Kapitel 06 - Ein Gespräch mit Mama
Der nächste Morgen begann mit dem schrillen Klingeln meines Weckers. Seufzend öffnete ich die Augen und sah an die Decke. Manches Mal fragte ich mich, wofür ich eigentlich aufstand. Ich hatte noch keine Prüfungen und die Vorlesungen waren dieses Jahr primär so angeordnet, dass man bequem ausschlafen konnte. Abgesehen davon belegte ich kaum Übungen, weil ich sowieso meine Bachelorarbeit schreiben musste.
Aber dann fiel mir wieder ein, wofür ich aufstand.
Dieses verrückte Ereignis, das mir passiert war — eine Reise in die Karibik, wo es vermutlich täglich fünfunddreißig Grad hatte und ich als braungebrannte Kakerlake zurückkommen würde.
Klang schon gut, oder?
Mal eben aus dem Leben abtauchen und in Costa Rica wieder auftauchen, als würde ich durch Wasser schwimmen.
Ich warf die Decke mit den Beinen zurück und schwang meinen Hintern aus dem Bett. Es gab einige Sachen zu erledigen. Auch, wenn ich diese Sachen noch nicht kannte, irgendwas gab es sicher zu machen. An die Uni konnte ich gar nicht richtig denken. Sich der nicht vorhandenen Anwesenheitspflicht zu bedienen war sicher nicht die beste Lösung, aber der AMC-Professor, den ich heute hätte, war sowieso eine Schlaftablette. Ehrlich, es wurden sogar Wetten abgeschlossen, ob er vielleicht selbst eines Tages während des Vortrags einfach einschlafen würde.
Die Studierenden jedenfalls taten es regelmäßig und ich bin mir nicht sicher, ob es etwas Gutes ist, wenn ich sage, dass ich auch schon einmal ins jenseits Gelegene abgedriftet war. Der Professor lud geradezu dazu ein, seine Gedanken zu ordnen und sein Gehirn auszumisten.
»Na dann wollen wir mal«, murmelte ich zu mir selbst und ging zum Fenster, um es zu schließen. Gestern Abend war ich irgendwann einfach nur ins Bett gefallen, nachdem ich mich gezwungen hatte, die zwei Ordner zu lesen. Nun, lesen traf es nicht ganz, denn irgendwann hatten meine müden Augen die Buchstabenaneinanderreihungen nur noch angestarrt, als wären sie Chinesisch, und ungefähr genauso viel hatte ich verstanden.
Pfeifend ging ich in die Küche, um etwas Kaffee aufzusetzen, und sah mich auf dem Weg nach meinem wolligen Begleiter um. Jesus-Reagan ließ ja sonst auch nicht so lang auf sich warten, schließlich schien der wichtigste Instinkt dieser Katze der Hungertrieb zu sein.
Wieder etwas, was wir gemeinsam hatten, dachte ich grimmig lächelnd und goss etwas Wasser in ein Schälchen. Dann stellte ich das Gefäß auf den Boden. Er würde sich schon blicken lassen — vielleicht gehörte es einfach zu ihm dazu, immer ein wenig schwer zu kriegen zu spielen.
Wieder etwas, was wir teilten. Denn auch ich hatte die dumme Angewohnheit, immer die Unerreichbare zu spielen, und das, obwohl sowieso selten jemand so weit in meine Geek-Heaven-Welt vordrang, um überhaupt darüber nachzudenken, etwas mit mir anzufangen.
Etwas melancholisch schaltete ich das alte Radio ein, das mir meine Großmutter vermacht hatte, und stellte die Antenne auf. Sie diente zwar nur der Ästhetik, aber trotzdem war sie für mich ein wichtiger Bestandteil dieses antiken Unikats.
John Lennon trällerte einen Happy-Song, ich wippte auf den Zehenspitzen, während ich zwischen Abwasch und Kaffeekanne hin- und hertänzelte. Ich mochte Morgen wie diese. Unbeschwerte Tage, an denen man alleine mit seinen Gedanken war.
Tatsächlich wanderten meine Gedanken zurück zu Delias Geburtstag. Niemals hätte ich gedacht, dass diese dumme Idee, eine Annonce auf Xoodle aufzugeben, tatsächlich zu etwas führen konnte.
Wie sagte man so schön? Die Straße war lang und steinig, aber das Ziel war in Sicht.
Und mein Ziel war eine Luxusyacht in Costa Rica als Plus One eines Adelsprösslings.
