Kapitel 10 - Flugzeuggespräche und Eifersucht

Das Boarding dauerte kürzer, als ich dachte. Anscheinend zog es zu dieser Jahreszeit wirklich wenig Menschen nach Mexiko-Stadt, wo es, laut der äußerst zuversichtlichen Wetter-App auf meinem Handy, die mir schon den ein oder anderen Überraschungsschauer beschert hatte, bereits gute dreißig Grad hatte.

Ich nippte an dem Kaffee, den mir Kian gebracht hatte, und wagte gar nicht daran zu denken, wie viel er wohl gekostet hatte. Nicht nur waren allgemein Produkte auf Flughäfen ungefähr dreimal so teuer, sondern die meisten waren qualitativ auch weniger vielversprechend als sie es sein sollten. Der Kaffee schmeckte für diese Verhältnisse ganz gut, aber ich schmeckte eine penetrante Vanillenote aus der Sojamilch heraus.

»Wieso trinkst du eigentlich Sojamilch? Laktose?«, riss mich in diesem Moment eine Stimme aus den Gedanken.

»Hm?«, gab ich etwas verspätet von mir. Wir standen gerade in der Schlange, die sich wie jedes Mal im Gang des Inneren des Flugvogels gebildet hatte. Man sollte ja meinen, wenn weniger Menschen beschlossen, ihren Aufenthaltsort zu wechseln, wäre dieser unvermeidliche Stau nicht der Fall, aber Fehlanzeige: Es dauerte immer noch ewig. Zwar flogen wir in der ersten Klasse, allerdings durften Familien immer als erstes an Bord. Und das dauerte ewig.

»Sojamilch«, sagte Ben und nickte mit dem Kinn zu meinem dampfenden Becher.

»Ach so«, antwortete ich und wiederholte die ewige Tirade. Viele Leute dachten ja, mir täten die Kühe leid oder so. Andere dachten, ich würde glauben, so irgendwas in der Nachhaltigkeit oder etwas anderes verändern wollen.

Aber nein, die Antwort war so simpel wie langweilig.

»Vertrage kein Kuheiweiß«, sagte ich deswegen, und Ben nickte. »Ich hätte jetzt auch gern irgendeine krasse Antwort gegeben, aber so spannend ist es auch wieder nicht.«

Er zuckte mit den Schultern. »Gut zu wissen ist es auf jeden Fall. Wenn wir zusammen wohnen, was meine Eltern übrigens glauben, muss ich sowas schließlich wissen. Nicht, dass deine Darmflora einen auf TNT macht und ich nicht weiß, wieso, wo du doch grade noch so verzückt dein Cremeeis verzehrt hast.«

Ein Grinsen umspielte dabei seine Mundwinkel, und ich schnaubte etwas befremdet: »Danke für diese ausführliche Umschreibung. Keine Sorge, wenn ich Durchfall habe, wirst du es schon merken.«

Er rümpfte die Nase. »Du hast einen ausgesprochen reifen Sinn für Direktheit«, gab er etwas pikiert zurück.

»Das ist doch nur menschlich«, seufzte ich genervt. Genervt, weil nichts in der Schlange weiterging. Nachdem wir nämlich verpasst hatten, dass die Erste-Klasse-Gäste früher aufs Flugzeug durften, da wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Terminal gewesen waren, mussten wir trotz unserer komfortablen Reisesituation nun die volle Länge warten.

Außerdem war ich genervt, weil Ben einfach keine Ruhe geben konnte. Jeder andere Mensch hätte sofort gemerkt, dass ich erstens keine Lust auf ein Gespräch hatte, und zweitens keine blöden Antworten brauchte, über meine explodierende Darmflora oder sonst irgendwas.

Ja, jeder verstand das, außer Ben. Und warum er single war, wunderte mich jetzt auch nicht mehr. Manches konnte nämlich nicht einmal mehr durch eine American-Express-Karte, einen Van-Titel oder gutes Aussehen kompensiert werden.

