Kapitel 05 - Zwei Ordner á 300 Seiten
Jesus-Reagans Zeit bei mir war hiermit besiegelt, obwohl ich alles in der Welt getan hätte, ihn mit an Bord zu schleppen.
Nachdem Delia sich am Abend verabschiedet hatte, war ich allein mit der dicken Katze zurückgeblieben. Michi war so nett gewesen und hatte ein wenig Dosenfutter für das Tier besorgt, was die Katze allerdings nur mäßig erfreut annahm. Ein Gourmet war sie also auch noch.
Mittlerweile war es kurz nach zehn Uhr, draußen war es längst dunkel, und meine Schreibtischlampe warf einen mysteriösen Schatten über den Ordner.
Der Ordner, in dem wohl das ganze Leben dieses gewissen Mr. Unbekannt alias Benjamin Thijs Van Hagen aufgelistet war. Von Urkunden, die er mit acht im Schwimmunterricht bekommen hatte, bis hin zu einem Waffenzertifikat war wirklich alles dabei. Scheinbar schickte es sich, in den Niederlanden sonntags auf die Jagd mit dem Herrn Großvater zu gehen — dessen jedenfalls belehrte mich der Ordner. Es gab sogar ein Bild; Ben trug ein ziemlich lustig aussehendes Outfit: Reitergewand, eine enge Hose und einen schicken Blazer mit goldenen Manschetten.
Es fühlte sich merkwürdig an, alles über eine Person herauszufinden, ohne sie zu kennen. Ich hatte Bilder von Ben gesehen, ja; als kleiner Junge war er strohblond gewesen, und er war immer schon relativ groß gewesen. Während der Pubertät hatten sich seine Haare, wie das für viele Niederländer üblich war, dunkel gefärbt, und nun waren sie fast schwarz.
Aber trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, ihn zu kennen. Vielleicht sollte ich mich mit ihm treffen und alles durchgehen, bevor wir auf große Reise gingen — wobei ich ja nicht mehr viel Zeit hatte.
Er hatte schließlich keine Ahnung, wer ich war. Mir war zwar bewusst, dass das natürlich nachrangig war, weil seine Eltern ihn kannten und wenn ich Unsinn über ihn redete, würden sie das herausfinden. Doch trotzdem kannte man jemanden meiner Meinung nach erst dann, wenn die andere Person ebenfalls über die essenziellen Informationen verfügte.
Sprich: Ben sollte mich kennenlernen, bevor wir mit dem Flugzeug nach Mexiko Stadt flogen.
Aus diesem Grund öffnete ich den E-Mail-Verlauf mit seinem Bruder Kian, dessen Zweitname übrigens interessanterweise Stijn war, und tippte mein Anliegen in den Computer ein.
Von: hannah(a)jaeger.com
An: official.vanhagen(a)gmail.com
Hey Kian. Ich arbeite gerade die Seiten durch. Wäre es nicht schlau, wenn Ben und ich uns mal kennenlernen, bevor wir die Spiele beginnen lassen?
Jesus-Reagan strich schnurrend um meine Beine.
»Ach, das war ja klar«, murmelte ich und hob widerwillig den dicken Kater hoch, um ihn zu streicheln. Jeez' Fell war so weich, dass man darin versinken konnte. Während ich ihn kraulte, streckte er genüsslich alle Viere von sich, sodass ich kicherte.
»Wir müssen noch herausfinden, ob du mit uns fliegen kannst, putziputzi«, machte ich. Ich stockte. Das war ja wirklich schlimm, innerhalb kürzester Zeit hatte mein Gehirn sich darauf geeinigt, in Babysprache zu wechseln, wenn ich mit Jesus-Reagan sprach.
Deswegen fügte ich möglichst würdevoll und akademisch hinzu: »Ich muss Nachforschungen betreiben, inwiefern Tiere auf Flügen erlaubt sind und welche Informationen ich vorweisen muss.«
Jesus-Reagan maunzte zustimmend. Wir verstanden uns blendend. Wäre ich ein Tier, wäre ich wohl eine Katze wie er. Eine Diva auf vier Beinen.
»Sehr gut. Würden Sie also bitte von mir gehen und Ihre Streicheleinheiten woanders fortfahren?«, fragte ich. Leider wechselte ich nun in einen Tonfall, der definitiv ins Kabarett gehörte, und Jesus-Reagan setzte sich auf.
»Ja, genau, Sie meine ich«, sagte ich genervt zum Kater. Er miaute vor sich hin, sprang dann jedoch bereitwillig von meinem Schoß, sodass ich mich wieder dem Internet widmen konnte.
