatten etwas Wahres.

Schließlich fragte ich das, was mir die ganze Zeit durch den Kopf ging. »Wie wird es sein, wenn wir wieder zurück in Wien sind?«

Ben ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

»Ich weiß es nicht.«

Das war definitiv nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte, aber so war das eben. Ben war ehrlich. Er sagte, was er dachte, und diese Ungewissheit war eben das, was über uns hing.

»Ich auch nicht.« Ich sprach ganz leise. Es war eine Intuition, der ich folgte.

Ben wandte die Palatschinke und streckte sich, um einen flachen Teller aus dem Regal über uns zu holen. Auf diesen legte er die fertige Palatschinke und goss wieder Teig in die Pfanne.

»Glaubst du, es war Schicksal, dass wir beide zueinander gefunden haben?«, fragte ich leise.

»Ich glaube nicht an Schicksal, das weißt du«, sagte Ben. »Es ist zwar ein romantischer Gedanke, dass es jemanden gibt, der für uns unser Glück bestimmt, aber ich lebe eigenständig. Alles, was passiert, passiert aus reinem Zufall

Ich schluckte. Seine Worte klangen hart, obwohl seine Stimme weich war.

»Liebe ist auch nur Biochemie. Ein chemisches Feuerwerk, ein Hormoncocktail«, sagte ich mit einem Schulterzucken. »Liebe kommt aus dem Kopf, nicht aus dem Herzen.«

Ben nickte. »Alles kommt aus dem Kopf. Du bist ja ein Kopfmensch, du weißt es also selbst ganz genau.«

»Kennst du den Kugelmenschenmythos?«, fragte ich.

Ben nickte erneut. »Früher hatten die Menschen vier Beine und vier Arme, beide Geschlechtsteile und zwei Köpfe. Dann wurden sie entzweigeteilt, doch seitdem versuchen sie, ihre zweite Hälfte zu finden. Ein griechischer Mythos.« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »So viel zu Romantik.«

»Glaubst du daran?«

Ben ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Vielleicht. Der Dopaminauschuss jedenfalls, den mein Cerebrum in den letzten Tagen zeigte, war jedenfalls besorgniserregend und könnte nicht durch eine andere Erklärung dargelegt werden, als eine Reihe biochemischer Prozesse ...«

Ich legte den Kopf schief. Mein Atem ging flach.

»Darf ich ...«, begann ich, doch ich stockte. Ben sah zu mir. Es kam mir so vor, als würde das Band zwischen uns sich immer mehr spannen, uns immer weiter zueinander ziehen. Aber vielleicht war der Wunsch in mir nach seiner Nähe einfach so groß, dass ich es mir auch nur einbildete.

»Was?«

»Darf ich etwas ausprobieren?«, fragte ich piepsig. Mein anfänglicher Mut hatte sich in Luft aufgelöst, nun stand ich nur noch nervös mit weichen Knien und einer Heidengänsehaut da und sah zu, wie Ben die Palatschinken briet.

»Was möchtest du ausprobieren?«, fragte Ben. Er schaltete den Herd etwas zurück.

»Vertraust du mir?«

Einen Moment lang sah mir Ben tief in die Augen. Dann nickte er. »Ja, das mache ich, Hannah.«

»Gut. Dann vertraust du mir, dass ich weiß, was ich mache, oder?«

»In den meisten Fällen. Wieso du—«

Ich unterbrach Ben, weil ich ihn zu mir zog. Seine Hände waren warm vom Herd, und der Überraschungseffekt spielte mir in die Karten.

»Vertrau mir«, flüsterte ich ganz leise.

Als ich meine Hände vorsichtig in seinen Nacken legte, pochte sein Herz mindestens genauso schnell, wie meines. Mein Atem ging rasch. Ich stellte sicher, dass wir uns in die Augen sahen, denn ich wollte nicht, dass das eine Handlung war, die er nicht bedacht hatte. Etwas, das er später bereuen wollte.

Ich wollte, dass er sich dessen bewusst war, was passierte.

