Kapitel 22 - Filmabend mit Kuscheln

Nach dem Schwimmen war ich ganz schön ausgelaugt und richtig froh, dass wir Gabriella hatten, die nur mit ausreichender Crew auf einen Urlaub wie diesen fuhr. Dadurch nämlich stand einer der Poolboys bereits am Herd — denn es duftete auf der ganzen Yacht gefährlich lecker nach Spaghetti mit Tomatensoße. Kein wahnsinnig aufwendiges Gericht, schließlich waren die Möglichkeiten trotz schicker Yacht immer noch dezimiert.

Während ich auf das Mittagessen wartete und darauf, dass die Stunden langsam vergingen und ich endlich braun wurde, glitt mein Blick immer wieder rüber zu Ben. Wie ein Steak drehte er sich im Halbstundentakt auf die andere Seite, sodass er überall gleichmäßig braun wurde. Überhaupt war er unfairerweise schon ziemlich gebräunt, während ich hier wie eine Weißwurst thronte.

Deswegen wappnete ich mich wieder mit meinem zweckentfremdeten Geschirrtuch und pflanzte mir meine Sonnenbrille auf die Nase. Zwei geschlagene Stunden lag ich auf der faulen Haut — mir war noch nie langweiliger.

Was sahen die Menschen überhaupt darin, braun zu werden? War doch egal, ob die Zellen Melanin ausschütteten oder nicht. Und am Ende resultierte es sowieso in einem Sonnenbrand.

Als Kian uns endlich zum Essen holte, fühlte ich mich bereits wie ein von der Sonne frittiertes Fischstäbchen. Meine Haut war ganz heiß, ich sprang förmlich von dem dunkelroten Handtuch.

Ben ging es da deutlich gemächlicher an. Er legte in aller Ruhe sein Buch zur Seite, ehe er sich hochrappelte und durch die Haare fuhr.

Scheiße, man.

Manchmal fragte ich mich, ob er eigentlich wusste, dass er gar nicht so hässlich war, wie er immer tat. Er entsprach vielleicht nicht dem klassischen Schönheitsmodell eines Kerls — weder hatte er breite Schultern, noch war sein Oberkörper mit Muskeln bepackt — aber irgendwas an ihm gefiel mir.

Vielleicht war es auch nur seine Art, die einfach alles zehntausendfach anziehender machte. Er sprühte nur so vor Charisma, dass plötzlich alles andere uninteressant war.

Ich schüttelte den Kopf, als ich merkte, dass Ben meinen Blick fragend aufgefangen hatte.

»Nichts, nichts«, murmelte ich, obwohl er mich ja eigentlich gar nichts gefragt hatte. Wieso hatte ich in seiner Gegenwart das Bedürfnis, mich zu erklären? Da gab es nichts zu erklären.

»Ich hab doch gar nichts gesagt«, verteidigte sich Ben.

»Du hast mich so ... angeschaut«, beharrte ich und stemmte die Hände in die Seiten.

»Ist das verboten? Anschauen? Soll ich mir denn Dolche in die Augen rammen, damit ich erblinde?«, gab Ben sarkastisch zurück.

Ich legte den Kopf schief. »Wenn ich es mir recht überlege ... Wenn du es mir schon so anbietest — einen Versuch ist es wert.«

»Mhm, klar«, nickte Ben. »Die Ohren vielleicht auch gleich abschneiden? Oder das Gehirn amputieren?«

»Ist das nicht schon längst passiert?«, fragte ich gespielt überrascht.

»Ha, ha«, murrte Ben. »Wie innovativ. Den Witz hat schon meine Grootmoeder gerissen und die hat vor hundert Jahren gelebt.«

Ich beließ es dabei, weil ich keine Energie hatte, mich mit Ben erneut zu duellieren. Mein Magen knurrte laut, weshalb ich beschloss, auf das zweite Deck zu klettern, wo die Poolboys bereits den Tisch deckten.

