Kapitel 20 - Eine richtige Sexmaschine

Irgendwie war die Situation komisch zwischen Ben und mir — und das lag an ihm. Eindeutig. Er hatte die Angewohnheit, immer Dinge zu sagen, in die man Gott und die Welt hineininterpretieren konnte. Aber was er damit wirklich meinte? Keine Ahnung.

Seine Worte jedenfalls blieben mir noch lange im Gedächtnis.

Du hast mich schon einmal gefunden, Hannah.

Meinte er damit die Umstände, durch die wir uns kennengelernt hatten?

Oder meine er damit, dass ...

Ich wusste es selbst nicht. Denkbar wortkarg war ich (unglaublich, aber wahr), als wir langsam zurück in die Richtung der Yacht gingen. Wir schlenderten mit einigem Abstand durch die stillen, verlassenen Gassen von Puerto Limón. Auffallend war, dass die streunenden Tiere sogar bei Touristen alles gaben und sich nicht ins Hemd machten; mehrmals spürte ich das pelzige Streifen eines Hundes oder einer Katze — so genau konnte ich das in der Dunkelheit nicht sehen — an meinen Waden.

»Da lang«, murmelte Ben und nickte im Richtung des Hafens. Ich war froh, dass er einen guten Orientierungssinn hatte und dass er die Koordination unseres Spaziergangs in die Hand nahm. Wenn ich alleine gewesen wäre, hätte ich mich längst rettungslos in diesen winzigen, unebenen Gassen verlaufen — für mich sahen die nach wie vor alle gleich aus.

Wenn du alleine wärst, wärst du gar nicht erst hier. Dann wärst du wohl bei Hendrik und Gabriella, oder auf dem Schiff, aber sicher nicht in der Altstadt unterwegs. Es war ja nicht so, als hätte ich Angst, vergewaltigt oder verschleppt zu werden, allerdings rückte ich unterbewusst bei jeder dunklen Gasse oder größeren Kreuzung ein wenig näher zu Ben.

Die Vredesduif lag so still vor uns, dass man meinen könnte, sie wäre bis auf die letzte Person verlassen.

Vorsichtig ging ich den Steg entlang, bis ich vorne angekommen war, und blickte unschlüssig auf das Schiff. Die rollbare Treppe war eingezogen — kein Idikator war zu sehen, dass man hier rein konnte.

»Wie sollen wir da hinein?«, fragte ich Ben sogleich meinen Gedanken.

Er pfiff einmal mit den Fingern. Zu meinem Erstaunen tauchte kurz darauf einer der Männer vom Nachmittag auf, die für die Ordnung auf hoher See sorgten. Er erkannte Ben natürlich sofort, weshalb er sich auch gleich daran machte, die Verbindung zwischen Land und Wasser aufzubauen. Mir war diese wackelige Hängebrücke immer noch nichts ganz geheuer, aber ich konnte mich auch nicht beklagen.

»Aha«, murmelte ich.

Die Tatsache, dass keiner von uns etwas zu unserer vorigen Intimität — ich war mir sicher, dass nicht nur ich das gespürt hatte — sagte, machte das Ganze noch komischer. Zu wissen, dass etwas unausgesprochen zwischen uns lag, verbesserte die Sache wirklich nicht, zumal ich nicht wusste, was es war.

»Kommst du?«

Als ich aufsah, merkte ich, dass Ben mich erwartungsvoll vom Fuße der Brücke ansah. Ich nickte.

»Bin schon auf dem Weg, Captain«, versuchte ich, erheitert zu klingen, doch es misslang mir. Aber Ben grinste trotzdem, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass alles zwischen uns okay war.

* * *

Die Kajüte war erschreckend klein.

Ich hatte ja schon zuvor Schiffskajüten gesehen und ich wusste auch, worauf ich mich mit dieser Reise anließ. Aber ... dass es so klein war, hätte ich auch wieder nicht gedacht.