»Willst du mich nicht endlich küssen?«, fragte Ben ganz rau, als wir ein paar Minuten so verharrten. Wir sahen uns stillschweigend an, denn in der Stille lag unser Applaus. In der Einsamkeit lag unsere Zweisamkeit.

Zwar stieg mir erneut die Hitze in die Wangen, doch dieses Mal fühlte ich mich bekräftigt, weil Ben mir signalisierte, dass er das auch wollte. Und deswegen stellte ich mich auf die Zehenspitzen, bis das Band zwischen uns so gespannt war, dass kein Blatt mehr zwischen uns passte.

Ich war sein Anfang und er war mein Ende.

Und ich war entsetzt, dass ich so einen kitschigen Scheiß gerade wirklich dachte, aber so war es nunmal. Es war genau so. Urkitschig und urarg, aber eben auch urreal.

Schließlich, als uns nur noch wenige Millimeter trennten und ich seinen warmen Atem auf meiner Oberlippe spürte und seine Nähe auf meiner Haut, küsste ich ihn. Meine Lippen legten sich wie automatisch auf seine; ein Spiel, das von Anfang an passte.

Mir war egal, ob er ein guter oder ein schlechter Küsser war, ob er viel oder wenig Erfahrung hatte. Es ging um das Gefühl. Alles, was in diesem Moment für mich zählte, war, dass ich glücklich war.

Ich war glücklich.

Eine Gänsehaut schlich sich auf meine Oberarme, während Ben mich näher zu sich zog. Unsere Lippen bewegten sich nach wie vor aufeinander, meine Zunge erkundete seine Oberlippe und schließlich seinen Mund. Es war ein komisches Gefühl, als ich schließlich seine Zunge spürte, aber es fühlte sich so an, als würden zehntausend Schmetterlinge in meinem Magen eine Salsa aufführen.

Meine Hände wanderten von Bens Nacken zu seinen Haaren, um schließlich den letzten Rest der hübschen Föhnfrisur zu zerstören.

»Hannah ...«, stöhnte er leise, als ich ihn näher zu mir zog. Wir lösten uns kurz voneinander, um Luft zu holen, doch ich wollte nicht, dass sich diese Lücke zwischen und bildete. Seine Hände fuhren über meinen Rücken, ein bisschen tiefer, bis ich schließlich zwischen ihm und der Anrichte stand.

Allerdings rechnete keiner von uns beiden damit, dass wir einen Störenfried beherbergten.

»Was duftet denn hier so—«, hörte ich Kians erfreute Stimme, während er die Treppen herunterkam und schließlich den Kopf hereinsteckte. Seine Stimme erstickte im Keim, noch bevor er den Satz beendet hatte. Ben löste sich sofort von mir und sah zu seinem Bruder.

Er sah wütend aus.

Kian sah ratlos aus.

Ich sah vermutlich verwirrt aus, mit einer Frisur, die vermutlich einer Vogelscheuche glich, und wahrscheinlich leuchtend roten Wangen.

»Was ist denn hier—«, begann Kian, doch auch dieser Satz blieb unbeendet. Er sah zwischen mir und Ben hin und her. Immer wieder, bis ihm schließlich ein Licht aufging.

»Oh«, machte er. Dann schlüpfte er wieder in die Rolle des coolen Typens, die er immer spielte. »Lasst euch nicht stören. Macht einfach weiter, wo ihr aufgehört habt. Ich wollte mir nur kurz ... ein Glas Milch holen. Schönen Abend noch. Ich bin gleich weg. Seht ihr, man sieht mich kaum noch ...« Er redete sich ziemlich in Rage, während er sich ein Glas Milch einschenkte und schließlich aus der Küche verschwand.

»Oh Gott«, murmelte ich. Mir war das schrecklich peinlich. Warum; das wusste ich nicht genau.

»Vergiss ihn einfach«, brummte Ben. Er sah zur Seite. Zwar wirkte er wie immer selbstsicher und ruhig, doch an dem zarten Rosahauch auf seinen Wangen erkannte ich, dass er weit weniger sicher war, als er sich gab.

Ich sah zu ihm. »Das war schön.«

Er brummte. Dann nickte er. »Mhm. Das war schön.«

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