* * *

Den Nachmittag verbrachten wir mit einigen Runden UNO, viel Sonnencreme und Schlaf auf dem Deck. Ich hatte einen guten Platz gefunden, bei dem mein Kopf zumindest zeitweise im Schatten lag, während mein Körper in der Sonne vor sich hinbraten konnte. Das Schnorchelabenteuer war mir eigentlich genug gewesen; noch einmal würde ich heute garantiert nicht ins Meer gehen.

Abgesehen davon lag mir das Hai-Ereignis immer noch schwer im Magen. Als Rache musste ich mir etwas Spezielles für Kian überlegen, damit ihm ein für alle Male klar war: So nicht mit mir.

Tatsächlich konnte ich mich sogar dazu motivieren, ein paar Zeichen an meiner Bachelorarbeit zu tippen. Schließlich endete ich jedoch mit einem blutrünstigen Krimi, wie ich sie am liebsten hatte, auf der Liege und brutzelte wieder vor mich hin.

Ich war in meinem Buch gerade an der Stelle angekommen, an der der Mörder die Kriminalbeamtin fesselte und gefangen hielt, als plötzlich jemand eine Ladung Wasser auf mich niederließ.

»Hey«, quiekte ich auf. Das Wasser war warm.

Einen Moment lang rutschte mir das Herz in die Hose. Was das Meerwasser? Oder war das ... das von der gelben Sorte?

Sei nicht albern. Keiner von den Jungs würde jemals an einer öffentlichen Stelle urinieren.

Als ich jedoch bestürzt das Buch zur Seite legte und aufsah, merkte ich, dass es garantiert kein Pipi war.

Natürlich nicht.

Ben schüttelte über meinem Bauch seine Haare aus. Sie flogen dabei in kräuselnden Strähnen über seinen Kopf, und als wäre das nicht genug, streckte er sich danach und beugte sich über mich.

»Ben!«, kreischte ich. »Geh weg! Ich will nicht nass werden!«

Ich hatte jetzt wirklich keine Lust zu frieren. Ich wollte wissen, ob die Kriminalbeamtin nun vom Mörder verstümmelt wurde, oder aber ob ihr die Flucht gelang.

»Wieso?«, feixte Ben. Er legte sich provokant zu mir und umklammerte mich mit seinem nassen Körper.

»Geh von mir weg«, quengelte ich.

Ben machte natürlich das Gegenteil. Die Wasserperlen spielten auf seiner nackten Haut ein Reflexionsspiel mit der Sonne, während seine Badehose triefnass war und ich nun eine volle Ladung Meerwasser abbekam.

Aufgewärmtes Pipi-Meerwasser. Wahnsinnig toll.

Zumindest fühlte es sich so an, und jetzt, wo ich den Gedanken einmal gefasst hatte, konnte ich ihn auch nicht mehr abstellen.

»Runter!«, polterte ich, allerdings klang meine Stimme leider um einiges weniger angsteinflößend, als ich es gerne hätte. Ben lachte lauthals, ehe er sich wie ein nasser Fisch auf mich drauflegte.

»Sag mal, spinnst du, geh' jetzt von mir runter, du—«

Mein Gezeter ging allerdings völlig unter, weil Bens schwerer Körper mir all meine Luft aus den Lungen presste. Vor meinem inneren Auge sah ich bereits, wie mein Gesicht lila anlief und ...

»Ich bekomme keine Luft, du Fettsack«, zischte ich, ehe ich nach Luft japste.

»He! Das nehme ich persönlich!«, rief Ben. Mittlerweile war ich ungefähr genauso nass wie er, obwohl ich in den letzten drei Stunden keine Zehenspitze ins Wasser gesteckt hatte.

»Das solltest du auch«, grummelte ich zähnefletschend.

Mein Herzschlag ging so schnell, dass ich nach Luft japsen musste, um nicht endgültig zu kollabieren.

Abgesehen davon ... ich wusste nicht, wie genau es dazu kam — wenn jemand mich fragen würde, könnte ich es nicht erklären — aber es fühlte sich so an, als hätte es in diesem Moment in meinem Kopf Klick gemacht. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, ohne mich zu fragen. Als hätte jemand den Lichtkegel auf eine Tatsache gerichtet, die bis dato in unbekannter Dunkelheit schlummerte.

