Kapitel 09 - Liebe auf den zweiten Blick?

»Nachdem ihr euch so grandios versteht — man könnte meinen, es wäre Liebe auf den ersten Blick — können wir ja jetzt entspannt in diesen Familienurlaub starten, oder?«

Kians Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Gedanken, in denen ich mir mit meinem morbiden Humor schon die ein oder andere Folterart für Ben überlegt hatte. Die ganz grausigen Ideen hatte ich jedoch in eine Schublade in meinem Hirn gesteckt, um sie sicher zu verwahren und für die besonderen Anlässe zu nutzen.

Zum Beispiel, wenn sich herausstellte, dass Ben zu der Gruppe der Rhonchopathen gehörte. Da mussten nämlich härtere Maßnahmen ergriffen werden. Wenn es schon keine getrennten Schlafzimmer gab, könnte ich ihn zum Beispiel klassisch konditionieren. Ein Stromschlag pro Schnarcher wäre da eine Idee, oder—

»Eher auf den zweiten«, gab Ben leise zurück. So leise, dass Kian seine sarkastische Antwort nicht hörte, mir es aber nicht entging.

»Dann glaube ich, bin ich blind«, gab ich trocken zurück.

Als ich jedoch einen forschen Blick zur Seite warf, sah ich, dass Ben konzentriert und konsequent versuchte, das kleine Kräuseln um seine Mundwinkel zu unterdrücken. Aha, er verstand also ganz genau, was ich meinte! Ich grinste zufrieden.

Man brauchte nur einen Typen mit Delfinabzeichen und Pipi-Test-Urkunde und schon hatte man jemanden, der einem in die tiefsten Sphären der Nerdheit folgte.

»Und, wie war dein Tag so?«, fragte ich schließlich an Ben gewandt. Ich versuchte, möglichst normal zu sein, weil mir in diesem Moment klar wurde, dass ich, wenn ich schon die nächsten zwei Wochen mit ihm einen Toilettensitz teilen musste, vielleicht doch lieber freundlich zu ihm sein sollte. Immerhin hatte ich keine Lust, dass das Ganze ausartete und ich dann nach Hause schwimmen durfte.

Von Costa Rica in die Donau war es nämlich in ganzes Stück und meine geleeartigen Arme, die schlapp wie Gummiwürstchen an mir herabhingen, waren definitiv nicht für eine solche Strecke ausgerüstet.

»Noch ist keiner gestorben, es ist aber auch erst Mittwoch«, antwortete Ben genauso monoton, wie ich sprach. Tatsächlich wunderte es mich, dass er mich perfekt widerspiegelte: Wenn ich ihm zickig Antworten gab, gab er genauso zickig welche zurück. Wenn ich nett war, war er auch nett. Oder zumindest etwas, was verdächtig nahe an nett herankam.

»Sind das deine Standards oder ist heute eine Ausnahme?«, fragte ich mit einem ironischen Lachen auf den Lippen.

»Keine Ahnung, such's dir aus. Aber wir werden zusammen auf ein Schiff gehen, und so, wie ich euch Mädchen kenne, hast du sicher schon zwanzig Mal Titanic gesehen. Wenn ich dir also rechtzeitig ein Stück Holz zuschmeißen soll, damit du nicht untergehst, ich aber einen heldenhaften Tod sterbe, sei lieber nett zu mir.«

Mein Lachen erstarb, als ich seine Antwort hörte, und ich spürte, wie die Hitze in meine Wangen kroch. Nicht nur, dass er glaubte, einen auf ›Mann‹ machen zu müssen — ganz ehrlich, im Falle eines Falles würde ich mich schon selbst irgendwie vor dem Tod durch Ertrinken retten können — sondern auch, weil er annahm, dass ich scheinbar einen unstillbaren Crush auf Leonardo DiCaprio hatte (einen anderen Grund, diesen todesträchtigen Film öfter als einmal zu sehen, konnte ich mir nicht erklären).

Und das Problem war: Er lag damit sogar gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Tatsächlich hatten Delia und ich den Film vermutlich schon zehn Mal angeschaut, einfach nur, um Leo anzuschmachten und mit Ben & Jerry's Eis in der Hand uns zu beschweren, warum es solche Typen nicht in Echt gab.