»Mit etwas Glück kann man sich einmal umdrehen und landet vom Bett in der Dusche«, murrte ich. Die Poolboys hatten meinen enormen Koffer, der ungefähr ein Drittel des Raumes einnahm, bereits heruntergeschafft. Bens Koffer sah im Gegensatz dazu wie meine Toiletttasche aus.

»Spart man sich die Energie«, sagte Ben schulterzuckend und begann das Gewand aus seiner Tasche in den kleinen Schrank zu sortieren.

»Ich glaube, wenn ich hier länger als notwendig bin, bekomme ich klaustrophobische Zustände und schwimme nach Frankreich«, murrte ich weiter vor mich hin. Hier war die Luft zwar immer noch stickig, allerdings erleichterte die Klimaanlage mir das Leben.

»Soll ich dir ein Schlauchboot spendieren?«, fragte Ben grinsend. »Ich glaube, ich habe noch eines aus meinen Kindheitstagen.«

»Seh' ich etwa so aus, als könnte ich zehntausend Kilometer paddeln?« Meine Stimme klang entgeistert — diese Situation machte mich panisch. Die Enge, die durch das Bett und die Kästen gänzlich aufgefüllt wurde, und dann noch Ben, der mir ständig im Genick saß. Ob ich in den nächsten Tagen jemals zur Ruhe kommen würde?

Ben schien mir ziemlich gut vom Gesicht ablesen zu können, was ich dachte. »Ah, du gehst geistig wohl gerade das Privatsphärendilemma durch. Ja, also auf dem Schiff ... Sagen wir es so, Privatsphäre ist eine Rarität, aber sie existiert.«

»Ach ja? Wo? Am Klo?«, fragte ich scherzhaft.

Ben blieb ernst.

»Nicht im Ernst?«

»Naja, immerhin«, sagte er schulterzuckend und sprang der Länge nach auf das Bett. Die Matratze gab gehörig unter seinem Gewicht nach. Ben legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Polster.

Ich dagegen ignorierte seinen forschen Blick und begann meinen Koffer auszuräumen. Viel davon konnte ich sowieso nicht verstauen, das meiste müsste wohl in der Plastikschale bleiben, bis ich es brauchte (und gemessen daran, wie viel Delia eingepackt hatte, würde ich das wohl nie alles brauchen).

Ich dachte wieder an Delia zurück.

Dieses Gefühl von Heimweh war mittlerweile so groß, dass ich es kaum noch ignorieren konnte, weshalb ich mir fest vornahm, morgen in der Früh zuhause anzurufen. In Wien. Hoffentlich war das Telefonieren von Costa Rica nach Österreich nicht so teuer — ansonsten würde ich Kian einfach gleich einen Ordner mit 300 Seiten an Spesenausgaben überreichen. Wie er mir, so ich ihm.

»Wer hat das denn so blöd da rein geschreinert?«, murmelte ich kopfschüttelnd und versuchte den Schrank irgendwie zu öffnen. Man musste dafür ein halber Akrobat sein. Obwohl ich groß war, musste ich mich nach links hinüberstrecken.

»Tja, manche Leute sind eben mit einer gewissen Intelligenzallergie gesegnet«, kam es von Ben.

Mürrisch nickte ich. »Hier scheint's ein ganz schlimmer Fall gewesen zu sein. — Wie sieht nun eigentlich der Plan aus? Was machen wir morgen?«

Ben gähnte herzhaft, was mich leider ansteckte, ehe er antwortete: »Wir werden rausfahren. Aufs Meer. Die ersten Tage verbringen wir üblicherweise in San Andrés. Eine kleine Insel, nordöstlich von Puerto Limón.« Er gähnte erneut. Seine Augen waren ein wenig gerötet, was wohl von den letzten Tagen kam. Der Jetlag war immer noch nicht ganz weg.

Ich selbst hatte mit dem Jetlag nicht so ein großes Problem, weil ich grundsätzlich eigentlich immer müde war.

»Mhm«, gab ich von mir und verstaute meine T-Shirts und Hosen in dem Kasten. Darunter gab es eine Lade, in die ich meine Bikinis gab. Schließlich fehlte mir nur noch die Unterwäsche, die musste ich noch wegräumen, und so kindisch das auch war, ich warf einen Blick zu Ben hinüber, um zu sehen, ob er mich beobachtete. Als ich glaubte, unbeobachtet zu sein, sortierte ich meine BHs und Slips in die Lade.

