Kapitel 23 - Eine offene Beziehung

Kian hatte uns erwischt.

Vielleicht war erwischt das falsche Wort, schließlich hatten Ben und ich nichts Verbotenes getan. Wir hatten lediglich ein wenig gekuschelt, während Harry Potter wie das Unwichtigste auf der ganzen Welt neben uns herlief. Vielleicht war es in diesem Moment auch das Unwichtigste auf der Welt. So genau wusste man das schließlich nie.

Kian räusperte sich und gab uns somit unmissverständlich seine Präsenz zu verstehen, als gerade der immer noch epische Abspann des Filmes lief. Ich setzte mich etwas auf, weil es mir unangenehm war, in einer so ... ja, fast schon intimen Lage mit seinem älteren Bruder erwischt zu werden.

Bens und meine Beine hatten sich irgendwann verknotet, seine Hand hatte sich auf meinen Rücken gelegt und meine auf seine Brust.

Kian sagte nichts — zu meiner Verwunderung, ansonsten sparte er schließlich auch nicht an wüsten Kommentaren im Burgtheaterdeutsch.

Ben und ich waren, ohne ein Wort zu wechseln (ich glaube, keiner wusste so genau, was diese plötzliche Vertrautheit zwischen uns war und wo sie herkam), zu Bett gegangen.

Nun, jedenfalls bis der verdammte Wecker heute Morgen klingelte.

Ein Wecker. Auf Urlaub.

Ich dachte wirklich, dass ich mir die ganze Reise nur eingebildet hatte und eigentlich aufstehen musste, um mich mit meinem Professor an der Uni zu treffen und meine Bachelorarbeit zu besprechen. Für einen Moment zumindest.

Dann jedenfalls hörte ich wie jemand anderes lospolterte. Zu meiner Überraschung war es jedoch gar nicht Ben gewesen, sondern Kian.

»Ich bringe dich um, du kleiner, mieser Verräter, du—«

Er stürmte in unser Zimmer. Ich kniff die Augen zusammen, allerdings konnte ich mir einen kurzen Blick auf meinen erschwindelten Schwager nicht nehmen lassen. Kians blonde Haare standen wirr vom Kopf ab, er trug nur Boxershorts und sah allgemein alles andere als glücklich aus.

Die Arme fest in den Türstock gestützt stand er da, während Ben gerade sein T-Shirt überzog.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Brüderchen«, sagte Ben spitz.

»Oh doch, das weißt du ganz genau!«, fluchte Kian. Kurz dachte ich, er würde auf Ben losgehen (obwohl dieser nämlich ein paar Jahre älter war, wäre er seinem kleinen Bruder eindeutig unterlegen gewesen), doch Ben blieb natürlich die Ruhe in Person.

»Du meinst den Wecker?«, fragte er scheinheilig.

»Nein, weißt du, ich mein das Martinshorn, das uns signalisiert, dass wir mit dem Boot zu schnell fahren — natürlich meine ich den Wecker, du klootzak!« Kian verdrehte die Augen.

»Ist das zu fassen?« Ben sah mich beinahe lachend an. »Mein kleiner Bruder beschimpft mich als Hodensack.« Er schüttelte fassungslos den Kopf.

»Kein Wunder, wenn du den Wecker so früh stellst. Es ist mitten in der Nacht!«, beharrte ich und zog die Decke über den Kopf.

Bens raues Lachen hörte ich sogar durch meine provisorische Schalldämmung.

»Wenn du den helllichten Tag als Nacht bezeichnest, hast du wohl recht.« Kurz darauf senkte sich die Matratze zu meiner rechten und jemand zog mir die Decke weg.

»Hey!«, rief ich. Meine Stimme war noch ganz kratzig. Die kühle Luft auf meinen nackten Beinen ließ mich zusammenzucken.

»Was — hey?«, fragte Ben und zog eine Braue hoch.