Während ich Google startete, ertönte das altbekannte ›Ping‹, das mir verriet, dass ich eine neue Nachricht bekommen hatte. Es war eine E-Mail und sie stammte von Kian. Er schien wirklich sehr überzeugt von seiner Idee zu sein.
Von: official.vanhagen(a)gmail.com
An: hannah(a)jaeger.com
Wir werden zu dritt nach Mexiko-Stadt fliegen, meine Eltern kommen direkt aus Den Haag. Ihr habt am Flug also genug Zeit, euch kennenzulernen.
Wunderbar. Dann hatte ich also ungefähr zehn Stunden Zeit, um diesen Ben kennenzulernen. Wenn das mal nicht zum Scheitern prädestiniert war, dann wusste ich auch nicht.
Meine Internetrecherche zu Jesus-Reagans Anwesenheit am Flug stellte sich als mehr als ernüchternd heraus. Tiere mit an Bord zu nehmen war nur begrenzt möglich, denn abgesehen davon, dass man Tiere frühzeitig telefonisch anmelden musste, war ein solcher Transport für ein Tier auch sehr anstrengend und vor allem teuer. Man brauchte einen Bescheid vom Tierarzt, einen Impfpass, und die Katze brauchte einen Heimtierausweis.
Wie zum Teufel sollte ich das alles auftreiben? Abgesehen davon, was war ein Heimtierausweis überhaupt? Eine Art Reisepass für Tiere?
Seufzend schloss ich den Internetexplorer und sah zu Jesus-Reagan, der im Halbschlaf auf meinem Bett thronte. Es schien ihm hier zu gefallen, aber ich wusste, dass irgendwer da draußen gerade herzzerrissen nach seiner oder ihrer Katze suchte.
»Ich glaube, du musst leider hier bleiben«, sagte ich reuevoll zu Jeez. Er sah mich an, als hätte ich ihm gerade die Luft zum Atmen abgedreht. »Ja, ich weiß, keine tolle Vorstellung.«
Nach einem Seufzen fuhr ich fort: »Morgen werden wir mal sehen, ob wir jemanden finden, dem du gehörst, und wenn sich bis zur Abreise in drei Tagen niemand gemeldet hat, dann wirst du bestimmt bei Delia unterkommen können. Aber du musst aufpassen, sie hat einen Hund.«
Zu Demonstrationszwecken bellte ich vielsagend, und Jesus-Reagan sprang von seinem ruhigen Plätzchen auf.
»Magst du keine Hunde?«
Natürlich kam keine Antwort, und als Jesus-Reagan auch nicht mehr zurück in mein Zimmer kam, seufzte ich, öffnete mein Fenster zum Lüften und ging in die Küche, um mir einen Tee zuzubereiten.
Kritisch waren immer diese Stunden zwischen zehn Uhr abends und fünf Uhr morgens, wenn es draußen so ruhig war, dass man auf einmal die eigenen Gedanken nicht mehr stumm schalten konnte. Innerhalb der letzten Tage hatte sich mein Leben um 180 Grad gewendet.
Aus meinem ereignislosen Studentenleben war eine aufregende Abenteuerreise nach Costa Rica geworden.
Aus meinem Single-Leben war eine vorgetäuschte Beziehung mit einem Halbniederländer geworden, den ich nicht einmal kannte.
Nur meine Vergangenheit war immer noch dieselbe, und wenn ich daran dachte, bildete sich immer noch ein Kloß in meinem Hals.
Bevor ich sentimental werden konnte, ermahnte ich mich selbst, damit aufzuhören, in den Erinnerungen zu schwelgen. Die Vergangenheit ist es nicht, was dich weiterbringt — das war einer der Sprüche, den ich mir täglich durch den Kopf gehen ließ. Ich sah lieber in die Zukunft und fragte mich, was mein Schicksal wohl noch alles für mich bereithielt, anstatt der Vergangenheit nachzuhinken.
Es war nicht so, dass ich nicht viel nachdachte. Denn ich schwelgte gerne in Gedanken, das war keine Frage. Aber ... man sollte nicht darauf vergessen, dass wir im Jetzt leben. Hier, jetzt, heute. Nicht gestern, nicht morgen. Heute.
Bewaffnet mit meinem Ingwertee ging ich zurück in mein Zimmer und stellte die dampfende Tasse auf mein Nachtschränkchen. Von Jeez war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte er es sich woanders bequem gemacht und spielte jetzt die beleidigte Leberwurst, weil die Fakten die Zukunft nicht gerade blumig präsentierten.
»Na dann schauen wir mal, was dieser Herr Adelig noch so erlebt hat«, murmelte ich und schnappte mir den Ordner vom Tisch. Mittlerweile hatte ich mir eine ganz gute Taktik angeeignet: Ich überflog alles nur, um zwar nichts wahnsinnig profund zu wissen, jedoch von allem ein bisschen was.