»Menschlich. Und es stinkt«, antwortete Ben.

Ich gab ein Geräusch von mir, das vermutlich einem animalischen Seufzen ähnelte.

»Ja, du hast dir die Beziehung«, ich malte Gänsefüßchen in die Luft, »mit mir ausgesucht. Selber schuld, das musst du eben jetzt aushalten.«

Ben sagte daraufhin nichts, denn Kian unterbrach uns. »Jetzt streitet ihr schon wieder, das ist ja kaum zu glauben«, gab er murrend von sich.

»Wir streiten nicht, wir diskutieren«, sagte Ben spitz. Ich grinste. Da hatte er ausnahmsweise mal recht, weshalb ich zustimmend nickte. Kian schüttelte den Kopf.

»Ihr spinnt doch«, sagte er deswegen nur, aber ich antwortete nichts darauf. Gott schien endlich mein Flehen erhört zu haben, denn die Verstopfung im Gang löste sich und wir konnten endlich zu unseren Plätzen.

Ich war noch nie zuvor in der ersten Klasse gereist. Ich war ja schließlich noch fast nie überhaupt mit dem Flugzeug geflogen, geschweige denn außerhalb von Europa gewesen. Meine erste und einzige Reise mit dem Flugzeug war nach Großbritannien gewesen, als es noch ging. Ich war damals sechzehn gewesen und mit Delia geflogen. Drei Jahre hatte ich dafür gespart.

»Wir haben zwei A und B und 3 E«, verkündete Kian und deutete auf die freien Reihen.

Ich setzte mich schon in Bewegung, um auf den Einzelplatz zu kommen, aber Kian schubste mich zur Seite und ließ sich selbst auf den Platz fallen.

»Hey, was soll das?«, beschwerte ich mich und stemmte die Hände in die Hüften.

»Du musst neben Ben sitzen. Ihr habt jetzt zehn Stunden Zeit, um euch kennenzulernen. Glaub mir, Hannah, so, wie ihr euch jetzt verhaltet, glaubt euch kein Blinder, dass ihr ein Paar seid«, antwortete Kian schulterzuckend. Was in seinen Augen wie eine Entschuldigung glänzte, kam aus seinem Mund wie mein sicherer Tod.

»Das ist jawohl ein Scherz? Wir verstehen uns blendend! Wir sind ein gutes Paar! Oder?« Ich stupste die Stewardess an. »Sie würde uns doch glauben, dass wir seit zwei Jahren zusammen sind?«

Die Stewardess richtete ihr knallrotes Hütchen und sah etwas überfordert zwischen Ben und mir hin und her. Um zu unterstreichen, was ich meinte, zog ich Ben zu mir und lächelte wie auf dem falschesten Familienfoto.

»Zwei Jahre?«, fragte sie etwas unsicher. Bens Herz hämmerte gegen meinen Rücken, und ich spürte die Wärme, die von ihm ausstrahlte.

Natürlich, so ist das nunmal bei Menschen.

Bei Ben war ich mir allerdings noch nicht ganz sicher, ob er wirklich ein Mensch war. Vielleicht war er ja ein misslungenes Frankenstein-Experiment. Dieser Gedanke ließ mich grinsen, und ich ließ mich bereitwillig auf den Platz beim Fenster fallen.

Die Stewardess schien hocherfreut zu sein, dass wir sie nicht weiter belästigten, und widmete sich dem Zeitungsständer. Sie sortierte irgendwas, obwohl alles ordentlich war.

»Wer hat gesagt, dass du beim Fenster sitzen darfst?«, beschwerte sich Ben. Ich verschränkte die Arme.

»Ich bin eine Dame. Ich darf das.«

»Hallo? Schon einmal etwas von Gleichberechtigung gehört? Es gibt auch Diskriminierung gegen Männer, und ich fühle mich gerade sehr diskriminiert!« Er schnaubte, um das Ganze noch zu unterstreichen, aber ich kaufte es ihm nicht ab. Abgesehen davon wirkte Ben nicht wie jemand, dem es sonderlich wichtig war, ob er am Fenster saß. Die Tatsache, dass er aus den Niederlanden kam und vermutlich zwei, drei Mal im Jahr dorthin zurückflog und die Tatsache, dass wir in der ersten Klasse flogen, sprach schließlich schon für sich selbst.