Ich mochte Ben.

Das war eine gefährliche Erkenntnis. Was es wohl über mich aussagte, dass ich genau daran dachte, wo er mich doch gerade so aufzog und ärgerte?

Ich mochte ihn und das war nicht gut. Denn wenn man jemanden mochte, dann war er einem nicht egal. Und wenn er einem nicht egal war, dann ...

Dann sollte man keine Beziehung vortäuschen.

Hannah, für diese Erkenntnis ist es jetzt vielleicht ein bisschen zu spät, findest du nicht?

Doch. Aber ... besser spät als nie, oder?

»Lebst du noch?«, fragte Ben und pustete in mein Ohr. Ich zuckte zusammen.

»Igitt«, murmelte ich. Mit aller Kraft (so viel, wie meine Stöckchenarme eben hergaben) versuchte ich, Ben von mir zu schieben, was allerdings ziemlich nach hinten losging. Er legte lediglich seinen Kopf in meine Halsbeuge und blieb liegen.

»Du toter Fisch, beweg deinen Arsch«, knurrte ich. Aber Ben ignorierte mich geflissentlich.

»Was ist hier los?«, hörte ich in diesem Moment Kians Stimme. Kurz darauf spürte ich, wie die Holzdielen Schritten ankündigten. Ich sah zur Seite. Kian stand mit verschränkten Armen vor uns; seine blonden Haare standen wirr von der Irritation des Salzwassers in alle Richtungen ab.

»Dieser Fettsack hat sich gedacht, dass er die Robbe macht und mich als nächstes Opfer auswählt«, fasste ich die Situation ziemlich akkurat zusammen. Jedenfalls meines Empfindens nach.

Ben hob empört den Kopf. »So ein Blödsinn!«

»Ben, als ich sagte, dass du Hannah genegenheid* zeigen sollst, meinte ich nicht, dass du sie wie ein Urwaldklammeraffe umarmen sollst«, zischte Kian kopfschüttelnd. (*Zuneigung)

»Wie bitte?«, fragte ich. »Genege- was?«

»Er will, dass wir das perfekte Pärchen spielen«, murmelte Ben. Seine brummige Stimme vibrierte in meiner Halsbeuge und erzeugte eine Gänsehaut auf meinen feuchten Schultern.

»Oh man. Sollen wir vielleicht heute Abend in unser Zimmer gehen und laut stöhnen und auf dem Bett hüpfen, damit deine Eltern denken, wir treiben es wie die Kaninchen?«, fragte ich. Die Situation war so skurril, dass ich nicht anders konnte, als schallend zu kichern.

»Ich finde das nicht witzig«, knurrte Kian.

»Ich schon«, sagte ich. Ben nickte. »Ja, irgendwie schon.«

»Ihr seid verrückt!«, rief Kian und warf die Hände in die Luft, als würde er von oben auf Unterstützung warten. Ha, da konnte er lange warten. »Du solltest wirklich ein wenig an dir arbeiten, Ben. Dann hättest du vielleicht wirklich eine Freundin.«

Seine Stimme war ganz leise, aber ich spürte, wie Ben kurz zusammenzuckte. Diese Worte reichten. Ben rappelte sich von mir hoch und sah seinen Bruder aus verengten Augen an.

»Ach so? Ich wusste gar nicht, dass du der Experte für mein Leben bist. Warte, lass mich ein Notizbuch holen ...«

»Jij domme man«, zischte Kian.

Ben verschränkte die Arme. »Je zei dat je me zou helpen. Je hebt een vriend voor me georganiseerd. Onze ouders denken dat we al twee jaar samen zijn. Wat, Kian, wat wil je?« Ich verstand zwar kein Wort, aber Bens Stimme klang hart und alles andere als freundlich.

»Jungs«, rief ich, bevor das Ganze noch ausarten würde. Ich meine, Ben sah ja nicht gerade so aus, als würde er irgendeine Schlägerei ausüben – vielleicht anzetteln, aber wie ein Schlägertyp sah er wirklich nicht aus – aber man konnte ja nie wissen. Unter Brüdern war alles möglich.

