Kapitel 11 - Thijs! Stijn!

Der Flughafen in Mexiko-Stadt war ... sagen wir es so: In meiner Kindheit hatte ich oft in Schönbrunn im Labyrinth gespielt und dachte demnach eigentlich, dass ich einen guten Orientierungssinn hatte. Tja, falsch gedacht, denn hier in Mexiko sahen alle Gänge gleich aus — die Dimensionen dieses Flughafens gingen gegen Unendlich.

Der Boden war grau verfliest und es waren so unglaublich viele Menschen unterwegs. Wie Ameisen strömten sie durch die Gänge, dicht gefolgt von ihren Koffern, als hätten sie die Fährte nach Zucker aufgenommen. Fasziniert betrachtete ich, wie eine Großfamilie zu neunt den Durchgang aus einem Flugzeug verstopfte und sich ein Amerikaner daraufhin furchtbar lauthals aufregte. Sein Englisch glich dem der Schauspieler aus The Big Bang Theory, weshalb ich seine Nation leicht festmachen konnte.

»Kommst du?«

Eine Stimme riss mich aus den Gedanken.

»Hm?«, fragte ich etwas neben der Spur — als mir klar wurde, dass ich gerade reglos mitten im Hauptgang, der zur Gepäckvergabe führte, stehengeblieben war. Wunderbar.

Vom Flugzeug erst einmal runterzukommen war schon eine Heidenaufgabe gewesen. Und das, obwohl es nicht einmal wahnsinnig viele Flugpassagiere gab — bloß hielten die wenigen, die sich tatsächlich Mitte April für einen Flug von Wien nach Mexiko entschieden hatten, nichts von geordnetem Ein- und Aussteigen.

Nach einer halben Ewigkeit jedoch hatten wir es geschafft. Wir, die Überlebenden. Ich grinste bei dem Gedanken, umfasste mein Handgepäck fester und stiefelte los, direkt zu Kian, der mich gerufen hatte.

Ben war schon vorgelaufen, weil der Flughafen in Mexiko-Stadt ein Algenbiotop besaß, als einziger, und er sich das unbedingt ansehen musste. Er hatte mir dann noch einen dreißigminütigen Vortrag darüber gehalten, dass Algen mit ihrer Sauerstoffproduktion unsere Probleme mit Schadstoffen lösen könnten, dann war er voller Enthusiasmus losgedüst — man beachte den Wortwitz — und hatte sich in die schlammigen Algen verguckt. Sollte mir nur recht sein.

»Ich verstehe wirklich nicht, was an diesen Algen so besonders sein soll«, gab ich zu bedenken, als ich endlich bei Kian angekommen war.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass Ben anders ist.« Er grinste. Ich nickte.

»Ja, ich war dumm und jung.«

Ich rümpfte zwar die Nase, aber seien wir mal ehrlich: Es könnte deutlich schlimmer sein, als dass ich hier mit zwei netten Kerlen auf dem Flughafen in Mexiko war. Als mir das wieder einfiel, holte ich mein Handy hervor und textete Delia schnell, dass wir trotz all meiner Sorgen gut gelandet seien und jetzt auf dem Weg zum Hotel waren.

»Wie weit ist es denn zum Hotel?«, fragte ich, während ich Kian im Eiltempo folgte. Er ging wirklich schnell und obwohl ich eigentlich lange Beine hatte, musste ich mich konzentrieren, um nicht zurückzufallen.

»Ungefähr eine halbe Stunde«, antwortete er mit einem Blick auf die Uhr. »Verdammt, meine Eltern erwarten uns sicher schon.«

»Wieso?«

»Sie sind schon heute Morgen angekommen, wir sollen zusammen zum Lunch.«

Zum Lunch. Wie vornehm. Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass die Zeitverschiebung hier ja anders war, als zuhause. Wenn ich aus den verglasten Fronten blickte, sah ich, dass die Sonne hoch am Himmelszelt stand und uns belächelte. Wahrscheinlich war es Vormittag.