Ein Lächeln bildete sich auf meinen Lippen. Wie schlimm konnte es schon sein? Ich konnte Kian wirklich nicht verstehen. Schließlich konnte ich mir deutlich Schlimmeres vorstellen, als auf einer Liege im warmen Sonnenlicht zu brutzeln, Spanisch mit dem Poolboy zu lernen, am Abend im Hafen anzudocken, lecker essen zu gehen und nachts neben einem Typen zu schlafen.
Blieb nur zu hoffen, dass er nicht schnarchte. Wobei ich sagen musste, dass Ben penibel genug aussah, nicht zu schnarchen. Vermutlich würde es ihn selbst stören, obwohl er sich beim Schnarchen ja nicht hörte.
Oder? Hörte man selbst, wenn man schnarchte?
Himmel, deine Gedanken fahren schon wieder Achterbahn, Hannah, ermahnte ich mich selbst. Abgesehen davon roch es verdächtig verbrannt ...
Rasch drehte ich mich und sah zur Herdplatte. Die Kaffeekanne tuckerte, weshalb ich sie von der Hitze entfernte und langsam den Kaffee in eine Tasse goss. Es roch wunderbar nach warmem, starkem Kaffee, sodass mein Magen knurrte. Kaffee war etwas, was mir den Lebensantrieb gab. Der Sinn des Lebens war flüssig, dunkelbraun und schmeckte bitter.
Man würde an dieser Stelle erwarten, dass ich irgendeinem Poetenzeug folgte, oder dass der Sinn meines Lebens in irgendeinem ikonischen Jungen bestand. Aber nein, die Antwort war viel einfacher — es war Koffein. Die meistverzehrte, psychotrope Droge. Noch vor Alkohol. Kaum zu glauben, nicht wahr? Aber ich trug mit meinem Kaffeekonsum vermutlich maßgeblich zu dieser Studie bei.
Während ich an der dampfenden Tasse schnupperte, ließ ich mich langsam auf der Holzbank nieder. Meine Küche war klein. Kleiner als klein. Man konnte einen Schritt machen, dann war man beim Herd. Ein weiterer Schritt in die andere Richtung, und dort war die Abwasch, genau wie der Kühlschrank.
Dann gab es noch diesen winzigen Tisch, und die Bank. Ich hatte meine Einrichtung aus Second-Hand-Geschäften und von Willhaben zusammengezimmert, weshalb alles zwar ein wenig wild zusammengewürfelt, sah aber trotzdem liebenswert aus.
Und in diesem Moment kam mir diese dumme, dumme Idee.
Ich griff nach meinem Telefon und wählte den Kontakt meiner Mutter aus. Während ich mir das tutende Handy ans Ohr hielt, fragte ich mich bereits, wieso ich das eigentlich tat.
Aber war es das nicht, was eine gute Tochter tun sollte? Sich melden, und ... die eigenen Eltern davon in Kenntnis zu setzen, wenn man das Land verließ? Die Gespräche mit meiner Familie in den letzten Jahren, seitdem ich im betreuten Wohnen lebte, konnte man an einer Hand abzählen. Gut, vielleicht an zwei, aber mehr waren es wirklich nicht.
So ganz glauben konnte ich es ja immer noch nicht, aber nachdem Kian mir gestern Abend noch mein Flugticket geschickt hatte, hatte das ganze verrückte Projekt plötzlich an Ernsthaftigkeit und Realität gewonnen. Ich würde nach Mexiko fliegen, und dann nach Costa Rica, von wo aus wir mit einer niederländischen Yacht durch die Karibik tuckern würden. Es passiert.
Aber glauben konnte ich es immer noch nicht richtig.
»Jäger, ja bitte?«
Mein Herz rutschte mir in die Hose, als ich die vertraute Stimme meiner Mutter hörte. Wie lange hatte ich mich nicht mehr gemeldet? Ein Jahr? Zwei Jahre? Vielleicht sogar länger, und auf einmal hatte ich diesen bitteren Kloß im Hals, der immer mehr anschwoll, immer mehr an Größe gewann.
»Ist da jemand?«, fragte Ma noch einmal. Ich wollte etwas sagen, aber ich bekam es einfach nicht hin. Nicht einmal ein Räuspern. »Es ist wirklich unhöflich, wo anzurufen, und dann nichts zu sagen!«
Stille.
»Hallo?«, fragte Ma mittlerweile ein wenig gereizt.
Das war der Moment, in dem ich zurück in die Realität katapultiert wurde und ein froschartiges: »Hey, Mama«, rauspresste.
Einen Moment lang war es totenstill an der anderen Leitung, dann fragte Ma überrascht: »Hannah?« Dabei klang sie, als wäre ich die Letzte gewesen, die sie erwartet hatte.