»Darf ich bitte am Fenster sitzen?«, fragte ich mit einem Augenrollen. Irgendwie war das Ganze skurril, weil ich sowieso schon auf dem Platz saß, aber Ben schien diese Frage trotzdem wichtig zu sein.

»Gerne«, nickte er und ließ sich neben mich fallen. Ich spürte die Vibration unter meinem eigenen Hintern.

»Wieso genau war dir das jetzt so wichtig?«, fragte ich.

»Eine Beziehung baut darauf auf, dass man sich gegenseitig respektvoll und höflich behandelt. Also ungefähr das Gegenteil von dem, wie du zu mir bist«, sagte Ben schulterzuckend. Er hatte die Stimme etwas gesenkt, damit nicht jeder mitbekam, worüber wir uns unterhielten, und ich stellte fest, dass seine Stimme ganz schön tief und rau war, wenn er so leise sprach. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich unvermeidlich auf, und ich merkte einen Anflug von Gänsehaut. Wie machte er das? Ich wollte das auch können, ich wollte auch geheimnisvoll und sexy klingen.

»Du bist aber auch nicht gerade respektvoll und höflich zu mir«, beharrte ich, woraufhin Ben trocken auflachte.

»Mhm«, machte er, und ich könnte schwören, dass seine Brust bei diesem Brummen vibrierte.

Meine Güte, wo dachte ich eigentlich hin? Ich musste dringend den Fokus bewahren — und aufhören mich von Bens Männerreizen ablenken zu lassen.

Fokus, Hannah. Fokus.

»Und wie genau stellst du dir das jetzt vor? Also, wie willst du deinen Eltern verklickern, dass das hier«, ich deutete mit dem Zeigefinger zwischen uns hin und her, »echt ist?«

Wir wurden unterbrochen, weil die Türen des Flugzeuges mit einem Ruck geschlossen und verriegelt wurden, und der Pilot sich meldete.

»Sehr geehrte Passagiergäste ...«, tönte es knacksend aus den Lautsprechern. Ben schien sich daran nicht zu stören, sprach jedoch im Flüsterton weiter.

»Als erstes sollten wir vertraut wirken.« Er legte eine Kunstpause ein und sah zwischen uns, als ob er den Abstand von zwanzig Zentimeter zwischen uns kritisch beäugte. »Vertrauter als das hier jedenfalls.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Was genau verstehst du darunter?«

»Dass du nicht jedes Mal zusammen zuckst, wenn ich dich unabsichtlich berühre«, erwiderte er trocken.

»Tu ich doch gar nicht«, sagte ich bockig, obwohl er natürlich recht hatte. Es ließ sich eben nicht so einfach vereinbaren, mit irgendeinem wildfremden Typen ein Sesselchen zu teilen. Ansonsten wäre ich auf einer Schauspielschule und nicht auf der Wirtschaftsuniversität.

»Klar«, sagte er sarkastisch.

»Sonst noch irgendwas auf Lager?«, fragte ich.

»Ich habe deinen früheren Aussagen entnehmen können, dass du die Ordner, die dir Kian vermutlich gegeben hat, gelesen hast«, sagte Ben tatsächlich erfreut. Er saß entspannt auf seinem Platz, der im Übrigen mehr war, als man sich in der Economy-Klasse erträumen konnte, die Beine ein wenig gespreizt, wie Jungs das eben taten. Mir wurde mal genau erklärt, warum sie so da saßen, und glaubt mir: Das ist eindeutig zu viel des Guten nur für ein kleines Lüftchen.

»Gelesen ist übertrieben«, warf ich ein, doch das schmälerte den Sinn natürlich nicht. Ja, ich hatte mich über Ben informiert, und irgendwie genoss ich es, mehr Joker auf der Hand zu haben, als er.