»Ich brauche meinen Schönheitsschlaf«, sagte ich spitz und verschränkte die Arme. Kian war mittlerweile wieder verschwunden; er hatte es aufgegeben, gegen seinen Bruder anzukämpfen.

Ben legte den Kopf schief und sah mich überlegend an. »Hm. Das ist natürlich ein Argument. Recht hast du. Soll ich dich später nochmal wecken?«

Ich riss die Augen auf. Hatte ich mich gerade verhört? Ich lieferte diesem Typen eine Steilvorlage für ein Kompliment, das zu neunundneunzig prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht zu verfehlen war, und er schaffte es trotzdem, das eine Prozent herauszufordern?

»Klotze«, murmelte ich erbost. So oder so ähnlich lautete schließlich das Schimpfwort, das Kian vorhin gesagt hatte.

Ben schien zu wissen, was ich meinte, denn er lachte schallend. »Ich glaube, du meinst klootzak«, sagte er mit einem breiten Grinsen.

Ich rollte einfach nur die Augen und drehte mich auf die andere Seite. »Was auch immer, lass mich in Ruhe, du Klotze.«

Daraufhin sagte Ben nichts mehr und als ich das laute Rumpeln auf den Treppen vernahm, wusste ich, dass er mich wirklich in Ruhe gelassen hatte. Keine Ahnung, ob ich darüber jetzt froh oder traurig sein sollte, aber das Kissen war auch ein guter Kuschelpartner.

Vielleicht nicht so gut wie Ben, aber gut.

* * *

Den Tag verbrachten wir größtenteils damit, dass ich den drei anderen Hosn owi beibrachte — ein Kartenspiel, das ich selbst in meiner Kindheit viel gespielt hatte, wenn es nichts anderes mehr gab — wobei sich das bei Kian als echte Katastrophe entpuppte. Er schien einfach keinen Funken Verständnis zu haben, kam ständig mit den Ober- und Unterzeichen durcheinander und verwechselte Eicheln mit Schellen und Blätter mit Herzen.

Danach jedenfalls erfuhr ich (wieder einmal als letzte), dass wir den Abend in der Bucht von Saint Martin verbringen wollten, genau wie den morgigen Tag. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir schon so weit aufs karibische Meer hinausgefahren waren — doch in Retrospektive: Woran hätte ich das auch festmachen sollen? Weil das Meerwasser dort anders schmeckte, als in Costa Rica?

Wohl kaum.

»Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, wieso bist du jetzt schon so aufgescheucht wie ein Hühnchen kurz vor der Nugget-Transformation?« Ben sah mich verstört von der Seite an.

»Nur noch eine halbe Stunde?«, fragte ich hektisch. Ich hob meinen Arm und schnüffelte unauffällig an meiner Axel.

»Äh ... ja?«, kam es von Ben. Er saß in unserem Zimmer am Schreibtischstuhl (keine Ahnung, warum es Schreibtische hier gab, war ja nicht so als würde alle paar Tage das Post-Boot vorbeikommen und die Briefe einsammeln, die man am Schreibtisch schrieb) und blätterte in seinem Buch. Es war immer noch dasselbe, das er schon gestern gelesen hatte. Das Tischchen vor ihm war für ihn zu niedrig, um die Beine darunter zu lassen, weshalb er seine langen Beine auf dem Bett ausgestreckt hatte.

Mittlerweile war es draußen am Deck nicht mehr ganz so unerträglich heiß, wie es tagsüber wurde. In der kleinen Sitznische hinten am Boot hielt man es zwar ganz gut aus, weil diese so gut wie immer im Schatten lag, aber auch dort wurde es um die Mittagszeit ziemlich heiß. Da half nur noch: Ab ins Meer.

Und von dem großen Monster der Wellen gefressen werden.