Vermutlich war ich das auch.
Konnte ich es ihr verübeln?
Nein. Eigentlich nicht.
»Hallo«, sagte ich und versuchte, meinen rekordverdächtig hohen Pulsschlag unter Kontrolle zu bekommen.
»Schön, dass du dich meldest, Hannah«, sagte Mama, und sie klang ehrlich erleichtert. »Ist jemand gestorben?«
Ha, ha.
»Nein«, sagte ich nur. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie redete man mit seinen Eltern, wenn man sie die letzten zehn Jahre nur sporadisch gesehen hatte? Ich meine, der obligatorische Weihnachtsbesuch war, bis ich achtzehn war, drin gewesen. Danach hatte ich nur noch mit Delia, Michi und ihren Eltern gefeiert. Helga und Thomas waren sowieso mehr Eltern für mich, als meine eigenen es je gewesen waren.
Vermutlich war ich einfach eins dieser Kinder, die bei den falschen Eltern geboren wurden. Delias Eltern versorgten mich regelmäßig mit allem möglichen — sie brachten mir am Wochenende die Zeitung, tratschten über Bezirksgossip, erkundigten sich, wie es im Studium lief, füllten manchmal meinen Kühlschrank auf und luden mich zum Abendessen ein, inklusive elterlicher Liebe und Fürsorge.
Es wäre unfair, zu sagen, dass ich sie lieber mochte, als meine eigenen Eltern. Aber als sie Kinder bekommen hatten, waren sie sich der Pflichten bewusst gewesen, die mit Kindern verbunden waren. Sie waren sich dessen bewusst, dass ihr Leben niemals wieder so sein würde, wie davor, und sie freuten sich auf diese Zeit.
So waren meine Eltern nicht gewesen. Oder sie hatten es manchmal einfach vergessen.
»Wie geht es dir?« Mama klang genauso nervös, wie ich es war.
»Gut«, sagte ich ebenso wortkarg wie zuvor.
Ich hatte keine Ahnung, woran es lag, dass ich mich immer so versteifte und unausgeglichen war, wenn ich mit meinen Eltern sprach. Bei jedem anderen Menschen war ich locker und konnte tun und lassen, was ich wollte. Meine Zunge war lockerer als so mancher Wackelzahn in meinen Kindertagen.
Aber ... vielleicht war das auch nur ein Gefühl. Vielleicht bildete ich es mir nur ein.
Und wieder mein Mantra: Nicht in die Vergangenheit schauen. Wir leben im Hier und Jetzt. Nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft — Jetzt.
Und genau deswegen hörte ich es auch gar nicht, als Mama weitersprach. Weil ich in der Vergangenheit hing.
»Was?«
»Das heißt ›wie bitte‹, Hannah«, sagte Mama ruhig, und ich schluckte hart. Da war es wieder. Dieses ständige Zurechtweisen. Und zwar nicht normal, sondern mit diesem vorwurfsvollen Unterton. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, und fuhr mit belegter Stimme fort: »Was hast du gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, warum du anrufst«, sagte Mama. Es war wirklich offensichtlich, dass wir uns nichts zu sagen hatten. Ja, manche Kinder wurden einfach zu den falschen Eltern gebracht. Bescheuerter Storch, bei mir war er wohl am Tag davor ordentlich feiern gewesen und hatte vor restfetter Migräne den Weg blind eingeschlagen.
»Ich habe angerufen, weil ... weil ...« Ja, warum eigentlich? So genau wusste ich das auch nicht.
»Weil?«
»Weil ich bald zwei Wochen nach Costa Rica fahre. Auf eine Yacht.«
Ich konnte hören, wie Mama staunte. Sie sagte eine Weile nichts. »Costa Rica. Wow. Das muss teuer sein. Es ist schön, zu sehen, dass du endlich finanziell Fuß gefasst hast.«
Ha, wenn sie nur wüsste. Dass ich nur zu diesem Angebot gekommen war, weil ich so tief in meiner Not gesunken war, dass ich wirklich alles angenommen hätte, musste sie ja nicht wissen.
Stattdessen sagte ich bloß: »Ja, es hat sich ergeben.«
»Mit Delia?«
»Wie? Oh, nein, mit, äh—« In diesem Moment verfluchte ich mich, dass ich nicht einfach ›Ja‹ gesagt hatte. Jetzt musste ich ihr erst einmal erklären, wer Kian und Ben überhaupt waren, was ich ja selbst nicht einmal richtig wusste. »Ich verreise mit ... äh, Arbeitskollegen.«
Ja, das waren sie ja irgendwie auch.