»Was auch immer. Ich weiß jedenfalls nichts über dich, außer dass du keine Kuhmilch verträgst, eine mittelmäßig talentierte Haushälterin bist und definitiv einen zu morbiden Humor hast«, warf Ben ein, und meine Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Ich bin eine total talentierte Haushälterin«, grummelte ich, aber Ben hörte gar nicht auf mich. Das Flugzeug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, und der Pilot parkte geschickt aus der kleinen Lücke aus. Mein Blick wanderte zum Fenster und obwohl wir noch nicht einmal abgehoben waren, klebten meine Augen am Bullauge.

»Genau, deswegen auch der Saustall in deiner Wohnung«, meinte er, und ich zwang mich, darauf nichts Fieses zu sagen. Wie genau sollte ich die nächste Zeit mit dieser brutalen Ehrlichkeit klarkommen? Ich musste mir wirklich ein dickeres Fell zulegen.

»Was ich jedenfalls sagen wollte, ist, dass du mir über dich erzählen solltest. Hast du Allergien? Was ist deine Lieblingsband? Irgendwelche kulinarischen Präferenzen? Wo warst du in der Schule? Sind deine Eltern getrennt? Hast du afrikanische Vorfahren und bist ein Albino?«

Bei diesen Worten drehte ich mich um und warf Ben meinen besten ›Ist-das-dein-Ernst?‹-Blick zu. Er zuckte mit den Schultern. »Was? Das ist gar nicht so selten, wie man glaubt!«

»Ja, klar. Nenn mich Oreo, Fran Ross war inspiriert von mir«, murmelte ich bloß.

Ich hatte mich etwas versteift, als Ben über meine Eltern sprach, und hoffte inständig, dass es seinen Adleraugen entgangen war.

War es natürlich nicht, und dieser Blödmann sprach mich auch noch direkt drauf an.

»Beginnen wir doch bei deiner familiären Situation. Du hast deine Eltern noch nicht erwähnt. Frostige Beziehung?« Ein Schuss ins Blaue, aber leider saß er.

»Wieso willst du nicht, dass Kian dich Thijs nennt?«, fragte ich hingegen.

»Wieso beantwortest du meine Frage mit einer Gegenfrage?«

»Wieso lässt du diese ganze Scheiße eigentlich mit dir machen?«

Damit war die Frage raus, die mir wohl am meisten auf der Seele brannte, denn ich fragte mich wirklich: Wieso ließ er das alles mit sich machen?

Ich drehte mich zu Ben, und merkte erst in diesem Moment, dass er mir ein wenig näher gerückt war. Er blickte auch aus dem Fenster, aber als er meinen überraschten Blick bemerkte, lehnte er sich wieder zurück, tiefer in das Leder seines eigenen Sitzes.

Mittlerweile rollte das Flugzeug in einem schwindelerregend hohen Tempo über die Bahn, und ich spürte, wie mich die Gesetze der Physik tiefer in meinen Sessel pressten.

Und ... ich spürte Bens Nähe. Das war irgendwie komisch. Ich wollte nicht, dass Ben unabsichtlich doch noch in die Kategorie »Typ« in meinem Hirn gesteckt wurde, denn diese Kategorie blieb zumeist den Leuten vorbehalten, die ...

»Alles okay?«, fragte er leise. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sich meine Atmung beschleunigt hatte. Tatsächlich verfiel ich in eine Art Schnappatmung, und meine lässige Haltung war irgendwie auch verrutscht.

»Was? Ach so, ja klar«, sagte ich, aber es klang ein wenig panisch. Vor allem verstärkte sich diese Wirkung, als das Flugzeug abhob, und wir plötzlich in der Schräglage über der Erde baumelten.

Ich würde sterben — das war das einzige, woran ich denken konnte.

Man würde Fetzen meines Leibes von der Erde aufklauben, und ich würde neben diesem arroganten Typen, auch bekannt unter Ben Van Hagen, zugrunde gehen.