»Du hast echt viel Zeug mit«, kommentierte Ben schließlich mein Handeln, nachdem ich die Lade geschlossen hatte. Die Wärme stieg mir ins Gesicht.

»Wie kommst du denn jetzt da drauf?«

»Das waren doch sicher ... zwanzig Unterhosen?«, fragte er.

Unterhosen. Und ich dachte, ich wäre die Einzige, die das noch sagte.

»Na und? Als Mädchen muss man für jede Situation gewappnet sein, oder hast du schon mal eine gestreifte Unterhose unter einer weißen Culotte angezogen?«, fragte ich schnippisch. Ben zog die Augenbrauen hoch und legte sich auf die Seite. Ich spürte nach wie vor seinen Blick auf mir, als ich meinen Koffer unters Bett schob und mein Toiletttäschchen schließlich ins Badezimmer räumte.

... Oder das, was das Badezimmer sein sollte.

Es handelte sich dabei um eine Nische, in der eine ›Dusche‹ untergebracht war, einen großen Spiegel, einen Wandschrank und ein Waschbecken. Keine Ahnung, wo die Toilette war. Oder sollte dieser kleine Hocker in der Dusche etwa das Klo sein?

Als ich vom Zähneputzen zurückkam, waren Bens Augen bereits geschlossen. Ich war mir nicht sicher, ob er schlief, oder nicht, denn er atmete ruhig. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam. Ich wechselte rasch mein Gewand gegen meinen Schlafanzug, ehe ich das Licht löschte und ebenfalls ins Bett kroch. Ein anstrengender Tag ging zu Ende und mit seinem Ende brach der erste Tag an, den ich in Costa Rica gänzlich verbrachte.

* * *

Die Sonnenstrahlen kitzelten mich auf der Nasenspitze. Erste Wahrnehmungen und Eindrücke bahnten sich langsam den Weg in mein Bewusstsein. Es war ganz ruhig, ich hatte das Gefühl, wie auf einer Schaukel hin und her zu schwenken.

Mit einem Lächeln klappte ich schließlich die Augenlider auf und streckte mich. Um mich herum war es ruhig — Ben war aufgestanden. Als ich die zerknüllten Laken befühlte, wo er geschlafen haben musste, spürte ich nichts als die Raumtemperatur. Er war also schon länger auf.

Schließlich schlug ich die Decke zurück und stand ebenfalls auf. Die kleinen, runden Fenster waren genau zwischen Wasser und Luft, sodass ich immer wieder das sah, was oberhalb des Wassers passierte, aber auch was unter dem Meeresspiegel passierte. Sonderlich spannend war das aber nicht — außer Plankton, das am Boot vorbeidümpelte, gab es nichts zu sehen.

Als ich schließlich auf leisen Tatzen meinen Pullover überstreifte, um nicht völlig entblößt auf dem Schiff herumzuschleichen, hörte ich von oben ein paar Geräusche. Man unterhielten sich, irgendwer lachte laut. (Vermutlich Kian. Er war schließlich leicht zu unterhalten.) Ich folgte den steilen Treppen hinauf auf das Deck, wo bereits die pralle Sonne hinknallte.

»Morgen!«, rief Kian fröhlich, immer noch lachend, als er mich erblickte. Ich nickte ihm zu.

»Guten Morgen«, lächelte ich.

Mit den Fingern versuchte ich, meine Vogelscheuchenfrisur (leider boten die Eisenscharnieren des Buges eine gute Gelegenheit als Spiegel) irgendwie unter Kontrolle zu bekommen, doch es half nichts mehr außer einem strengen Zopf, der mich wohl wie eine Klosterfrau aussehen ließ.