»Wie spät ist es überhaupt?«

»Zwölf Uhr«, antwortete Kian. »Also, kurz nach zwölf.«

Ich nickte. Das ergab Sinn. »Wo treffen wir sie?«

»Wen?«

»Na, deine Eltern.«

»Ach so«, gab er grinsend von sich und schüttelte den Kopf. »Sorry, ich bin wirklich müde, meine Leitung ist gerade ein bisschen lang. — Wir treffen sie im Hotel.«

»Muss ich ... muss ich auf irgendwas achten? Muss ich einen Hofknicks machen? Wie spreche ich sie an? Mylady, Mylord? Oder Eure Hoheit?«

Kian sah mich einen Moment an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

»Was ist denn so komisch?«, gab ich ein wenig säuerlich von mir. Die Müdigkeit trug zu meiner Gereiztheit definitiv bei — eigentlich hatte ich gehofft, mich kurz aufs Ohr legen zu können, bevor wir Bens und Kians Eltern entgegentraten. Aber nein, falsch gedacht.

»Sag einfach Mr. und Mrs. Van Hagen. Sie werden dir dann das ›du‹ anbieten und sich vorstellen.« Er grinste. »Sie sind keine Könige oder so. Nur ganz weit entfernt mit dem Adel verwandt. Wir haben zwar einen Landsitz in Den Helder, aber die meiste Zeit meines Lebens habe ich ganz normal in einem Stadthaus in Den Haag verbracht.« Stadthaus. In Den Haag ist das sicher nicht billig.

»Oh«, stieß ich bloß aus. Wie konnte ich bloß so naiv sein? Jetzt dachte er bestimmt, dass ich mich überhaupt nicht vorbereitet habe. Aber irgendwie erfüllte mich doch auch Erleichterung, als ich hörte, dass seine Eltern ›normal‹ seien.

Was ich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht wusste, — normal war ein sehr relativer Begriff und die Van Hagens dehnten die Begriffsspanne definitiv aus.

* * *

Eine gute Stunde später fuhr das schwarze Taxi, in das wir sowohl unsere Koffer, als auch uns selbst, mühevoll eingeschichtet hatten, vor einem riesigen Gebäude vor. Der Eingang wurde durch imposante Steinsäulen, die man aus dem antiken Griechenland gewohnt war, gesäumt, und die Haken des schwarzen Zaunes, der das Grundstück umgab, waren an den Spitzen vergoldet. Zwei Fahnen flackerten über dem Eingang, einmal die mexikanische und einmal die US-amerikanische. Die Treppen empor zu der geflügelten Türe waren aus Marmor. Links und rechts standen zwei Security-Guards und ich fühlte mich unwillkürlich wie bei Men in Black.

In Mexiko war es unglaublich heiß.

Es war zwar erst April, aber schon zu dieser Jahreszeit ließ es sich nur im Schatten aushalten. Ich fragte mich allen Ernstes, wie diese Sicherheitskerle noch nicht krepierten. Sie trugen schwarze Anzüge mit weißen Hemden und Krawatten, alles natürlich langärmelig und ordentlich zugeknöpft. Ich dagegen schwitzte schon mit meiner lockeren Culotte am ganzen Leib.

»Wir sind daaaa-haaa«, trötete Kian, woraufhin Ben genervt zurückgab: »Ach tatsächlich? Wäre mir gar nicht aufgefallen.«

Ich hatte nämlich auf dem Flug auch herausgefunden, dass sie diesen Kreuzfahrturlaub fast jedes Jahr machten — zwar nicht immer in Mexiko oder Costa Rica, aber sie waren schon einmal hier gewesen.

Mein Herzschlag erhöhte sich rasant, als der Fahrer ausstieg und mir die Türe öffnete.

»Passen Sie auf, junge Lady«, sprach er in gebrochenem Englisch, »hier gibt es viele, die Ihnen Schlechtes wollen könnten!«

»... Danke«, murmelte ich irritiert, während ich umständlich aus dem Wagen kletterte und mich erst einmal umsah. Die drückende Hitze umhüllte mich sofort, woraufhin die ersten Schweißperlen auf meiner Stirn zu tanzen begannen. Na toll.

