Epilog

Die Geschichte hätte an dieser Stelle ein Ende gefunden, weil ich in der Gegenwart angekommen war. Weil ungewiss war, wie die Zukunft aussah, und weil ich die Geschichte von Ben und mir, wie wir uns in Wien kennenlernten, fern von jeglichen Lügen, Familienmitgliedern oder Bezahlungen, nicht erzählen sollte. Und konnte. Und irgendwie auch nicht wollte.

Hinterher war ich froh gewesen, dass ich mich auf diese Reise eingelassen hatte. Selbst wenn sie am Ende nicht so glimpflich ausgegangen war, wie ich es gehofft hatte, so war ich dennoch froh, dieses Abenteuer miterlebt zu haben.

Die Wanderung, die Höhlen, das Meer. Costa Rica. Mexiko. Die französischen Inseln, die karibischen Korallenriffe. Wann hatte ich schon so eine Gelegenheit, wenn nicht jetzt?

Nie zuvor war ich so weit gereist — und das war definitiv eine Geschichte, mit der ich meine Enkelkinder eines Tages begeistern würde. Eine Story, die ich dem Wurstverkäufer mit achtzig erzählen würde, ob er es hörten wollte, oder nicht.

Denn selbst, wenn die Gefühle zu Ben nicht schwächer wurden und mein Schmerz nicht weniger wurde, war ich irgendwie froh, dass ich für wenige Tage ein Gefühl wie Liebe gespürt hatte. Die Liebe war es schließlich, die Menschen zu unvorstellbaren Dingen trieb. Die Liebe war es, die uns am Lieben hielt. Sie schoss uns ins Bein und wir humpelten weiter.

Mir war zu Ohren gekommen, dass Kian sich mit seiner Mutter ziemlich verkracht hatte. Er war, zwei Tage nach mir, mit Lisa ebenfalls vom Boot abgehauen. Die zwei hatten die Reise alleine fortgesetzt, indem sie einige Tage in Costa Rica verbracht hatten, ehe es zurück nach Wien ging. Lisa lebte in den Niederlanden und pendelte zwischen Wien und Den Haag hin und her — sie studierte in Den Haag, er in Wien. So eine Fernbeziehung war sicher nicht leicht, weshalb ich sie umso mehr bewunderte. Bei ihnen sah es so einfach aus. Das war auch so etwas, was die Liebe machte — sie ließ uns unglaubliche Dinge vollbringen.

Nur Ben war am Boot geblieben.

Anscheinend war er bis Costa Rica mitgefahren, hatte dann aber sofort den Flieger nach Wien genommen — den Flieger zu mir.

Doch machte das sein Schweigen wieder gut?

Nein.

Zu tief saß der Schmerz des Verrats in meiner Brust, um durch ein paar Tausend Kilometer in der Luft und einigen leeren Worthülsen wieder gutgemacht zu werden.

Die Tage und Wochen nach dem Urlaub waren mit Ereignissen gefüllt.

Delia lernte Ben kennen. Er hatte tatsächlich (Gott sei Dank) ein bisschen Angst vor ihr, schließlich hatte ich ihn todernst vorgewarnt, was sie vorhatte, mit ihm anzustellen, sollte er so eine Scheiße noch einmal machen.

Sie ist Profi darin, es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Trotz ihrer blonden Haare, der blauen Augen und dem hübschen Puppengesicht konnte Delia Schumacher nämlich verdammt angsteinflößend sein, wie Ben gleich in den ersten fünf Minuten, in der sie ihn kennenlernte, merken sollte.

»Du bist also der legendäre Herr Kronprinz?«, fragte sie. Ihr sarkastischer Tonfall gab mir Genugtuung, wohingegen Ben die Augen rollte.

»Ben reicht, danke«, hatte er gesagt.

»Mhm. Und, wie siehts aus mit den Kronjuwelen des Kronprinzen?«, hatte sie gefragt. »Wenn du meine beste Freundin nämlich noch einmal verletzt, könnte es sein, dass die aber ganz schnell demoliert sind.«

Daraufhin hatte sich ein leicht ängstlicher Ausdruck auf Bens Gesicht gelegt, er aber süffisant gesagt: »Klar. Und wie genau willst du das anstellen?«

»Ich habe da meine Taktiken.«

»Ach? Zum Beispiel?«

»Wirst du sehen, wenn es so weit ist. Ich sags dir — ich lasse es wie einen Unfall aussehen.« Und dann boxte sie ihn freundschaftlich so fest gegen den Arm, dass er taumelte.

Michi und Ben verstanden sich richtig prächtig. Das wunderte mich kaum, denn sie arbeiteten beide im juristischen Bereich. Michi bot Ben sogar an, dass sie die Immobilienrechtsabteilung in der Firma seines Vaters gemeinsam auf Vordermann bringen konnte, was letzterer jedoch ablehnte, weil er sich in Richtung Strafrecht spezialisieren wollte.

Ein bisschen ironisch war das schon. Aber das war wahrscheinlich die Ironie des Lebens.