»Ich muss noch duschen«, stellte ich nach meiner Geruchskontrolle fest. Ich hatte die feste Devise, dass man, wenn man den eigenen Geruch riechen konnte, wirklich schon stark stank. Deswegen ging ich geradewegs zu dem kleinen Schränkchen und zog irgendwelche Gewänder raus, die zusammenpassten.

»Ich auch«, sagte Ben und zuckte mit den Schultern. Seine Verständnislosigkeit ließ darauf schließen, dass es für ihn ganz normal war, fünf Minuten vor dem Essen noch schnell in die Dusche zu hoppeln, zu duschen, sich abzutrocknen, anzuziehen und fertig zu machen.

»Schön«, gab ich gereizt zurück. Zugegeben, die Hektik nervte mich — ich hatte mich am Deck gebräunt und irgendwie die Zeit aus den Augen verloren. Vielleicht (aber nur vielleicht) lag es daran, dass ich in der Sonne eingeschlafen war und friedlich wie ein Baby vor mich hinschlummerte, bis Gabriella auf dem Deck wie Cruella herumsprang und verkündete, dass wir in einer halben Stunde in Saint Martin anlegen würden.

Dass sich Gabriella auf Cruella reimte, war ganz sicher kein Zufall.

»Hast du eigentlich schon einmal über eine offene Beziehung nachgedacht?«, wechselte Ben alles andere als gekonnt das Thema.

»Bitte?«, fragte ich so perplex, dass ich tatsächlich kurz meine Hast unterbrach.

»Eine offene Beziehung. Das Konzept ist eigentlich sehr intelligent. Ich denke manchmal darüber nach, wenn ich nicht schlafen kann.« Ben zuckte mit den Schultern und legte sein Buch zur Seite, ehe er aufstand und ebenfalls zu seinem Schrank ging.

»Nein, ehrlich gesagt habe ich gerade andere Dinge im Kopf«, murmelte ich kopfschüttelnd.

»Ich sage ja nur. Interessantes Konzept. Liebe ist sowieso wie Weihnachten, von unserer Konsumgesellschaft erfunden, um die Kaufsucht zu stillen. Wieso sonst gibt es den Valentinstag?« Er schüttelte den Kopf und zog ein weißes Hemd aus einem Fach. »Total unnötig.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt auch Menschen, die an Astrologie glauben.«

»Ja, die gehören sowieso in die Klapse.« Ben runzelte die Stirn und zog eine blaue Shorts hervor. »Das ist genau derselbe Schwachsinn. Oder kann mir irgendwer erklären, warum dann nicht auf der ganzen Welt dieselben Ereignisse vorhergesagt werden?«

Ich zog bloß die Brauen hoch, musste mir aber ein Grinsen verkneifen.

»Du hast deine Philosophie, andere haben ihre.«

* * *

Nach einer heißen Dusche fühlte ich mich tatsächlich wie neugeboren. Der Sonnenbrand auf meiner Haut juckte nicht mehr ganz so sehr und meine Achseln dünsteten kein strenges Odeur mehr aus.

Nun, neugeboren vielleicht nicht, aber ich musste mir keine Sorgen mehr machen, meine Umgebung olfaktorisch zu misshandeln und ich fühlte mich bereit, mich wieder unter Menschen zu mischen. Nicht, dass ich damit Ben meinte — ungelogen war es mir relativ egal, ob ich vor ihm stank oder nicht — aber immerhin musste ich seiner Mutter irgendwas beweisen. Was genau, das wusste ich selbst nicht, aber ihrem Blick und ihrer Art, die sie mir gegenüber an den Tag legte, war zu entnehmen, dass sie auf irgendwas wartete. Irgendeinen Fehler meinerseits, an dem sie meine Lüge festnageln und mich aufhängen konnte.

»Passt das so?«, riss Bens Stimme mich aus den Gedanken. Er deutete an sich herab. Meine Augen folgten seiner Handbewegung; er trug das Hemd und die Hose, die er vorher herausgeholt hatte. Das Hemd hatte er lässig ein wenig hochgekrempelt und in die Hose gesteckt.