Wenn ich eines nicht war, dann: Hitzeresistent. Sobald die Temperaturen jenseits der 25 Grad lagen, schwamm ich in meinem körpereigenen Salzwasser.

Kian war so freundlich und hievte meinen Koffer aus dem Kofferraum.

»Um Himmels Willen, was schleppst du denn alles mit?«, fragte er grinsend, als er mir den Koffer zuschob.

»Tja, ein paar Steine, drei Liter Wodka und natürlich meinen Wandsafe«, gab ich ironisch zurück, woraufhin Ben den Kopf schief legte.

»Damit wärst du wahrscheinlich gar nicht so schlecht dabei«, steuerte er bei, woraufhin Kian die Augen verdrehte.

»Ben, wenn du dich heute schon betrinkst, wird Moeder ausrasten«, antwortete er süffisant.

»Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß«, sagte Ben schulterzuckend.

Ich stand einfach nur daneben und schüttelte den Kopf. Ich war ja wirklich bereit, vieles zu tun, und geistig war ich vermutlich ein verrücktes Hühnchen, aber mich vor meinen Eltern betrinken? Das überschritt sogar meine Grenzen.

»Können wir jetzt los?«, fragte Ben gereizt. Ich nickte. Hoffentlich gab es drinnen eine Klimaanlage.

Ganz entgegen Gretas Wünschen gab es die tatsächlich und als ich die imposanten Flügeltüren passierte, atmete ich erleichtert auf. Gott sei Dank! Drinnen war es sicherlich drei Grad kühler, wenn nicht mehr. Das Gebläse war so stark eingeschaltet, dass mich sogar ein Frösteln überkam. Die Nebelwolken in meinem Hirn lichteten sich jedoch nur mäßig.

»Da lang«, nickte Ben mit dem Kinn in Richtung der Rezeption.

»Was du nicht sagst«, brummte ich zurück. Mit meinem Koffer, diesem Ungetier, war es gar nicht so einfach, vorwärtszukommen, aber es gelang mir dennoch. Irgendwie. Wahrscheinlich sah ich aus, wie ein Laie. Was ich ja auch war.

»Thijs! Stijn!«

Eine Stimme.

Eine schrille Stimme, die meine Aufmerksamkeit auf sich riss. Die Stimme gehörte zur Aufmachung einer hysterisch winkenden Frau.

»Oh mein Gott, ist das etwa—«

Weiter kam ich nicht, denn Ben nickte.

»Meine Mutter.«

Ich konnte nicht anders, als die Frau anzustarren. Befremdet anzustarren.

Sie hingegen schenkte mir keinen einzigen Blick, sondern ging zu ihren Söhnen und drückte sie fest an sich, als habe sie sie ewig nicht mehr gesehen. Tatsächlich fühlte ich mich ein bisschen fehl am Platz, wie ich in der Lobby stand und zusah. Von der ersten Sekunde an hatte ich den Eindruck, dass sie mich nicht mochte.

»Moeder, ich krieg keine Luft«, beschwerte sich Ben und befreite sich mühevoll aus der Umarmung. Ein Freund von Körperkontakt war er also nicht, gut zu wissen. Sehr sympathisch, wenn man diese tropischen Temperaturen draußen bedachte.

Kian ließ das Getätschel schon eher mit sich machen; er beantwortete alle Fragen brav und lächelte gezwungen. Freundlich, wie er war, erkundigte er sich sogar nach dem Befinden seiner Mutter selbst, seines Vaters, und irgendwelchen anderen Leuten aus den Niederlanden, die ich nicht kannte.

»Und du? Wer bist du?«

Ich sah auf und merkte, dass sich plötzlich alle Augenpaare auf mich gerichtet hatten. Verdammt. Die Dame, deren hinterlassener Eindruck mehr als aristokratisch war, sah mich auffordernd an. Wie sie so dastand, die Lippen gespitzt und die Stirn und Brauen gekräuselt, sah Ben ihr wirklich ein bisschen ähnlich.

»Hannah«, sagte ich kleinlaut und mit einiger Verzögerung.