»Een steen valt uit je kroon als je dank je zegt, hè?« Kian trat einen Schritt näher an Ben heran.

Das war der Moment, in dem ich von meinem Liegeplatz aufsprang und rasch zwischen Kian und Ben schlüpfte.

»Leute!«, sagte ich ungeduldig. Kian und Ben starrten sich kampflustig an. Es sah ein wenig witzig aus, weil Ben einen guten Kopf größer war als Kian, doch das hielt den Jüngeren nicht davon ab, seinem Bruder die Stirn zu bieten. Deswegen schob ich die beiden an der Brust auseinander. »Streiten ist keine Lösung!«

Es überraschte mich selbst ein wenig, dass ich nun mit solchen Moralapostel-Sprüchen kam, schließlich war ich die letzte, die nicht gerne debattierte, allerdings machte es wirklich keinen Spaß, wenn man nichts verstand, weil die Streitenden eine andere Sprache sprachen.

»Hannah hat recht«, sagte Kian. Er war der, der nachgab. Immer. Ben würde niemals nachgeben, dazu war er viel zu reserviert und zu stur.

»Richtig. Hannah hat immer recht«, nickte ich.

Bens Mundwinkel wanderten daraufhin ein wenig höher. »Ach ja?«

Unser Rendezvous wurde allerdings unterbrochen, weil ich — gerade noch rechtzeitig — im selben Augenblick einen hellen Haarschopf mit Gabriellas Luchsaugen erblickte.

»Furie auf drei Uhr«, zischte ich gerade noch rechtzeitig. Ben lachte rau, ganz leise, mein Herz begann rascher zu schlagen und Kian zog eine Braue hoch.

»Wie bitte?«, fragte er, aber Ben war schneller. Er zog mich zu sich, als wäre ich ein nasser Kartoffelsack, und platzierte seine Hände auf meinen Hüften. Ich spürte seine Nähe, seine kalte Badehose; seine Fingerspitzen auf meiner nackten Haut. Er legte sein Kinn auf meinen Kopf.

Auf einmal fühlte es sich so an, als würde ich alle seine Bewegungen viel intensiver wahrnehmen, als davor. Außerdem ... ich mochte das. Ich mochte es, dass er mich so zu sich zog und dass er mich vor seiner Furienmutter beschützen wollte. Das bedeutete schließlich, dass das ganze Reden endlich etwas gebracht hatte.

Gabriella stolzierte in ihrem wunderschönen, weißen Strandkleid direkt auf uns zu. Ich wappnete mich bereits, dass sie gleich wieder irgendwas gegen mich sagen würde, aber zu meiner Überraschung sagte sie nichts, was sich in irgendeiner Form gegen mich richtete. Zumal ein Atemzug meinerseits für sie ja schon ein Mordgrund war.

»Kian, was tust du da? Du solltest dich einschmieren, dein Rücken ist schon ganz rot«, sagte sie zu ihrem Sohn und sah ihn streng an. Kian sagte nichts dazu, doch ich sah, wie sehr er sich zusammenreißen musste, um brav zu nicken und sich umzudrehen. Mist, jetzt waren nur noch der Drache und Ben da.

Unwillkürlich rutschte ich ein Stück näher zu Ben. Er wirkte kurz verwirrt, doch dann lehnte er sich gegen die Reling und zog mich ein Stück weiter zu sich. Mein Herz setzte einen Takt aus, doch dann wanderte mein Blick wieder zu Gabriella, und mein Herzschlag raste wieder in die Höhe.

»Hier seid ihr.« Ihre Stimme klang kalt. Wie eigentlich immer.

Eisbären würden vor ihr davon rennen, weil sie diese Kälte nicht einmal vom Nordpol gewohnt waren. Gäbe es noch mehr von Gabriellas Sorte, hätten wir das Problem mit der Klimaerwärmung auch gelöst.