Gemessen an Jacks Intelligenz war der Planet Erde allerdings vermutlich ohne ihn und seine Vervielfältigung besser dran, da liefen schon genug sonderliche Kreaturen herum.

Beispielsweise der Typ neben dir, der auf deine Xoodle-Anzeige geantwortet hat. —Oder auch du selbst, die du diese dumme Anzeige aufgegeben hast!

Tief durchatmen. Es waren bloß zwei Wochen und die Summe, die Kian mir versprochen hatte, war so gewaltig, dass ich gar nicht anders konnte, als mein Ego verdammt nochmal zurückzuschrauben und mich unterzuordnen.

Auch, wenn das jedem einzelnen meiner Triebe widersprach.

Tja, aber es war eben alles nur eine Frage des Preises.

»Wir brauchen einen Plan«, sagte Ben schließlich, als der Fahrer auf die Autobahn auffuhr. Kian drehte sich etwas zu uns, sodass mein Blick auf seine hellen Augen traf, und ich kurz schlucken musste.

Hatte ich schon einmal angemerkt, dass er gut aussah? Ich konnte jedenfalls verstehen, wenn er viele weibliche Fans hatte. Zumindest, solange er den Mund zuließ.

»Einen Plan?«, fragte ich etwas lahm. Ich grübelte immer noch, warum meine Synapsen in Anwesenheit der beiden Brüder erstaunlich verzögert arbeiteten.

»Ja, so eine Liste mit lauter Punkten, nach denen wir arbeiten«, gab Ben sarkastisch zurück. Ich lächelte zuckersüß.

»Danke für die Erklärung, aber ich weiß durchaus, was ein Plan ist«, antwortete ich griesgrämig und verschränkte die Arme.

»Sicher? War mir nicht ganz sicher. Scheinst ja keinen von deinem Leben zu haben«, antwortete Ben und zog eine Augenbraue hoch.

Ich schnappte nach Luft, und auch Kian hielt kurz inne. Lediglich der Fahrer wippte im Takt zu John Lennons Jealous Boy.

»Sag mal, spinnst du eigentlich? Weißt du, wie gemein das war?«, rief ich schließlich etwas lauter als beabsichtigt aus. Peinlich berührt senkte ich die Stimme. »Wenn du mir weiterhin so viele Gemeinheiten an den Kopf wirfst, dann gebe ich dir vor den Augen deiner Eltern einen Korb und du warst die längste Zeit mein Fake-Freund!«

Ben rollte die Augen. »Hören wir auf mit diesen existenzkritischen Witzen. Wir wissen beide, dass du das nie tun würdest, weil du die Kohle von Stijn«, er unterbrach sich und verbesserte sich sofort, »ich meine, Kian brauchst.«

Bockig sah ich ihn aus verengten Augen an. Was fiel ihm eigentlich ein, dass er es sich erlaubte, so mit mir zu sprechen? Ich war schließlich nicht sein Anhängsel, und ich war auch keine Dienstbotin oder irgendein Pöbel, der ihm untergeben war!

»Dann gewöhne dir lieber mal diesen arroganten Ton ab, Love«, sagte ich fauchend. Die Beherbergung von Jesus-Reagan hatte mir in dieser Hinsicht nicht unbedingt gutgetan, denn ich hatte das Gefühl, dass ich nun mehr zur Diva geworden war, als je zuvor.

Ben jedenfalls schien sich nicht daran zu stören. Vielleicht hatte er ja öfter mit Diven zutun, oder für ihn waren einfach nur alle Frauen gleich.

»Denk dir einen anderen Spitznamen für mich aus, Schmusebuse«, sagte Ben nur genauso genervt und Kian kicherte leise. Ich selbst musste mich beherrschen, nicht ebenfalls zu lachen. Schmusebuse? Wie bescheuert war das denn?

»Kian, glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee war?«, wandte sich Ben an seinen jüngeren Bruder. Dieser warf einen Blick von Ben zu mir und wieder zurück.