»Ich würde das Hemd nicht in die Hose stecken«, sagte ich ehrlich. Ich fand nicht, dass das bei anderen Hosen, als bei Anzughosen, gut aussah, schließlich hatte er mich nach meiner ehrlichen Meinung gefragt und ich hatte sie ihm gegeigt. So einfach war das.

»Raus? Wirklich?« Ben sah nicht sehr überzeugt aus. Seine klare, gebräunte Gesichtshaut (ob man es glaubt oder nicht — die drei Tage, die wir jetzt auf dem Boot sind, ließen ihn bereits aussehen, als hätte er fünf Monate Urlaub im Sommer in Australien gemacht, während ich immer noch vor mich hinkäselte — ausnahmsweise nicht geruchstechnisch) verzog sich zu vielen, kleinen Denkfalten. Die türkisen Augen, die mich jedes Mal, wenn Ben mich so intensiv ansah, wie gerade eben, tief durchatmen ließen, wanderten vom Hemdsaum zu mir und wieder zurück.

»Wenn du mir nicht glaubst, dann lass es halt drin«, fauchte ich. Mich ärgerte es ein wenig, dass er nicht auf meinen Modeinstinkt vertraute. Ich meine, klar, ich war vielleicht nicht der nächste Karl Lagerfeld, aber so wenig, wie Ben gerade tat, kannte ich mich dann auch wieder nicht aus.

»Schon gut, schon gut«, murmelte Ben und zog das Hemd aus der Hose. Es war ein wenig verknittert am Saum, aber das sah sowieso viel besser aus. Ben war kein geschniegelter Typ. Manchmal vielleicht ein bisschen arrogant, aber das kam hauptsächlich deshalb, weil er in einem Raum gerne die Rolle des stillen Beobachters auswählte.

Wären wir in Österreich, würde ich mir bei der nächsten Trafik die aktuelle Bravo holen und die reichlich glaubwürdigen Psychotests an Ben durchführen.

»Hast du über meine Frage von vorhin nachgedacht?«, hakte Ben nach, während ich mich anzog. Mir war es zwar anfangs ein bisschen unangenehm gewesen, halb nackt vor Ben rumzurennen, aber mittlerweile war es mir egal. Tagsüber war es so heiß am Schiff, dass ich gar nichts anderes wollte, als mir jeden Fetzen Kleidung vom Leib zu reißen und die Ice-Bucket-Challenge fünf Jahre verspätet nachzuholen.

»Du meinst die mit der Beziehung?«, murmelte ich und zog mein T-Shirt an. Heute entschied ich mich für ein tailliertes Trägerleiberl mit einer Culotte, die oben eng und unten weit war. Delia hatte wirklich alle Arbeit geleistet, dafür war ich ihr sehr dankbar.

»Mhm«, machte Ben. Er ließ sich wieder auf den Stuhl fallen und verschränkte die Arme. Anstatt jedoch in seine Lektüre zu starren, beobachtete er mich. Ich war mir nicht ganz sicher, wie ich das finden sollte.

»Ich finde es bescheuert«, sagte ich offen und ehrlich. Offen seine Meinung zu sagen, wenn es um offene Beziehungen ging, waren immer noch besser als beschränkte Horizonte und geschlossene Münder.

»Sag mir einen Grund, wieso«, forderte Ben mich auf. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Denkfalte.

Wenn er so im Audimax saß, wunderte es mich nicht, wie ein Typ wie Ben eine Freundin kassieren konnte. Vielleicht hatten sie sich aber auch über Tinder oder Xoodle kennengelernt, dort gab es immerhin noch den ›Senden‹-Knopf, der Bens Gerede filterte. Da war dann nur die Frage, ob ihm sein Beitrag so wichtig war, ihn zu tippen, oder nicht.

Eigentlich eine hervorragende Marketingidee.

Wieso bin ich da nicht schon eher draufgekommen?