Ich hatte gar nicht wirklich bemerkt, wie sich meine Hand verselbstständigt hatte und ich nun Bens Pranke umklammerte. Seine Hände waren warm, und weicher, als ich erwartet hätte.

Er schien irgendwie überrascht zu sein, aber er drückte meine Hand vorsichtig, und irgendwie half mir das, dass mein Herzschlag wieder normalisiert wurde.

»D-danke«, murmelte ich etwas beschämt und entzog meine Hand seiner, als ich mich wieder beruhigt hatte. Ruckelte das Flugzeug immer so, oder waren das erste Anzeichen eines Absturzes? Behutsam legte ich meine Hand auf meinen Schoß und stellte fest, dass sie nicht halb so warm war, wie gerade eben, als Ben sie noch genommen hatte.

Wünschte ich mir gerade wirklich, dass er meine Hand wieder nahm?

»Flugangst«, nickte ich. »Nicht, dass ich sonderlich oft fliege. Aber Angst hab ich trotzdem.«

»Wie kann man vor etwas Angst haben, das man gar nicht kennt?«, fragte Ben.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Wie kann man so unsensibel sein, ohne es zu merken?«

»Du tust es schon wieder!«, rief Ben, senkte aber sofort seine Stimme, weil Kian neugierig zu uns blickte. Ich rutschte tiefer in den Ledersessel und hoffte, dass die Stewardess endlich aufhörte, Ben und Kian anzustarren, als wären die beiden die letzten männlichen Wesen auf diesem Planeten. Tatsächlich hatten sie gute Gene, aber man musste sie ja trotzdem nicht so anstarren.

Vermutlich bilde ich mir das alles aber auch nur ein, dachte ich seufzend und sah aus dem Fenster. Das Flugzeug passierte gerade eine dicke Wolkenschicht, und eine Zeit lang sah ich nichts außer weiß. Dann jedoch erhoben wir uns über ein Meer aus Wolken, das in der Nachmittagssonne verführerisch glänzte. Ein Lächeln bildete sich auf meinen Lippen.

Das war einer der Momente, die man für die Ewigkeit aufsaugen musste.

»Du beantwortest meine Frage mit einer Gegenfrage«, drang von fern her eine Stimme an mein Ohr. In der nächsten Sekunde wurde ich wieder zurück in die Realität katapultiert, zurück zu Ben, und zurück zu seinen Fragen.

»Was?«

Er seufzte und fuhr sich durch die Haare. Dabei spannte sich sein T-Shirt auf eine interessante Art und Weise. Ich musste schlucken und sah schnell weg. Doch der Gedanke war mir schon gekommen, er hatte sich eingeschlichen, und jetzt würde ich ihn nicht mehr loswerden. Und je mehr ich es versuchte, umso mehr würde er sich festnagen.

Könnte es sein, dass ich in diesen zwei Wochen auf dem Boot ernsthaft Gefühle für Ben entwickeln würde?

Ich starrte auf meine Hände. Quatsch, was dachte ich denn da? Ich kannte Ben gerade mal seit zwei Stunden und hatte ihn auf eine äußerst merkwürdige Weise kennengelernt und würde sicher keine Gefühle oder sonst etwas entwickeln. Abgesehen davon kannte ich ihn ja nicht einmal wirklich, bloß ein paar Fakten aus einem Ordner.

»Wieso hast du Flugangst?«, fragte Ben und räusperte sich im Sprechen. Ich musste mich dringend an diese sonore Stimme gewöhnen, sonst würde ich jedes Mal, wenn er mit mir sprach, in Ohnmacht fallen.

»Wieso sollte ich einem Metallteil trotz all der Gesetze der Physik vertrauen? Ich meine, wir baumeln hier lustig und locker in zehntausenden Meter Höhe und hoffen heile anzukommen«, gab ich etwas schnippischer als nötig zurück. Ich nahm es Ben übel, dass er innerhalb von einhundertzwanzig Minuten meine Gedanken soweit beeinflussen konnte, dass ich ihn geistig tatsächlich fast in die »Typ«—Kategorie meines Gehirns schob, obwohl er natürlich nur indirekt etwas dafür konnte.