Ben schien eine wahre Koryphäe auf seinem Gebiet zu sein. Nicht nur, weil er ziemlich intelligent war und gerne bei Wettbewerben mitmachte — und gewann, so wahr es sich nicht um irgendeine sportliche Aktivität handelte — sondern auch, weil er, wie aus den Unterlagen hervorging, erst mit einundzwanzig zu studieren begonnen hatte.
Was er in den drei Jahren dazwischen getan hatte, stand leider nirgendwo, wobei mich dieser Vermerk wirklich interessiert hätte.
Ich nippte an meinem Tee, während ich weiter durch den Ordner blätterte. Es gab hinten sogar eine Sektion nur mit Fotos — natürlich nur Kopien, keine Originale. Tatsächlich faszinierten mich Kinderfotos, und ich blätterte interessiert nach hinten.
Das erste Foto war ein wenig verschwommen, weil es vermutlich mit einer Sofortbildkamera aufgenommen worden war. Es zeigte eine junge Frau, blond, groß, mit einem strahlenden Lächeln und hellblauen Augen. In den Händen hielt sie ein frisch geborenes Baby. Es hatte ganz feine, fransige Haare, und hielt die kleinen Händchen zu Fäusten geballt in die Luft.
Unter dem Bild stand Thijs. 24. 12. Weihnachten, 1993. Ich musste instinktiv lächeln, und strich vorsichtig über die Druckerschwärze. Die Qualität war nicht die beste, und die Farben auch nicht, aber ich fühlte die Emotionen, die mit diesem Foto verbunden waren.
Die nächsten Bilder zeigten Ben — von seinen Eltern offenbar präferiert Thijs genannt (ich musste unbedingt im Internet nachsehen, wie man das aussprach) — von der Geburt an bis zu seinem ersten Geburtstag in allen Variationen — im Schnee, im Buggy, im Maxicosi, dann einmal in Badehose, im Waschbecken, im Kübel, als er ein Bad nahm. Er hatte ein süßes, freches Grinsen und kleine Grübchen, war schon immer groß und schlank gewesen.
Die nachfolgenden Fotos zeigten ihn, als er langsam älter wurde. Der erste Volksschultag. Kian war ebenso zu sehen, er war damals ungefähr ein Jahr alt und versuchte gerade, seinen Windel-Popo vom Boden hochzuheben und zu laufen. Den Vater sah ich nur auf einem Foto: Er war ein groß gewachsener, schlaksiger Mann. Ben sah ihm tatsächlich ähnlich. Der Vater hatte grau meliertes Haar, das ehemals dunkel gewesen war, und ebenso markante Augenbrauen, wie Ben heute.
»Ich glaub's nicht«, kicherte ich, als ich ein Foto sah, auf dem Ben wie ein Mädchen verkleidet war. Er trug Schminke, wobei diese eher wie eine Kriegsbemalung aussah, und eine filzige, blonde Perücke.
Tatsächlich machte er auf mich einen friedlichen Eindruck. Ruhig und gelassen. Er schien eine schöne Kindheit gehabt zu haben — viele Spielsachen, viele Freunde, Geburtstagspartys und behütete Ausflüge.
Es ging dann sehr schnell, dass Ben ungefähr siebzehn, achtzehn Jahre alt war. Mittlerweile waren seine Haare dunkel geworden, und dieser verschmitzte Ausdruck auf seinem Gesicht, den ich schon auf den ersten Bildern wahrgenommen hatte, hatte sich vertieft. Er hatte Grübchen, die ziemlich niedlich aussahen, und helle Augen. Türkis oder grün, so genau sah ich es nicht, aber sie bildeten einen krassen Kontrast zu den untypisch dunklen Haaren für einen Niederländer.
Ich blättere weiter durch die Fotos. Es wurden immer weniger, und die Sprünge im Alter wurden immer größer. Am Ende sah ich noch das Bild von seinem Schulabschluss, er musste da ungefähr achtzehn Jahre alt gewesen sein. Er trug einen grauen Anzug und sah eher gequält als erfreut in die Kamera. Mittlerweile war seine Mutter etwas älter geworden und die Zeit hatte sich durch Furchen in ihre Haut gekerbt. Man sah ihr an, dass es ihr wohl nicht gut ging.
Dann hörten die Bilder plötzlich auf.
Ich blätterte zwar weiter, aber es kamen nur noch Belege von Interviews oder Prüfungen, und ich schloss seufzend den Ordner. Ben schien eine vielfältige Person zu sein.
Wieso hörten die Fotos einfach so abrupt auf?
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