»Wie noch?« Ihre Stimme war kühler geworden. Ich kaute auf meiner Unterlippe, als wäre sie mein sicherer Anker.

»Hannah Jäger«, gab ich nun eine Spur spitzer von mir. Ich mochte es gar nicht, wenn sich ein Erwachsener über mich hinwegsetzte — und das war genau das, was diese Frau tat. Ich meine, ich war dreiundzwanzig, selbst erwachsen, und musste mir von niemandem irgendwas vorschreiben lassen.

Sie zog eine der perfekt gezupften Augenbrauen hoch und bedachte mich mit einem hämischen Wimpernschlag. Ihre Wimpern hatten sicher fünf Lagen Mascara drauf und krümelten deswegen ein wenig, aber der Lidstrich, der war schon perfekt.

»Du bist also Thijs' Freundin?«, fragte sie. Hätte ich es nicht besser gewusst, würde ich sagen, dass sie mich als nicht gut genug empfand. Hallo? Ich war aber sowas von gut genug für ihren schnöseligen, komischen Sohn! Ich war alles, was man sich als Schwiegertochter wünschen konnte, und noch viel mehr.

Ich zog die Augenbrauen finster zusammen. »Allerdings. Seit zwei Jahren«, sagte ich stolz und legte einen Arm auf Bens Schulter. Ich spürte, wie verspannt er war und wie krampfhaft er versuchte, die Fassung zu wahren. Obwohl er sein Mienenspiel vollends unter Kontrolle hatte, merkte ich doch, wie sehr er brodelte, als wäre er kurz davor, das Ganze Intermezzo zu beenden.

»Wo habt ihr euch kennengelernt?«, fragte Bens Mutter weiter. Sie hatte sich noch nicht einmal vorgestellt und fragte mich schon Löcher in den Bauch.

»Im Sommer. Auf einer ... ähm, Strandparty.« Auf die Schnelle war mir gar nichts eingefallen, außerdem hatten Ben und ich darüber gar nicht geredet. Am liebsten hätte ich mir selbst mit der Hand auf die Stirn geklatscht.

Wieso vergaßen wir auch auf das Wichtigste?

Die Frau schien immer noch nicht überzeugt zu sein. Sie sah mich prüfend an, dann begann sie, mein Äußeres zu bemängeln: »Du solltest deine Haare schneiden. Kurze Haare stünden dir sicher besser. Und iss' mehr, du fällst ja fast vom Fleisch. Auf solche Hungerhaken steht heutzutage keiner mehr.«

Ich riss die Augen auf. »Wie bitte?«, fragte ich fassungslos.

Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe, und mir wurde klar, dass sie es wohl nicht gewohnt war, dass jemand widersprach.

»Schweigen ist eine Tugend, die eine Dame deines Alters beherrschen sollte.«

Mit diesen Worten schritt sie hoheitsvoll an mir vorbei zum Concierge.

Ich sah ihr fassungslos nach. Erstens trug ich meine Haare deshalb so lang, weil sie, wenn ich sie kürzer schnitt, sich wie ein Wischmopp auf meinem Kopf zu kräuseln begannen. Zweitens hatte ich eine Schilddrüsenüberfunktion, die darin resultierte, dass ich nicht zunahm, oder nur langsam. Und drittens ... was bildete sich diese blöde Kuh eigentlich ein, wer sie war?

»Dat was weer nodig, nietwaar?«, gab Ben trotzig an seinen Bruder.

Kian verdrehte daraufhin die Augen. Ich verstand gar nichts. »Ik kan er ook niets aan doen, je had iets kunnen zeggen. Ze is je vriendin, dus verdomme als je iets erg vindt. Stom.«

»Äh, hallo?«, schaltete ich mich ein. »Darf ich vielleicht auch wissen, worum es geht?«

Ben warf Kian einen Killerblick zu, dann wandte er sich an mich. »Sorry, dass meine Mutter dich so angemeckert hat. Sie ist ... anders.«

Trotz meiner Misere musste ich aus irgendeinem Grund grinsen. »Jetzt weiß ich wenigstens, woher du es hast.«

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