Naja. Bestimmt wird bald, wenn das Handy ausgelutscht ist, eine neue Technologie auf den Markt kommen und dann werde ich, ich, die ewige Jungfer, glänzen, wenn ich meine Verkupplungssoftware rausbringe.

Wartet nur ab.

»Ein Argument?«, fragte ich. Meinem Tonfall war klar und deutlich zu entnehmen, dass ich mich fragte, ob Ben irgendwie begriffsstutzig war.

Er nickte, woraufhin ich mit all meinen Rory-Gilmore-Debattierkünsten loslegte.

»Ganz einfach. Beziehung bedeutet, etwas Fixes einzugehen. Dass man einander liebt.«

»Na und? Man kann sich lieben, obwohl man mit anderen Frauen oder Männern Geschlechtsverkehr vollzieht.«

Manchmal bewunderte ich es, wie gewählt er sich selbst in Streitgesprächen ausdrückte. Ich dagegen konnte das nicht von mir behaupten, aber deswegen war er ja der angehende Anwalt und nicht ich. Obwohl ich Harvey Specter unfassbar zu lieben gelernt hatte — seinen Job wollte ich nicht haben.

»Aber die Wahrscheinlichkeit, durch eine monogame Beziehung die Lust und das Interesse am Sex und dem Partner zu verlieren, ist deutlich höher, als bei einer offenen Beziehung«, gab Ben zu bedenken.

»Glaubst du etwa, dass so viele Frauen mit dir Sex haben wollen, falls du eine Freundin hast?«, gab ich amüsiert zurück.

Ben legte den Kopf schief. »Die Möglichkeit besteht, ja.«

»Und was ist mit Eifersucht? Mich würde der Gedanke von meinem Freund mit einer anderen Frau umbringen.« Ich nickte. Bei der Vorstellung allein lief es mir kalt den Rücken runter. »Wenn der seinen Schniegel irgendwo reinsteckt, dann nur in Löcher, zu denen er Zutritt haben darf.«

Ben legte den Kopf schief. »Hannah, du bist manchmal echt komisch.«

Ach, nur manchmal? Das ist eine Steigerung zu dem, was mein Ex-»Freund« zu mir sagte. Der, den ich genau zwei Wochen hatte — er meinte, ich sei immer komisch und dass er das nicht brauche. Ich hatte ihm daraufhin gesagt, wenn er nur ein hübsches Püppchen mit Panzer-Tape über dem Mund suchte, sollte er in die Passage feiern gehen und nicht ins Loco.

»Jetzt mal rein logisch: In einer Beziehung mit einem festen Partner — da lernst du deinen Partner, seine Vorlieben und das, was er nicht mag, viel besser kennen, als umgekehrt. Ich meine — was hältst du von Treue, hm? In einer offenen Beziehung geht die Treue doch völlig verloren!«

Am liebsten hätte ich mich gar nicht erst auf diese Diskussion eingelassen. Es ärgerte mich, dass ich jetzt so voller Herz und Seele argumentierte und den Zwang hatte, Ben zu bekehren.

»Treue, Treue. Das ist doch nur ein leeres Wort. Ist der Mensch darauf ausgelegt, mit nur einer Person sexuell zu interferieren?« Ben stand auf uns sah mich an. »Nein. Richtig. Deswegen ist Treue auch sinnlos.«

»Glaubst du etwa nicht an das Gute im Menschen?« Meine Stimme klang vielleicht ein bisschen zu hoffnungsvoll. Dafür, dass ich eigentlich immer das toughe Mädel war, das nichts und niemand — nicht einmal Existenzkrisen, bei denen selbst Jean Paul Sartre eine Existenzkrise bekommen hätte — aus der Ruhe brachte, schaffte Ben es nämlich regelmäßig und ziemlich leicht.

Ein paar gezielte Sticheleien und zack, ich war der lebendige Vulkan; der Vesuv war nichts gegen das, was in mir brodelte.