Er lachte heiser. »Auch wieder wahr. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir abstürzen, ist wirklich gering.«

»Schon mal vom Bermuda-Dreieck gehört?«

Vielleicht klang meine Stimme eine Spur zu panisch, aber das war wohl auch der Grund, weshalb Ben eine Hand auf meinen Oberschenkel legte und mich beruhigte. Und mit dem Bermuda-Dreieck meinte ich ausnahmsweise diesmal nicht die Gegend im ersten Bezirk, wo viele Bars angesiedelt waren und man dementsprechend leicht mal eben die Erinnerung an den vorherigen Tag vergaß. Nein, mit Bermuda-Dreieck meinte ich einen Bereich im Meer, der einem Schiffs- und Flugzeugsfriedhof glich.

»Das sind doch alles nur Mythen. Alles Blödsinn, der von den Medien aufgegriffen wurde. Du musst dir keine Sorgen machen. Abgesehen davon gibt es im Atlantik genug Inseln, die dafür ausgestattet sind, eine Notlandung zu ermöglichen.« Das beruhigte mich zwar nur mäßig, aber besser als gar nichts.

»Hm«, machte ich nur. »Sie sind übrigens verheiratet. Seit dreißig Jahren.«

»Wer?«

»Meine Eltern. Du hast ja gefragt.«

»Mhm«, stieß Ben verstehend aus.

»Ich habe Neurodermitis und eine Allergie gegen Erdnüsse. Meine Lieblingsband ist Good Charlotte, aber ich mag auch die Feel-Good-Musik von John Lennon, und ich manchmal mag ich Lana del Rey. Es kommt immer sehr auf meine Stimmung an.«

Ich wusste gar nicht, wieso ich ihm das alles anvertraute, aber irgendwie fühlte es sich richtig an. Ben schien niemand zu sein, der mit meinen Geheimnissen hausieren ging, und selbst wenn: Was sollte er großartig mit meinem Musikgeschmack anfangen? Spotify eine Beschwerde schicken? Ich würde eben einfach aufpassen, was ich ihm erzählte.

Während wir immer noch über dem Wolkenmeer schwebten und ich krampfhaft versuchte, nicht ans Abstürzen zu denken, öffnete sich der Vorhang, der unser Abteil von dem der Stewardessen trennte, und eine der Damen kam mit einem vollbeladenen Wagen herein.

»Champagner?«, fragte sie und lächelte, aber dabei sah sie nicht mich an. Nein, sie sah konsequent zu Ben. Ich starrte auf die Hand, die immer noch auf meinem Oberschenkel lag, und deren Hitze sich stechend auf meiner Haut ausbreitete, wie ein Feuer. Öffnen Sie lieber gleich den Wodka, dachte ich grimmig.

Ben schien meinem Blick zu folgen, denn er nahm rasch seine Pranke wieder zu sich und hüstelte ein »Nein, danke«.

»Kann ich Ihnen etwas anderes anbieten?«, fragte die Stewardess, die wohl unbedingt Kontakt zu Ben aufbauen wollte. Ich war ja wirklich niemand, der es sonderlich schnell raffte, wenn irgendwer jemand anderen anmachte, aber so penetrant, wie die Dame das machte, war es wirklich kaum zu übersehen.

Ben jedenfalls schien es entweder nicht aufzufallen, oder er ging einfach konsequent darauf ein, denn er lächelte freundlich und bestellte ein Mineralwasser, dass sie ihm kurz darauf reichte. Täuschte ich mich, oder berührte sie seine Hand länger als nötig?

Und warum kümmerte es mich eigentlich?

Die Stewardess sah mich gar nicht an und war schon im Begriff mit ihrem Wagen weiter zu rollen, als Ben mich am Ärmel anstupste und fragte: »Willst du auch etwas?«

»Ein Glas Cola«, sagte ich grimmig und schenkte der Stewardess keinen einzigen Blick. Damit wären die Fronten dann wohl geklärt.