»Ja, hier sind wir«, sagte ich bestimmt. Ich verschränkte die Arme und sah sie kampflustig an. Ohne Ben hinter mir, dessen Herz übrigens genauso schnell schlug wie meines, hätte ich mir diesen Ton wohl nie erlaubt, aber mit ihm an meiner Seite fühlte sich alles ein bisschen leichter und ein bisschen erträglicher an.

Vielleicht deswegen, weil er einfach ganz neue Standards setzte. Neue Standards was ›erträglich‹ und ›unerträglich‹ anging.

Gabriella räusperte sich und zog eine Braue hoch.

»Mhm.«

Sie sah von Ben zu mir und dann zu der Hand, die Ben auf meiner nackten Hüfte platziert hatte. Immerhin trug ich nach wie vor meinen blauen Badeanzug.

»Was gibts, Moeder?«, fragte Ben. Seine Worte klangen messerscharf. Irgendwie sexy.

Ich war froh, dass er redete. Vielleicht würde er mich ja endlich einmal unterstützen, was seine Mutter anging. Und wieso dachte ich jetzt schon wieder über Bens vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Sexappeal nach?

»Ich wollte euch lediglich zum Abendessen holen«, sagte Gabriella spitz. »Vorausgesetzt, ihr seid ... fertig

Sie verzog ihre Lippen zu etwas, das wohl einem Lächeln gleichen sollte. Ich räusperte mich und trat einen Schritt von Ben weg. »Äh, ja, welch ein Glück. Wir sind gerade ... fertig geworden.«

Womit genau, das wusste ich selbst nicht so recht, aber immerhin konnte ich damit ihren Adleraugen entweichen.

* * *

Nach dem Abendessen spielten wir noch eine Weile Karten auf dem Deck. Mittlerweile hatte ich auch ein paar mehr Worte mit Barbie — ich meine, Lisa — gewechselt; warm waren wir allerdings noch immer nicht richtig geworden. Sie schien nett zu sein, sprach aber fast gar nicht. Erst hatte ich es auf Deutsch probiert, da ging nichts. Dann auf Englisch, aber auch in dieser Sprache waren die Möglichkeiten begrenzt.

»Was haltet ihr davon, wenn wir einen Film schauen?«, fragte Kian in diesem Augenblick, als wir gerade mit der letzten Runde UNO fertig wurden.

Ich streckte mich und gähnte, ehe ich mich nach hinten auf ein Outdoor-Kissen lehnte. Selbst abends war es noch so warm, dass man bequem mit einer Weste draußen sitzen konnte.

»Welchen willst du schauen?«

»Ich weiß nicht, ich dachte vielleicht an Star Wars oder Joker?«, erwiderte Kian, deutlich begeistert darüber, dass ich auf seinen Vorschlag einging. Lisa lehnte sich gegen ihn, woraufhin er sie mit einem liebevollen Lächeln in die Arme nahm.

Ein kleiner Stich durchzuckte meinem Herz.

Unwillkürlich wanderte mein Blick zu Ben, der allerdings auf den Dielen lag und einfach in den Himmel starrte.

Von ihm würde ich wohl niemals eine solche Annäherung bekommen — ob gespielt oder echt. So war er eben nicht. Menschliche Annäherung schien ihm nicht so wichtig zu sein, wie anderen. Diese innige Umarmung heute an Deck war das engste, was ich von ihm bisher bekommen hatte — und das auch nur, weil Cruell—, ich meine, Gabriella, im Anmarsch gewesen war.

»Hm«, murmelte ich.

Beide Filme klangen nicht ganz nach meinem Geschmack. Bei Star Wars war ich genötigt worden, die ersten drei Teilen zu schauen, während mir Superhelden und Figuren aus dem Marvel-DC-Universum gar nichts gaben. Ob man es glaubte oder nicht — in Sachen Filme war ich nämlich ein riesiger Fan von Stücken wie 10 Things I Hate About You oder Legally Blonde.

»Ben, was sagst du dazu?«, wandte ich mich an meinen lieben Freund. Ich sprach extra laut, weil ich wollte, dass Gabriella auch ja kapierte, wie real diese Beziehung war. Kians Worte von heute Vormittag hatten mich zum Nachdenken gebracht.