»Das Gute im Menschen?«, fragte Ben. Er lachte trocken. »Ich glaube an die Dummheit im Menschen.«

Gut, das war auch etwas.

»Wir sollten eine Religion gründen«, murmelte ich irgendwann, als keiner mehr etwas sagte. Damit waren die Fronten, was Beziehungen angingen, wohl geklärt.

»Ja. Wie die des Spaghetti-Monsters«, sagte Ben augenrollend und trat näher an mich heran, während ich gerade meine Sandalen anzog. Es waren kleine Riemensandalen, schicke Dinger, die ich letztes Jahr im Albverkauf für schlappe sieben Euro ergattern konnte. Tja, eine Schuhgröße wie 37 hatte eben nicht jeder, die blieben gerne mal übrig.

»Mhm«, machte ich. »Oder vielleicht à la Zeugen Jehovas, die keine Blutspenden annehmen dürfen.«

Ben schüttelte den Kopf. »Ich sag ja. Sowas verstehe ich nicht. Warum

»Keine Ahnung«, sagte ich schulterzuckend. »Musst du ja nicht verstehen.«

Ich trug noch ein paar Spritzer Parfum auf, dann tuschte ich meine Wimpern und nickte mir im Spiegelbild zu. Meine Haare, die ich wegen des klebrigen Salzes vom Meer extra waschen musste, waren mittlerweile wieder beinahe getrocknet.

»Können wir rauf gehen?«

Ben nickte. »Klar. Hast du alles?«

Ich bejahte das. Mehr als meine kleine Umhängetasche mit Handy, Geldbeutel und Ausweis brauchte ich schließlich sowieso nicht.

»Dann komm her, Freundin«, murmelte Ben. Er streckte mir die Hand hin. Aus irgendeinem undefinierbaren Instinkt heraus ging ich um das Bett herum und ergriff seine Hand. Ben zog mich ein wenig näher an sich heran, wobei er mir so intensiv in die Augen sah, dass ich einen Moment lang dachte, er würde mich ...

Nein.

Einen Moment lang dachte ich allen Ernstes, dass er mich gleich küsste.

Doch stattdessen lächelte er mich nur an.

Aber allein dieser Blick reichte völlig aus, um mein Herz wie Wachs in seinen Händen schmelzen zu lassen; als wäre ich das orangene und er das grüne Twinnie an einem sehr heißen Sommertag. Ich musste lächeln.

Die Art, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen und die Grübchen sich bildeten, ließen mein Twinnie-Dasein zu flüssiger Orangensaft-Sülze werden. Seine gerade Nase, die ein bisschen zu lang und ein bisschen zu knubbelig war. Die hohe Stirn, auf der sich die Stirnader pochend zeigte. Die ebenholzfarbenen Haare, die so weich waren.

Alles an Ben machte mich verrückt — und am meisten war es das, was man nicht von außen sehen konnte. Es machte mich verrückt, dass Ben mich verrückt machte.

»Dann können wir ja jetzt losgehen«, sagte ich rasch. Mir wurde schwindelig.

Ben nickte. Kurz dachte ich, in seinem Blick läge Irritation, doch dann spitzte er kurz die Ohren. Das sah ich daran, dass sein Blick auf einmal konzentriert in die Ferne ging.

Und im nächsten Moment wusste ich auch, warum: Als wir aus unserem Zimmer traten und die wenigen Treppenstufen hinaufgingen — immer noch Hand in Hand — stand auf einmal Gabriella am Fuße der Treppe und musterte uns kritisch.

»Entschuldigung, dass es länger gedauert hat ...«, murmelte ich ehrlich reuevoll.

Gabriella zog eine Braue hoch. War das etwa ... war das etwa ein Lächeln auf ihren Lippen?

Ich traute meinen eigenen Augen nicht ganz.