Kurz darauf stand das Cola prickelnd vor mir und die Stewardess versuchte Kian irgendwie um den Finger zu wickeln. Ich hörte sie schrill kichern, aber seien wir mal ehrlich: Keiner von Kians Witzen war so lustig, dass man sich so darüber abhauen musste.

»Ich wurde im Kindergarten immer Thijs genannt, aber ich habe den Namen verabscheut. Meine Eltern wollten mich unbedingt so nennen, aber ich habe mich dann recht schnell für meinen Zweitnamen entschieden. In der Volksschule ging das noch nicht so gut, aber im Gymnasium haben mich alle Ben genannt.« Ben räusperte sich und fuhr sich über die Lippen, um das Wasser zu entfernen.

Ich lehnte mich an die Wand des Flugzeuges, damit Ben nicht merkte, wie schnell mein Herz klopfte.

»Nur, weil du den Namen nicht magst?«, fragte ich ungläubig.

»Mein Opa hat auch so geheißen, aber er war ein sehr cholerischer Mann. Ich habe ihn natürlich trotzdem geliebt, aber es war nicht einfach.« Ich hätte gerne nachgefragt, aber irgendwas sagte mir, dass ich die Toten lieber ruhen lassen sollte.

»Und du? Wann bist du ausgezogen?«

Ich verschluckte mich prompt an meinem Cola und musste husten. Ben klopfte mir auf den Rücken, aber das half nichts. Erst nach einigen Minuten, in denen ich schon dachte, dass ich auf dem Flugzeug nicht durch Abstürzen, sondern durch Ersticken draufgehen würde (ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit beim Abstürzen zu ersticken?), hatte ich mich wieder so weit beruhigt, dass ich heiser antworten konnte: »Ich glaube, das heben wir uns fürs zweite Date auf.«

Ben schmunzelte daraufhin und zuckte mit den Schultern.

»Warum hat Kian eigentlich keine Begleitung?«, fragte ich schließlich.

»Er hat eine. Aber die fliegt aus Amsterdam nach Mexiko. Sie ist ein wenig — sagen wir, speziell.«

»Gold digger?«, fragte ich, noch bevor ich wirklich überdenken konnte, was ich da sagte. Ich biss mir auf die Zunge, aber Ben lachte.

»So könnte man es ausdrücken«, grinste Ben. »Sie spricht kaum. Keine Ahnung, was er daran so attraktiv findet.«

»Wieso ist er dann mit ihr zusammen?«, fragte ich.

»Keine Ahnung«, antwortete Ben. »Aber vielleicht solltest du da nicht mich fragen. Ich verstehe sowieso das ganze Konzept von Liebe nicht.«

Als ich nichts sagte, fuhr er fort: »Ich meine, man ist doch nur mit jemandem zusammen, weil es alleine langweilig ist, und man sich nach Nähe sehnt. Außerdem, das ist vermutlich ein Urtrieb des Menschen, sind wir dazu veranlasst, uns Sorgen um unsere Nachkömmlinge zu machen.«

»Du denkst schon über Kinder nach?«

»Warum glaubst du bin ich single?«

»Touché«, gab ich grinsend zurück. »Willst du überhaupt Kinder haben?«

Er zuckte mit den Schultern. »Mit der richtigen Frau, vielleicht.«

Die Nachdrücklichkeit in seiner Stimme versetzte mir einen Stich in die Brust, obwohl ich gar nicht wusste, warum. Ich meine, ich war nur für die Show seine Freundin. Abgesehen davon wollte ich keine Kinder. Zumindest nicht in den nächsten zehn Jahren.

Wieso also schien das mein Ego zu verletzen? Manchmal verstand ich mich selbst nicht.