»Mmmh«, machte Mama verständnisvoll. »Verstehe. Hast du schon alles gepackt?«
Ich bejahte das. Eigentlich musste ich ja noch zum Drogeriemarkt, aber dafür reichte mein derzeitiges Geld einfach nicht. Die Studienbeihilfe bekam ich erst nächsten Monat wieder.
»Grüß Papa von mir«, sagte ich, nachdem einige Sekunden niemand was gesagt hatte. Das Gerücht, dass die NSA das Telefonat unterbrach, wenn man minutenlang schwieg, stimmte damit also nicht.
»Mach ich. Pass auf dich auf ... in Costa Rica. Und ... überall, wo es dich sonst noch hin verschlägt«, sagte Mama leise. Bevor die Welle des Schmerzes mein Herz berühren und erfassen konnte, legte ich schnell auf und ließ das Handy sinken.
Lange Zeit hatte ich das nicht mehr gefühlt. Lange. Diesen Schmerz, wenn ich an die letzten Jahre zurückdachte. Delia sagte immer, dass sie keinen Menschen kannte, der so sehr kämpfte, wie ich. Keinen Menschen, der so sehr die Zähne zusammenbiss.
Und allmählich begann ich zu glauben, was sie immer gesagt hatte: Eines Tages würde ich all das, was ich einstecken musste, zurückbekommen. Das Leben hielt Großes für mich bereit. Für jeden von uns. Wir mussten das Glück auf der Erde bloß selbst finden, doch es war da.
Vielleicht war meine Zeit hiermit gekommen, und vielleicht war das der Grund, weshalb ich nach Costa Rica fuhr. Weil ich gelernt hatte, dass manche Chancen sich nur einmal im Leben bieten. Wer sie verpasst, hat Pech.
Viel zu viele Chancen hatte ich im Leben schon versäumt, weil ich zu viel nachdachte, weil ich mich nicht traute, weil ich nicht auf mich hörte. Aber am Ende des Tages kämpfte jeder für sich selbst.
Ich spürte, wie meine emotionale Laune ihren Tiefpunkt erreicht hatte, nachdem ich mit meiner Mutter telefoniert hatte. Was hatte mich da überhaupt geritten, dass ich sie allen Ernstes anrief? Es war, als hätte sie meinem Glück einen ordentlichen Dämpfer verpasst, und ich war auch noch selbst dran schuld. Es war schon immer so gewesen — wieso hatte ich erwartet, dass es plötzlich anders sein würde?
Seufzend nippte ich an meinem Kaffee, der mittlerweile nur noch lauwarm war. Gerade war ich versucht, die Zeitung auf meinem Handy zu lesen, als es den typischen Klingelton des Eintreffens einer neuen Nachricht von sich gab.
Es war Kian, der mir eine E-Mail geschrieben hatte.
Von: official.vanhagen(a)gmail.com
An: hannah(a)jaeger.com
Wo wohnst du? Nur für morgen. Wir holen dich ab und fahren gemeinsam zum Flughafen. Übrigens wird morgen meine Freundin vorbeikommen. Ich habe Ben ein Bild von dir gezeigt und er meinte, dass du vor der Reise unbedingt zum Friseur und zur Maniküre und — Zitat — wo die Mädchen sonst noch hingehen, gehen sollst.
Ich schnappte nach Luft, als ich das las. Wie frech war das denn? Sah ich etwa so ungepflegt aus, dass ich nicht den Eltern Van Hagen vorgestellt werden durfte?
Knirschend tippte ich meine Antwort.
Von: hannah(a)jaeger.com
An: official.vanhagen(a)gmail.com
Ach ja? Ben sollte vielleicht auch mal seine Haare schneiden, abgesehen davon schaden ihm ein paar Muskeln nicht ... Und außerdem, wann zum Teufel hast du ein Foto gemacht ?!?!?!?
Dass ich mehr als wütend war, war wohl nicht zu übersehen.
Prompt kam Kians Antwort.
Von: official.vanhagen(a)gmail.com
An: hannah(a)jaeger.com
Instagram ... Niemand ist unauffindbar. Jedenfalls: Meine Eltern werden wirklich sehr pingelig sein, glaub mir. Also ... versuch einfach, so gut wie möglich rüber zu kommen.
Ich seufzte und schrieb ihm einfach nur die Adresse. Hoffentlich merkte, dass ich angefressen war. Und dieser Ben, der konnte sich sowieso auf etwas gefasst machen. Mich einfach so ungepflegt zu nennen.
Wütend ließ ich mich auf meinen Kindergarten-Instinkt ein und dachte: Selber.
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