Ich für meinen Teil lernte Clemens kennen. Er war durchschnittlich groß, ein bisschen fester, aber gerade so gebaut, dass man mit ihm sicher gut hätte kuscheln können. Clemens studierte auch an der WU, allerdings Wirtschaftsrecht, das Jus-Plus-Angebot, während ich Wirtschaftswissenschaften studierte. Clemens und ich rissen öfters Witze über Professoren, was Ben nie verstand, und wenn wir dann schallend lachten, spielte er immer die beleidigte, ausgeschlossene Leberwurst, was uns noch mehr zum Lachen brachte.

Wenn es das unzuverlässige Maiwetter zuließ, verbrachten wir viel Zeit beim Spritzerstand der WU und noch mehr Zeit im Augarten und am Donaukanal. Diese lauen Abende, bei denen man mit einem Spritzer auf den riesigen Steinstufen saß, die zum grünen Donauwasser hinabführten, vom Flex die Technomusik hörte, von der Strandbar Hermann die klassischen Hits erklangen und von vorbeigehenden Teenagern aus den Bose-Boxen Deutschrap ertönte.

Die Situation zwischen Ben und mir war noch eine ganze Weile angespannt. Ich war enttäuscht von seinem Verhalten, obwohl ich wusste, dass er ziemlich am Try-Harden war. Er versuchte wirklich, ein besserer Mensch zu sein, und trotzdem ließ ich ihn ein bisschen zappeln. Ich wusste einfach nicht, was ich tun oder fühlen oder machen sollte.

Wir besuchten gemeinsam Freiluftkonzerte im Gasometer, gingen gemeinsam zur Silbernen Hochzeit von Delias Eltern, ja, wir wurden richtig gute Freunde.

Freunde.

Doch als ich am Freitag dieses kleine Päckchen aus dem Postfach holte, musste ich hart schlucken. Es war notdürftig in Alufolie und Backpapier gewickelt und definitiv nicht vom Postboten überbracht worden. Noch im Stiegenhaus löste ich die Kartonschnur und öffnete das kleine Päckchen.

Oben auf lag eine Karte.

Kians Handschrift.

Ich merkte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Als ich den Zettel zur Seite schob, sah ich, dass es die Fotos waren, die Kian im Laufe des Urlaubs von Ben und mir gemacht hatte. Die kleinen, unscharfen Polaroidbilder, die mich sofort zwei Monate in der Zeit zurückkatapultierten. Inklusive Gefühlsrausch.

Es waren alle Fotos, die Kian in den unpassendsten Momenten geschossen hatte — das oberste Foto zeigte mich und Ben, am Flug nach Mexiko, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Mein Kopf ruhte auf seiner Schulter. Wir hatten beide die Augen geschlossen und schliefen seelenruhig. Unwillkürlich stieg mir sein Geruch in die Nase. Dieser undefinierbare, herbe und doch so sanfte Geruch von Ben.

Scheiße, wie ich das vermisste.

Das nächste Bild zeigte mich, wie ich die Augen verdrehte, und Ben gerade irgendwas sagte. Es müsste bei dem Essen in Mexiko gemacht worden sein, als Gabriella mich fragte, was ich an Ben so faszinierend fand, und ich eine bühnenreife Story von Lukas aus Alaska erfunden hatte. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er ein Foto gemacht hatte.

Ein weiteres Bild zeigte Ben und mich am Boot, einmal, wie ich auf der Reling im blauen Badeanzug stand und verängstigt ins Wasser schaute, während Ben hinter mir stand und eine Grimasse schnitt. Ich musste grinsen, als ich diese Grübchen sah.

Kian hatte unvergessliche Augenblicke eingefangen. Egal, ob wir den populärsten Moment von Titanic nachstellten — ich, ganz vorne an der Reling, mit ausgestreckten Armen und wallendem Haar, Ben, hinter mir — oder Spaghetti aßen und dabei die Soße überall klebte, diese Erinnerungen waren flüssiges Glück. Wir lachten herzhaft, als gäbe es nichts und niemanden, was uns etwas antun könnte — als würden wir gemeinsam alles besiegen.

Ein Foto zeigte uns, wie ich richtig lustlos auf dem Wanderweg stand und mich umsah, während Ben schon ganz weit vorne war. Eines zeigte, wie wir Palatschinken in der Küche brieten. Ben stand in einem karierten Hemd am Fenster und trug ein dunkelblaues Käppi, während ich eine Hand auf seine Schulter gelegt hatte und mich zu ihm stellte. Unsere Gesichter waren nicht zu sehen — scheinbar hatte sich Kian angepirscht und von hinten ein Foto gemacht.

Und ... und dann gab es noch ein Foto.

Das unterste Foto zeigte Ben und mich, als wir uns küssten. Seine Hand ruhte sanft auf meiner Wange, während meine in seinem Nacken lag. Ich spürte die Berührung, als würde sie mir soeben widerfahren, doch es war nur ein Foto. Ein Abbild einer Situation, die nur in meiner Erinnerung und auf diesem Foto existierte. Es war der Abend gewesen, als wir Monopoly gespielt hatten und ich gewonnen hatte. Der Abend, an dem Ben und ich ein nächtliches Bad genommen hatten.

Der Abend, an dem ich mir meiner Gefühle für Ben bewusst wurde.

Und auf einmal wusste ich, was ich tun sollte. Auf einmal klärte sich dieser wabernde Gefühlswirrwarr in meinem Herzen.

Ich wusste, was ich wollte — wen ich wollte.

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