»Gut geschlafen?«

Kian hatte es sich mit seiner Freundin Lisa auf zwei Campingstühlen gemütlich gemacht. Das Boot dümpelte ruhig vor sich hin — überrascht stellte ich fest, dass wir gar nicht mehr im Hafen waren! Stattdessen fuhren wir auf dem freien Meer, die Gischt spritzte auf der Seite des Bugs, der immer wieder durchs Wasser glitt. Durch die Modernität der Yacht merkte man kaum, wie sich das Boot lautlos über die Wellen bewegte, doch nun, da ich den Motor hörte, war es kaum zu übersehen.

Ich nickte.

»Die erste Nacht ist wohl die kritischste«, grinste Kian. Er zwinkerte.

»Wir haben ja schon in Mexiko nebeneinander geschlafen«, wandte ich etwas leiser ein und setzte mich neben die beiden. »Apropos, wo ist eigentlich Ben?«

Kian nickte mit dem Kopf zur Seite. »Der macht Frühstück. Seine Profession.« Er rollte die Augen. »Er hat es sich mit vierzehn Jahren zur Aufgabe gemacht, das perfekte Rührei und den perfekten French Toast zu machen. Wenn du mich fragst, kann er's eh schon gut. Aber er ist immer unzufrieden; zu viel Milch, zu viel Salz, zu wenig Honig, bla bla bla.«

»Und ... wo finde ich ihn?«, gab ich etwas vorsichtiger zurück.

Kian stutzte einen Moment. »Ihr versteht euch gut, was?« Ohne auf meine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Hinten in der Küche.«

Na toll.

Und wo genau war ›Hinten in der Küche‹?

Ich bedankte mich und folgte Kians spärlicher Beschreibung. Das Boot war ungefähr zwanzig Meter lang, dementsprechend konnte ich eine Weile nach der Küchenkajüte suchen. Ich machte die Rechnung allerdings ohne meine Sinne, denn je weiter ich mich dem Ende der Yacht näherte, umso intensiver wurde der Geruch nach Speck und Ei. Mein Magen begann automatisch zu grummeln; das Wasser lief mir im Mund zusammen. Zwar lagen mir die Kohlenhydrate von gestern noch im Magen, allerdings war ich schon wieder — oder noch immer, man wusste es nicht so genau — hungrig.

Ich folgte meiner Nase, die mich geradewegs die Treppen hinunter in den anderen Teil des Wohntraktes führte. Unterm Deck hörte ich leise Geräusche eines Radios. Erst, als der Geruch nach frischem Essen so intensiv war, dass ich mir sicher war, die Küche gefunden zu haben, fielen mir Titel und Interpret des Liedes ein. Starting Over von John Lennon. Das Grinsen tätowierte sich wie von selbst auf meine Lippen, während ich um die Ecke ging und schließlich Ben erblickte.

Ich gönnte mir diesen einen Augenblick, um ihm zuzusehen, während er noch nicht wusste, dass ich da war.

Ben trug ein hellblaues Hemd, das bis zu den Ärmeln hochgekrempelt war, und eine rote Badehose, mit der er glatt bei Baywatch hätte mitmachen können. Seine Füße waren nackt, genau wie seine Beine. Er summte zu der Musik, die aus einem antik aussehenden Radio dröhnte, deren Antenne höher stand als so manch ein ...

Belassen wir es besser beim Jugendfreien.

Jedenfalls schwenkte Ben den Kochlöffel einige Male hin und her, als wäre er sein Mikrofon, wendete die Pfannen und lud den gebratenen Speck auf einen Teller.

Und in diesem Moment kam mir ein teuflisch genialer Plan.

Ganz leise schlich ich mich näher; er hatte mich immer noch nicht bemerkt. Während das Lied zu Good Riddance von Green Day wechselte, lud er das gebratene Ei auf den Teller und steckte zwei Scheiben Schwarzbrot in den Toaster. Das war meine Gelegenheit!

Ich flitzte flink aus meinem Versteck hinter ihm, nutzte den Überraschungseffekt aus und schnappte mir den Teller. Das Ganze ging so schnell, dass ich mir gerne selbst auf die Schulter geklopft hätte, wenn ich denn so gelenkig wäre.