»Wozu?« Er rappelte sich hoch und stützte sich auf den Unterarmen ab.

»Zu den Filmen! Star Wars oder Joker?«, wiederholte ich.

»Star Wars? Ist das ein wissenschaftlicher Film über die Entstehung der Erde?«, fragte er so ernst, dass ich nicht anders konnte, als in schallendes Gekicher auszubrechen.

»Was denn?«, fragte er genervt.

»Du ... das ... das ist ein ...«

Kian übernahm das Sprechen für mich. »Das ist ein Science-Fiction-Film.«

»Weiß ich doch. War nur ein Scherz.«

Aber ich war mir nicht sicher, ob das wirklich ein Scherz war.

Wir entschieden uns schließlich für Harry Potter, Teil vier, weil ich darauf plädierte. Immerhin war das mein Lieblingsband der Reihe. Entgegen aller Askaban-Fans war das in meinen Augen der beste Film der Reihe.

»Dann lasst uns mal reingehen.« Ich sprang von meinem Sitzkissen hoch, plötzlich hatte ich nämlich ziemlich viel Lust auf diesen Film. Ben hingegen war da deutlich entspannter — ich musste ihn mit den Armen hochziehen, weil er selbst nicht aufstehen wollte.

»Jetzt komm endlich«, zischte ich, mittlerweile schon ein bisschen genervt.

»Ich mag aber nicht«, murmelte Ben.

»Du bist wie ein kleines Kind!«, rief ich und riss die Hände gen Himmel. Das war doch nicht auszuhalten!

»Und wenn?«, fragte Ben.

»Jetzt steh endlich auf«, murrte ich.

»Kommt ihr?«, kam es von Kian, der bereits auf der Treppe ins Innere des Schiffes stand.

»Wir haben hier eine kleine ... Situation«, antwortete ich genauso laut.

»Ben, beweeg je reet hierheen«, rief Kian laut. Daraufhin murrte Ben noch ein bisschen vor sich hin, aber er stand im Endeffekt auf.

Ich verschränkte die Arme. »Aha, so ist das also. Auf deinen Bruder hörst du, aber auf mich, deine Freundin, nicht?«

»Wir sind eigentlich gar nicht zusammen«, flüsterte Ben mir zu.

Ja, das wusste ich auch selbst.

Aber in den letzten Tagen hatte ich so oft und so viel mit ihm zutun gehabt, dass der Gedanke von ihm als mein Freund immer akzeptabler wurde.

»Halt den Mund und geh«, sagte ich kühl.

»Wow, du kleine Despotin«, sagte Ben augenrollend.

Ich warf die Haare über meine Schulter und stolzierte, anstatt Ben weiter zuzuhören, einfach zu Kian. Dieser setzte den Weg zu seiner und Lisas Kajüte, die genauso aussah, wie Bens und meine, fort. Auch bei ihnen nahm das Bett eigentlich den größten Teil des Zimmers ein, doch während Ben unsere Bettdecken ordentlich gefaltet und mit einer Tagesdecke zugedeckt hatte, lag das Laken hier verknittert in einer Ecke.

Kian sprang mit einem Satz auf das Bett, das gefährlich unter ihm nach gab.

»Mach mal Platz, Fetti«, zog ich ihn grinsend auf. Er sah mich empört an.

»Du nennst mich fett?«, rief er empört.

»Das Bett wäre gerade fast durchgebrochen, also — ja.« Ich nickte. Kian rutschte brav zur Seite, sodass ich mich ebenfalls aufs Bett kuscheln konnte. Lisa setzte sich zu ihrem Freund. Erst mit einiger Verspätung tauchte Ben im Türrahmen auf, gerade rechtzeitig, als Kian bereits sein iPad mit dem Fernseher an der Wand verband und sich in sein Netflix einloggte.

Hach, ich wünschte, ich könnte mir das leisten.

Aber dass Geld nur eine Förmlichkeit bei den Van Hagens war, hatte ich ja bereits herausgefunden.