Wir unterhielten uns noch eine Weile und ich erfuhr, dass er leidenschaftlicher Segler war, was man in Den Haag ja ganz gut machen konnte, und erzählte ihm, dass ich über zehn Jahre in einem Turnverein gewesen war. Außerdem erfuhr ich, dass er neben Kian noch eine Schwester hatte, die aber in einem Mädcheninternat in Großbritannien war. Sie war anscheinend die rebellische Nachzüglerin, die wohl die meisten Familienstrukturen prägte. Ben erfuhr von meiner kleinen Schwester Liz, und dass sie in den USA lebte, und ich erfuhr von Ben, dass seine Lieblingszahl 26 war und er sich nur deswegen einen Monat von Karotten ernährt hatte, weil er wissen wollte, ob die orange Farbe seine Zellen färben würde.

Durch und durch ein Wissenschaftler. Jedenfalls studierte er Jus und wollte Anwalt werden. Nicht, weil er das Böse verteidigen wollte, sondern weil er diskutieren wollte. Ich war mir relativ sicher, dass dieser Job wie für ihn gemacht war.

Gegen zehn herum wurde es langsam dunkel. Wir hatten nun ungefähr die Hälfte der Strecke hinter uns, und ich merkte, wie mein Hintern eingeschlafen war. Ich selbst war hundemüde, und als ich einen Blick um mich herum warf, sah ich, dass die Stewardessen alles abgedunkelt hatten. Der Raum vor mir um meine Füße herum war so breit, dass sie locker vorbeigehen konnte, ohne, dass ich es merkte. Seufzend kuschelte ich mich tiefer in meinen Polster. Er war zwar ein wenig hart, aber trotzdem ganz angenehm, dafür, dass ich mich in einem Flugzeug befand. Im Hintergrund hörte ich leise Klaviermusik, die die Triebwerke wohl übertönen sollten.

Und dann ... dann machte es klick.

Wie bei einer Kamera.

Eine Kamera?

Ich setzte mich kerzengerade auf und rubbelte den Schlaf aus meinen Augen.

»Wie ... Was?«, fragte ich bloß, noch völlig benebelt vom Schlaf.

Vor mir stand Kian. Er grinste, hielt eine Polaroid-Kamera in der Hand und wedelte mit einem Schnappschuss herum.

»Das kommt ins Album«, sagte er und grinste dabei.

Ich schloss die Augen. Ich war viel zu müde, um mich zu beschweren, weshalb ich stattdessen grummelte: »Welches Album?«

»Na, das Fotoalbum. Du willst nach dieser Reise sicher ein Andenken an die schlimmste Zeit deines Lebens haben.« Er unterbrach sich und korrigierte sich: »Wobei ich nicht finde, dass dieses Foto schlimm aussieht.«

Ich schnaubte nur, aber dann wurde mir das Szenario bewusst — und wie skurril das Ganze war. Ich setzte mich auf und riss ihm das Foto aus der Hand.

»He, pass' auf!«

»Jaja«, murmelte ich und sah das Bild an. Es war noch nicht ganz ausgereift, aber es zeigte mich, wie ich mich an Ben gekuschelt hatte, und er den Kopf auf mich gebettet hatte.

Himmel. Abbruch! Abbruch! Das musste aufhören. Sofort.

»Bitte verbrenn es«, flehte ich, aber Kian nahm mir das Foto weg und steckte es in die Kameratasche.

»Sicher nicht«, rief er fast schon entrüstet. Dann ging er immer noch grinsend wieder zu seinem Platz, und ich kuschelte mich wenig erleichtert an die Wand. Die Wand war nicht halb so angenehm wie mein bisheriger Polster (der sich laut Kians Bildquelle als Bens Schulter entpuppte), aber mein Stolz war zu groß, um noch einmal zurück zu Ben zu krabbeln. Es war zwar nicht gerade angenehm, aber die Müdigkeit übermannte mich und ich fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf, dessen Folge ein steifer Nacken und verspannte Schultern waren.

Ich musste wirklich aufpassen, denn ansonsten würde ich bei dieser Reise ...

Nein, daran dachte ich lieber nicht.

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