Am liebsten hätte ich den Blick auf Bens Gesicht beobachtet und mich an seiner Verblüffung erlabt, doch ich wusste, dass er ziemlich gut im Kopfrechnen war und eins und eins recht schnell addieren würde.

Wie zur Bestätigung dröhnte seine wütende Stimme durchs Schiff: »HANNAH

Jetzt hieß es nur noch: Lauf, oder du wirst Haifutter.

Geschwind sprintete ich mit dem Teller nach oben — leider fiel mir erst am Weg auf, dass ich gar kein Besteck hatte — doch das würde schon irgendwie gehen.

Zu meinem Nachteil kannte Ben sich auf diesem Schiff bestens aus. Mit wenigen Schritten hatte er mich am Deck eingeholt und riss mich an der Schulter zu sich herum. Huch, wenn es um Essen ging, waren wir also beide nicht gerade zimperlich.

»Hannah!«, keuchte er.

»Jaaa?«, fragte ich gespielt überrascht und klimperte mit den Wimpern.

»Du weißt genau, dass ich gewinnen werde«, sagte Ben, mittlerweile wieder um einiges ruhiger. Sein Hemd war zwar zugeknöpft, allerdings hatte er die oberen drei Knöpfe vergessen und in der Hand schwenkte er immer noch den Kochlöffel wie eine Kelle.

»Und du weißt genau, dass ich darum kämpfen werde!«, erwiderte ich genauso motiviert.

Ben zog eine Braue hoch. »Guten Morgen erstmal. Du weißt, dass das nur Essen ist, oder?«

»Nur Essen?«, rief ich entgeistert. Ich zog den Teller enger zu mir. »Weißt du wie selten das ist, dass dir ein Typ Frühstück macht?«

»Das Frühstück war nicht für—«

»Oh, Ben! Du hast Frühstück für deine Freundin gemacht, wie nett!«, hörte ich in diesem Moment die Stimme der Frau, die ich innerhalb der letzten drei Tagen zu verabscheuen gelernt hatte — bis auf diesen Augenblick.

Gabriella stolzierte wie die Königin in personam zu uns; gemessen an der Make-up-Schicht auf ihrem Gesicht war sie schon denkbar lange auf den Beinen. In meinen Augenwinkeln klebte vermutlich noch Arbeitsenthusiasmus vom Sandmännchen.

»Guten Morgen!«, rief ich so gespielt fröhlich, dass ich mir fast schon falsch vorkam. Aber nur fast. »Wie schön dich zu sehen!«

Ich lächelte Gabriella breit an. Sie sah mich etwas abschätzig an, aber das war ich ja schon gewohnt, weshalb ich beschloss, es dieses eine Mal nicht an mich heranzulassen.

»Hannah, lass dir etwas von einer weisen Dame sagen. Männer, die am nächsten Morgen«, sie lachte verschwörerisch und das Peinlich-o-meter stieg mit jeder Sekunde an, »Frühstück machen, sind solche von der Sorte ›behalten und gut aufpassen‹.« Sie lächelte Ben an. »Mein Junge, wie höflich von dir. Ich sehe, meine gute Erziehung hat gefruchtet.«

Ich grinste Ben siegessicher an.

Er sah mit zusammengepressten Lippen zurück.

Gabriella zog mit einigen weiteren Lobsprüchen an sich selbst, wie gut sie ihren Sohn doch erzogen habe, schließlich davon, sodass Ben und ich wieder unsere Ruhe hatten.

»Wieso starrst du mich so an?«, fragte ich. Die Wachsamkeit seiner Augen machte mich unruhig.

»Ach, ich hoffe nur, dass du ganz spontan vor meinen Augen zu Staub zerfällst und an dem Speck erstickst!« Seine Worte klangen schroff.

»Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr willst du mich gerade ins Meer schubsen?«, fragte ich, bloß um die Lage zu checken. Ich warf unauffällig einen Blick zur Reling. Wie weit das wohl war? Das waren doch bestimmt fünf Meter! Ich würde ertrinken, sterben, ich würde—

»Ungefähr irgendwas um die dreißig«, antwortete Ben. Er kam einen Schritt auf mich zu. Ich widerstand nur schwer dem reflexartigen Drang, zurückzuweichen. »Du kleines, hinterhältiges ... Biest! Dieses eine Mal! Jetzt gib mir mein Essen zurück, kapiert? Denkst du, ich stehe in aller Herrgotts Frühe auf, weil es mir Spaß macht?«, zischte Ben.

»Naja, vielleicht wolltest du deiner Freundin auch nur etwas Gutes tun«, sagte ich schulterzuckend. Ich lächelte herausfordernd.

»Ihr beiden!«, rief Gabriella von etwas weiter drüben am Deck. »Kommt doch zu uns und setzt euch!«

Mit ›uns‹ meinte sie sich und Hendrik, den sie notgedrungen auf einen Klappstuhl verfrachtet hatte. Mir blieb zu wenig Zeit, um abzuschätzen, ob ihn das glücklich machte oder eher sein Leben überdenken ließ, aber er wehrte sich nicht.

Mit dem Teller in der Hand stieg ich einfach an Ben vorbei und ging gediegen (zugegeben wackelte ich vielleicht ein bisschen mit der Hüfte) zu meinen erschwindelten Schwiegereltern.

»Wie war die erste Nacht?«, fragte Gabriella und setzte sich eine Sonnenbrille auf. Sie schlürfte an ihrem Eiskaffee. »Mhm, ein bisschen zu kalt ... Juan!« Sie schnippte mit den Fingern, woraufhin sogleich ein Poolboy aus dem Schatten des Oberdecks trat. Himmel, den hatte ich gar nicht gesehen ...

»Die erste Nacht?«, fragte ich piepsig. Mist. Ich hatte mir doch vorgenommen, in ihrer Gegenwart stark zu sein und nicht sofort als Unterlegene aufzutreten. Deswegen räusperte ich mich und ließ mich neben sie fallen. »Ähm ... wir haben wenig geschlafen.«

Tatsächlich lag das einerseits am Jetlag, andererseits daran, dass wir gestern doch erst eher spät nach hause gekommen waren.

Gabriella hingegen interpretierte meine Worte natürlich völlig falsch. Na gut, vielleicht hatte ich da ein wenig nachgeholfen und mich gewählt so ausgedrückt, dass sie kaum über dieses Osterei stolpern konnte. Sie zog sofort eine Augenbraue hoch und sah zu ihrem Mann.

»Oh, Hendrik«, sie lachte laut, »waren wir nicht auch so, als wir jung waren? Damals, in Sylt; wir sind ja kaum aus dem Schlafzimmer gekommen.«

Oh Gott. Zu viel Info, Abbruch, Abbruch!

Hendrik schüttelte einfach den Kopf.

»Moeder ...«, zischte Ben.

Ich beschloss, diesmal ein wenig auf Gabriellas Gerede einzusteigen. Nicht, weil sie mich auch nur im geringsten interessierte. Ich wollte Ben einfach ein wenig ärgern.

Er beugte sich gerade vor und zog einen Stuhl näher heran, weshalb ich seinen Geruch viel deutlicher riechen konnte, als sonst.

Er roch gut.

Himmel, der Schwall in meinem Magen fühlte sich an, als würde irgendwer mit einem Fliegenpracker durch die Gegend rennen und die fliegenden Würmer aufscheuchen ...

»Jaja, Ben ist eine richtige ...« Ich senkte die Stimme, flüsterte beinahe: »Sexmaschine

Ben verschluckte sich neben mir und begann so laut zu husten, dass ich zusammenzuckte. Ha, aber der Blick von Gabriella, den würde ich mir bis zum Tod merken! Ich grinste siegessicher, während Ben das Gesicht in den Händen vergrub.

Ich tätschelte seinen Rücken. »Oh, Schatz, kein Grund zur Scham!« Ich stellte den Teller kurzerhand auf den kleinen Cafétisch und stand auf, um mich auf Bens Schoß zu setzen. Er war völlig überfordert, bodenlos und bis zum Hals, das sah man ihm sogar an, wenn man blind war.