»Habt ihr etwa schon ohne mich angefangen?«, fragte Ben ein wenig entrüstet. Er sah wenig begeistert aus, als er näher kam und sich am Fuße des Bettes niederließ.

»Entspann dich, Brüderchen. Ist ja nicht unsere Schuld, wenn du genauso schnell unterwegs bist, wie unsere Großmutter.« Kian grinste. »Außerdem kannst du dich ruhig normal zu uns setzen, wir beißen ja nicht. Wobei, bei Hannah ...« Kian sah mich abwartend an.

»Ja, ich liebe es Menschen zu fressen, besonders so zähe Exemplare wie Ben«, murmelte ich augenrollend. So ein Blödsinn. War es nicht Kian selbst gewesen, der mich heute gebissen hatte?

»Da hast du's«, nickte Kian. Ben rutschte eher widerwillig zu uns. Er sah nicht so aus, als würde ihm das alles gefallen.

»Entspann dich«, flüsterte ich ihm zu, während Kian sich darüber beschwerte, dass das Internet so langsam war. Himmel, wir sollten froh sein, dass es überhaupt Internet hier an Bord gab!

»Ich bin entspannt«, sagte Ben zähneknirschend.

»Hm, ja. Merkt man«, sagte ich ironisch.

»Lass mich!«

»Ich lass dich ja eh in Frieden ...«

»Gut so.«

Mit diesen Worten lehnte Ben sich endlich tiefer in die Kissen zurück und die epische Intromusik von Harry Potter erklang.

* * *

Es war eine gute Stunde vergangen.

Kian und Lisa kuschelten, manchmal hörte man ihr leises Geschmatze. Ben und ich saßen daneben und zwangen uns, auf den Bildschirm zu schauen. Bloß nicht die Augenwinkel fokussieren. Bloß nicht. Man, war diese Geräuschkulisse ekelig. Kian und Lisa beim Rumschmatzen zu sehen (und zu hören), fühlte sich einfach nur merkwürdig an.

»Sucht euch bitte ein Zimmer«, stöhnte Ben irgendwann in die gestörte Stille hinein. Also war es nicht nur mir aufgefallen.

Kian löste sich von seiner Freundin. »Wir sind in unserem Zimmer!«

»Dann geht woanders hin! Wir schauen hier einen Film!« Ben fuhr sich genervt durch die dunkelbraunen Haare. Ich nickte und pflichtete ihm bei. »Richtig. Wir wollen den Film fertig schauen — ohne intervenierende Geräuschkulisse, die sich so gar nicht mit dem Orchester vereinbaren lässt!«

»Oh mein Gott«, stöhnte Kian genervt. Allerdings rappelten er und Lisa sich dann doch noch hoch. Er zog sie an der Hand mit sich mit. Keine Ahnung, wo die beiden hingingen, aber sie schlossen hinter sich die Türe, sodass wir das ekelige Geschmatze nicht länger mit anhören mussten.

Stille legte sich über uns, als Ben und ich schließlich alleine in Kians Zimmer waren. Nur Harrys komische deutsche Synchronstimme durchdrang die Leere.

»Die Stimme ist echt so bescheuert«, murmelte ich irgendwann kopfschüttelnd.

Ben lachte leise. »Stimmt. Hast du es schon einmal auf Niederländisch geschaut?«

Ich schüttelte den Kopf. Natürlich nicht — ich verstand ja sowieso kein Wort davon.

»Da klingt es noch schlimmer«, erklärte Ben augenrollend.

»Gott sei Dank versteh ich kein Niederländisch«, sagte ich leise.

»Es ist eigentlich keine so schlimme Sprache, wie alle immer tun«, sagte Ben. »Und wenn man langsam spricht, ist es dem Deutschen eigentlich ganz ähnlich.«

»Wirklich? Sag mal etwas, das ich verstehen kann«, rief ich, diesmal mit etwas mehr Begeisterung. Ich setzte mich auf; während des Films war ich in eine schlafähnliche Position gerutscht, und sah Ben erwartungsvoll an.

»Je hebt mooie ogen«, sagte er. Er sah mich so forsch, so durchdringend an, dass ich erst einmal schlucken musste, bevor ich weitersprechen konnte.