Dann seufzte er und sagte: »Nein.«

»Gut«, sagte Ben erstaunlich enthusiastisch, »ich würde mir Sorgen machen, wenn doch!«

»Na danke«, murrte ich wenig begeistert. »Gibt es wenigstens Alkohol auf dem Schiff?«

»Es ist kein Schiff, es ist eine Yacht«, besserte mich Ben aus. »Und ja, es gibt genug Alkohol. Wofür brauchst du den überhaupt?«

Na, um dich und dein dummes Gerede zu ertragen, dachte ich genervt, sagte aber lieber nichts.

»Als ich das letzte Mal im Wörterbuch nachgeschaut habe, fiel Yacht noch unter die Kategorie Schiff.« Kian schnalzte mich der Zunge, und ich sah, wie Ben Kians Hinterkopf fixierte.

»Dann solltest du wohl mal besser das Kleingedruckte lesen«, antwortete Ben. »Yachten sind große Boote. Schiffe sind große Yachten.«

»Aber dann schließt das eine das andere ja nicht aus«, gab ich mürrisch zurück. In diesem Moment, vermutlich hatte dafür der Herr im Himmel gesorgt, fuhren wir von der Autobahn ab. Ich war so vertieft in das Gespräch gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie rasch der halbstündige Weg vorübergegangen war.

Ben sagte daraufhin nichts mehr und ich feierte im Stillen meinen Sieg.

Ha, dem hatte ich es gezeigt!

* * *

Vom Parkplatz zum Terminal war es kein weiter Weg. Da keine Ferien waren und es noch nicht allzu warm war, war der Flughafen Schwechat nicht besonders übermäßig besucht. Wir kämpften uns, besser gesagt — Ich kämpfte mit dem Koffer, durch das Programm, vom Einchecken über Kofferabgabe bis hin zur Sicherheitskontrolle. Das Ganze stellte sich als ziemlich anstrengend heraus, weil Ben die ganze Zeit von irgendwelchen vorbeischlendernden Frauen schöne Augen gemacht bekam.

Ich meine, ja, er sah ja gut aus, aber der Charakter? Er würde jeder Frau sofort ins Gesicht sagen, wenn ihr ein Popel in der Nase hing, oder wenn er ihre Frisur unpässlich, ihren Kleidungsstil hässlich oder ihre Augen bescheuert fand.

Ehrlichkeit in aller Ehren — aber manches Mal war höfliches Flunkern auch ganz nett. Deswegen versuchte ich, alle Frauen oder Mädchen, die uns anstarrten, möglichst grimmig anzusehen. Dass ich dabei vermutlich wie die eifersüchtige Freundin rüberkam, störte mich nicht. Schließlich war ich das ja auch irgendwie — zumindest für die nächsten zwei Wochen.

»Hast du Lust auf einen Kaffee?«, fragte Kian schließlich an mich gewandt, als unser Terzett beim Terminal angekommen war.

Als ich ihn grübelnd ansah, rollte er die Augen und sagte: »Ich zahle natürlich.«

Natürlich. Es war erstaunlich, wie hilfsbereit er war, weshalb ich nickte.

»Na, dann gerne. Wenn ich dann irgendwann auf eigenen Beinen stehen kann, werde ich dich einladen.«

Vorausgesetzt, ich bekam diese Horrorerinnerung von dem Geburtstagsessen mit Delia irgendwie aus meinem Kopf, ansonsten würde ich das Haus nie wieder ohne Bargeld verlassen.

»Du stehst auf eigenen Beinen, sonst würdest du sitzen«, sagte Ben so ernst, dass ich nicht anders konnte, als zu seufzen. Mittlerweile war mir die Energie für irgendeine sarkastische Antwort ausgegangen.

»Das war eine Metapher, Ben«, sagte ich deswegen einfach nur. So würde es also dann 14 Tage werden. Warum nochmal tat ich mir das an?

»Ich weiß. Aber wenn wir der Tatsache folgen, dass—«

Kian unterbrach ihn. »Okay, ich glaube, das wird länger dauern. Ich geh mal Kaffee holen, einen Sojacappuccino für dich?«

Ich nickte, und daraufhin trabte der blonde Schönling auch schon davon.