Trotzdem lehnte er sich bereitwillig zurück, sodass ich mich auf ihn setzen konnte und einen Arm um seinen Nacken schlang. »Eines Tages werden wir uns ein Grab teilen, nicht wahr?«

Für mich war das so ungefähr das Romantischste, was ich je gesagt hatte, aber Gabriella sah mich einfach nur pikiert an und stand auf. Konnte man es dieser blöden Kuh eigentlich irgendwie recht machen? Da kramte ich meine verstaubten Schauspielkünste aus Schulzeiten hervor und legte eine Hollywood-reife Vorführung hin — für das?

»Ich werde mal nach Juan schauen«, sagte sie nur und stolzierte möglichst hoheitsvoll davon. Erst jetzt bemerkte ich, dass Hendrik Kopfhörer in den Ohren hatte! Er bekam also von alledem gar nichts mit ... Meine Güte, der Mann war wirklich intelligent!

Sobald Gabriella uns nicht mehr sehen konnte, spreizte Ben die Beine so weit, dass ich ziemlich unsanft wie damals als Kind bei ›Hoppe, Hoppe, Reiter‹ auf den harten Holzboden fiel.

»Au!«, rief ich. »Das tat weh!«

Ich rappelte mich hoch, aber von Ben kam nicht der leiseste Anflug von Reue. War ja klar. Na gut, vielleicht auch verständlich, zumal ich ihm sein Essen geklaut hatte. Allerdings war es gut zu wissen, dass er so empfindlich darauf reagierte. Ich mochte es, Dinge über meine Mitmenschen zu wissen, die mir früher oder später zunutze wurden.

»Oh Hannah, brauchst du vielleicht eine Hand zur Hilfe?«, machte ich Bens Stimme nach (zugegeben nicht meine beste Synchronisation, zumal ich diese Tiefe und Samtigkeit sowieso nicht hinbekam). »Nein, nein, geht schon. Seh ich etwa so aus? — Möchtest du, dass ich das wirklich beantworte?«

»Soll ich euch zwei vielleicht alleine lassen?«, fragte Ben gereizt.

»Oh man, jetzt schmoll' doch nicht so!«, rief ich und stellte ihm den Teller hin. »Hier, da hast du dein erkämpftes Essen.« Ich verschränkte die Arme.

»Passt schon. Iss es einfach.« Ben klang matt.

»Nein, jetzt will ich es nicht mehr!« Ich klang wie ein kleines Kind, doch ich konnte es nunmal nicht ändern. Jetzt merkte ich nämlich, dass meine Aktion von vorhin ganz und gar nicht okay war, und deswegen wollte ich, dass Ben jetzt sein Essen aß.

»Du kannst mir ja nachher ein Frühstück machen«, antwortete Ben und verschränkte die Arme. »Ihr Frauen gehört doch sowieso in die Küche.«

Dass er feixte, merkte ich natürlich, aber trotzdem konnte ich es mir nicht nehmen, einen fiesen Blick in seine Richtung zu werfen. Seine türkisblauen Augen blitzten gefährlich auf.

»Ach ja? Wenn wir noch bei den Jägern und Sammlern wären, dann vielleicht«, zischte ich. »Und was, wenn ich dich vergifte? Du würdest es gar nicht merken und schwups — tot!«

»Tja, dann hoffe ich, dass das Gift schnell wirkt und ich nicht unnötig leiden muss.«

Überrascht zog ich eine Braue hoch. Ich hatte ja mit Vielem gerechnet, aber nicht damit.

»Ich gehe jetzt eine Runde schwimmen«, kündigte Ben an.

»Schön. Viel Spaß«, knurrte ich. Ben stand auf und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Ich musste mich zwingen, woanders hinzusehen. Schließlich, als er sich umdrehte und zur Reling marschierte, musste ich doch zu ihm sehen. Ich sah nur noch, wie er auf das Gitter kletterte, ehe er mit einem Hechtsprung im Wasser verschwand.

Oh Mann, Hannah. Das war ja mal wieder ein ganz neues Level an Peinlichkeit ...

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