»Je hebt — was?«, fragte ich. Ich hatte nichts verstanden. Null Komma Josef, wie man in Wien so schön sagte.

»Je hebt mooie ogen«, wiederholte Ben sich.

»Fehlanzeige«, murmelte ich mit einem Kopfschütteln.

»Ich sagte: Du hast schöne Augen«, erklärte Ben. Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte mit Vielem gerechnet, aber nicht damit. Der Zirkus in meinem Magen drehte wieder voll auf, während ich mich räusperte. Himmel, diese Elefanten in meinem Bauch sollten wirklich dressiert werden.

»Ähm ... Danke«, murmelte ich. »Was heißt das auf Niederländisch?«

»Dank je wel«, übersetzte Ben.

Kam es mir nur so vor, oder waren wir uns näher gerutscht? Ich sah auf unsere Hände und räusperte mich, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Die Hitze auf meinen Wangen nahm Dimensionen an, von deren Existenz ich nicht einmal wusste. Nervös strich ich mir eine Haarsträhne aus der Stirn.

Ben hingegen wirkte ruhig und gelassen. Er hatte diese stoische Ruhe und doch dieses brennende Charisma, dass er nicht selten einsetzte, um seinen Willen durchzusetzen.

Nicht selten — aber jetzt hatte ich das Gefühl, dass der wachsame Blick aus seinen blauen Augen mir galt. Nur mir, ohne irgendwelche Charisma-Tricks.

»Der ... Film«, murmelte ich schließlich und wandte den Blick von Ben. Ich war mir nicht sicher, ob ich gerade einen Moment zerstört hatte, aber ... Ben und ich waren uns so nahe gewesen, und wer weiß, vielleicht hätten wir ...

Vielleicht hätten wir uns geküsst.

Wäre das etwa eine Tragödie gewesen?

Nein, keine Tragödie, aber zumindest etwas, woraus Sophokles ein ziemlich gutes Stück hätte machen können.

Ich kuschelte mich tiefer ins Kissen und versuchte, mich auf den Film zu konzentrieren — doch ich schaffte es nicht. Es lag nicht daran, dass ich den Film in- und auswendig kannte — ich fand ihn normalerweise jedes Mal aufs Neue spannend — sondern ...

Mich beschäftigte die Frage: Was wäre, wenn ich nicht zurückgewichen wäre?

Hätten Ben und ich uns dann geküsst?

Und was würde das für diese Situation bedeuten?

Für mich?

Ich schluckte und versuchte, all diese Fragen in die hintersten Winkel meines Bewusstseins zu schieben. Ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Viel lieber wollte ich Harry dabei zusehen, wie er Aufgabe um Aufgabe im Wettbewerb meisterte.

Ich war schon so in Gedanken versunken, dass ich ein wenig zusammenzuckte, als Ben plötzlich einen Arm um mich legte. Völlig aus dem nichts — die Überraschung traf mich eiskalt. Und die Verwunderung.

»Was—«, begann ich, aber Ben legte einen Zeigefinger auf die Lippen. Stattdessen zog er mich noch ein wenig enger zu sich, sodass ich meinen Kopf auf seine Brust legte und sein Herz laut und schnell gegen seine Rippen pumpen hörte.

»Psst«, machte Ben nur. »Wir wollen Harry ja nicht ablenken.«

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Auf einmal hatte ich nichts dagegen, dass ich Ben so nahe war. Mein Herz schlug vor Aufregung ein wenig schneller. Ich legte meine Hand auf sein Brustbein, wo ich abwechselnd immer wieder Kreise fuhr.

Und ich genoss es.

Ich genoss jede Sekunde; ich genoss es, Bens herbes, kühles Rasierwasser zu riechen; ich genoss es, seiner Brummstimme zu lauschen, wenn er Harry durch den Fernseher anmeckerte, und ich genoss es, dass wir so dalagen, aneinander gekuschelt.

Wie ein Paar.

Denn — das waren wir doch.

Und langsam fragte ich mich, wie viel davon eigentlich gespielt war.

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