Doch, eindeutig. Der Drache konnte lächeln, und seine Zähne waren nicht einmal gelb oder hässlich, wie man es bei einer so ruppigen Persönlichkeit erwarten könnte, sondern weiß und schön gereiht.

»Wo wir jetzt komplett sind«, sagte Gabriella mit einem vielsagenden Seitenblick auf Ben und mich, »können wir ja jetzt kurz den Abend durchgehen.«

Kian und Lisa standen etwas abseits bei der Reling. Hendrik, der Arme, musste brav, wie ein Hündchen, neben Gabriella stehen und dem, was sie vor sich hin quakte, ein Ohr schenken.

»Wir werden als erstes bei dem Restaurant, bei dem wir immer sind«, sie lachte affektiert und warf einen Blick in die Runde — mehr konnte sie mir gar nicht zu verstehen geben, dass ich hier nicht hingehörte — »essen. Danach könnt ihr noch in der Stadt spazieren. Um zwölf Uhr sollten dann alle wieder an Bord gehen.«

Sie blickte in die Runde, ob das die trostlose Verschwenderjugend wohl verstanden habe, und als niemand sich meldete, ging sie davon aus, alle hätten es kapiert. Oder aber sie dachte, dass eine erneute Erklärung zweckbefreit wäre — jedenfalls verstummte sie und setzte sich auf einen gepolsterten Platz.

Ich ging zur Reling hinüber, um den Blick auf das auftauchende Landstück zu werfen. Der Streifen, der sich vor uns auf dem Horizont abbildete, gewann mit jeder Fahrtminute an Schärfe und Größe. Ich war noch nie zuvor in der Karibik unterwegs gewesen, doch auf einmal konnte ich verstehen, warum diese Destination so beliebt war. Der Hafen von Baie Longue, wie die Bucht laut Ben hieß, war so seicht, dass das Wasser allmählich eine satte, türkise Farbe annahm.

»Wow«, hauchte ich. Meine Hände umklammerten zwar die Reling, doch trotzdem hatte ich das Gefühl, dass mich der Fahrtwind zum Fliegen brachte. Ein weiteres Mal überrollte mich diese Welle des Bewusstseins: Dieser Trip war ein Ausflug, der vielleicht mit Naivität begonnen hatte, mir allerdings Türen öffnete, von denen ich zuvor nur träumen konnte.

»Schön, nicht?«

Ben kam näher zu mir. So nahe, dass er seine Hände neben meine legte. Es wäre nur eine einfache Handbewegung, aber ich wollte unsere Hände nicht verbinden. Ich hatte das Gefühl, dass die Verbindung, die zwischen Ben und mir entstand, viel mehr war, als bloß etwas rein Körperliches. Wieso sollte ich also meine Gefühle mit körperlichen Gesten füttern?

»Ja.«

Ich nickte, unfähig meine Gefühle näher auszudrücken.

»Ich bin froh, dass du mit auf dieser Reise bist. Echt.«

»Tatsächlich?« Ich sah ihn von der Seite an und grinste. »Den Tritt in den Arsch hast du gebraucht, was?«

»Den Tritt wozu?« Er legte den Kopf schief.

»Um zu kapieren, dass du ein Mensch wie jeder anderer bist. Mit Haut und Haar und Gefüüühlen.« Ich rollte die Augen. »Richtig gefährlicher Scheiß, das sag ich dir. Wenn du einmal irgendwen magst, dann hast du verloren. Dann hat dich die Person in der Hand und kann mit deiner Psyche spielen, wie sie will, und dabei kann es ihr egal sein, wie es dir geht. Weil du, egal, was passiert, die Person trotzdem magst.«

Ich seufzte.

»Klingt nach schlechten Erfahrungen.« Ich rechnete es Ben hoch an, dass er nicht näher nachfragte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Macht jeder mal.«

Und in diesem Moment ertönte das klassische Horn, das ankündigte, dass wir uns in Kürze in unseren ›Parkplatz‹ am Hafen begeben würden.

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