»Also. Wenn wir der Tatsache folgen, dass du in einer Drei-Zimmer-Wohnung wohnst, dir aber finanziell dein Leben nicht leisten kannst, musst du diese Wohnung entweder geerbt haben oder finanzierst sie durch Fördergelder. Abgesehen davon ist es ironisch, dass du Wirtschaftswissenschaften studierst, aber selbst nicht wirtschaften kannst. Du wohnst alleine, aber auf deiner Fußmatte waren lauter Katzenhaare, also hast du wahrscheinlich einen vorübergehenden Parasiten aufgenommen—«

»Jesus-Reagan ist kein Parasit!«, rief ich entrüstet. Ich war völlig perplex, was er da eigentlich von sich gab. Und woher er das alles wusste. Scheinbar war ich nicht die einzige, die Nachforschungen betrieben hatte.

»Jedenfalls hast du vorübergehend eine Katze beherbergt und du machst meinem Bruder die ganze Zeit schöne Augen. Falls du glaubst, dass ich blind bin; nein, tatsächlich habe ich ein hundertprozentiges Sehvermögen.«

Darauf musste ich erst einmal schlucken und wünschte, ich hätte etwas Wein bei der Hand. Wenn das so weiter ging, würde ich die nächste Zeit nicht nüchtern sein.

»Ach ja? Und was weißt du sonst noch über mich, wo du ja so ein Hellseher bist? Vielleicht irgendwas über meine Familie? Wo ich herkomme? Wer meine Freunde sind? Wann ich meinen Pipitest abgelegt habe und ob ich je beim Kängurutest dabei war?« Ich klang viel zu benebelt, um als zickig durchzugehen, und Ben merkte natürlich sofort, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.

Verdammt nochmal, wieso wusste er das alles? Ich hatte Ben nämlich keine Informationen über mich gegeben.

Hatte er etwa Delia bestochen?

Nein, so ein Unsinn, er kannte sie ja nicht einmal.

»Du scheinst kein Einzelkind zu sein, eher ein Kind, das sich Vieles erkämpfen musste. Ansonsten könnte ich mir jedenfalls nicht erklären, warum du so eine harte Schale hast. Ich bin mir abgesehen davon relativ sicher, dass du gar nicht wirklich so sarkastisch bist, wie du tust, sondern einfach nur von einem sehr zerbrechlichen Inneren ablenken willst. Deinem Dialekt nach zu urteilen kommst du aus Wien, aber ich kenne die Bezirke zu schlecht, um das zu spezifizieren, und dein Freundeskreis ... beschränkt, aber echt.« Er verschränkte die Arme und sah mich herausfordernd an.

In diesem Moment fiel mir gar nicht so sehr auf, wie krass der Kontrast zwischen seinen hellblauen Augen und den dunklen Haaren war, oder wie groß er eigentlich war, im Vergleich zu anderen. Es fiel mir auch nicht auf, dass er gerade mehr wusste, als ich über ihn.

Das Einzige, das mir auffiel, war, dass er recht hatte. Zumindest in fast allem, was er sagte.

»Du bist blöd«, sagte ich schließlich einfach, weil mir nichts anderes einfiel, aber in diesem Moment stieß zum Glück Kian wieder zu uns.

»Wow, was hab ich verpasst? Die Gewitterwolke über euch ist ja kilometerweit sichtbar«, gab er lachend von sich, aber weder Ben, noch ich, lachten mit ihm.

»Dein Bruder alias Mr. Hobbypsychologe hat mir gerade unmissverständlich klargemacht, was für ein armseliger Haufen mein Leben doch ist«, gab ich monoton von mir und nahm Kian den Becher ab. Der Kaffee dampfte und ich nippte erfreut daran. Das Koffein brauchte ich definitiv für die Nerven.

Vielleicht war es eine Sucht, aber wenigstens eine leckere.

»Thijs, ich hab dir doch gesagt, dass du—«, begann Kian, aber Ben unterbrach ihn.

»Nenn mich nicht so«, zischte er einfach nur. Dann nahm er seine Tasche und ging eilig mit großen Schritten zu der Dame, die das Boarding für eröffnet erklärte.

Gott im Himmel steh mir bei.

Wenn ich neben Ben im Flieger sitzen musste, würde ich wohl oder übel aus dem Fenster springen müssen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top