5/7 - Die Entzauberung des Magischen
„Opa!", rief Lilly Dolton so laut sie konnte, nachdem ihre Mutter sie vor dem Haus ihrer Großeltern abgesetzt hatte, um sofort weiter und auf Arbeit zu düsen. Lilly mochte es nicht, mit ihrer Mutter Auto zu fahren, sie fuhr ihr zu schnell. Viel lieber saß sie in dem alten Auto ihres Opas, welches er liebevoll Mondrakete nannte, und hörte den Geschichten und Märchen zu, die sich ihr Großvater so geschickt erdachte, dass sie wirkten als wären sie aus Träumen gemacht. „Ja, so durchgeknallt, wie dein Opa ist, müssen da ja gute Geschichten heraus kommen", erzürnte sich ihre Großmutter, wenn sie ihn mal wieder dabei erwischte, wie er in seinem großen, lindgrünen Sessel saß und Geschichten erzählte, anstatt im Haushalt zu helfen. Aber während sie das sagte, bedachte sie ihn stets mit so einem liebevollen Blick, dass sich Lilly ganz verzaubert von der starken Liebe zwischen ihren Großeltern fühlte. So etwas erlebe ich später auch, schwor sie sich dann immer und kuschelte als Vorbereitung mit ihrem großen Teddi.
„Kannst du mir nochmal erzählen, wie ihr euch kennen gelernt habt?", fragte die Kleine ihren Großvater hoffnungsvoll, nachdem er sie aus seiner bärenstarken Umarmung entlassen hatte, woraufhin er nur lächelnd den Kopf schüttelte.
„Aber diese Geschichte hast du doch schon so oft gehört, wird sie nicht langsam langweilig?"
„Nicht, wenn du sie erzählst", erwiderte das Mädchen im Brustton der Überzeugung und sah ihren geliebten Großvater bittend aus ihren großen Augen an.
„In Ordnung", brummte er, indem er sich mühsam ein Grinsen verkniff. Die Kleine wusste ganz genau, wie sie Erwachsene um den Finger wickeln konnte. Das klappte bei jedem, außer ihrer Mutter....
Bei diesem Gedanken verflog die Andeutung eines Grinsens genau so schnell wie sie gekommen war und auf einmal fiel es ihm erschreckend leicht ernst zu gucken. Lilly merkte nichts von dem plötzlichen Stimmungsumschwung ihres Opas und setzte sich mit leuchtenden Augen im Schneidersitz auf den Märchenteppich, der genau zu diesem Zweck vor seinem Sessel lag. Sie war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Teppich mit ihr auf die Reise ging, genau wie der Fliegende Teppich in dem Märchen aus einem fernen Land, von dem Lilly den Name nicht wusste. Einem Land, in dem die Männer auf Kamelen reisten und sich um wundersame Lampen stritten.
Als sich ihr Großvater räusperte, fühlte Lilly wieder den Boden durch den Teppich unter sich hindurch und richtete ihre glänzendem Augen auf ihren Großvater, der gerade mit wichtiger Miene seine Brille absetzte, sich an der Stirn kratzte, nur um die Brille kurz darauf wieder aufzusetzen. Diese kleine Geste war ein genau so großer Bestandteil seiner Märchen und Geschichten, wie die Wörter selbst und würde er einmal auf diese Geste verzichten, so war sich Lilly sicher, wären seine Märchen nicht mehr halb so magisch.
"Und du bist dir sicher, dass du diese Geschichte nochmal hören möchtest? Wird sie nicht langsam langweilig?", fragte der Großvater mit einem Schmunzeln, welches zu einem verschmitzten Grinsen anwuchs, als Lilly so stürmisch nickte, dass ihre braunen Zöpfe schwungvoll auf und nieder sprangen. Bevor sie vor lauter Nicken noch an die Decke hüpfte, begann ihr Großvater dann doch mit den drei magischen Worten, die sie so liebte:
"Es war einmal... ein attraktiver junger Mann-"
"Herrmann... Bitte, jetzt übertreib doch nicht immer. So attraktiv warst du nun auch wieder nicht", unterbrach ihn ihre Großmutter und Lilly sah förmlich vor sich, wie sie schmunzelnd von ihrer Zeitung aufsah, die sie gerade in der Küche las.
"Es war einmal ein attraktiver junger Mann", fuhr Herrmann Dolton unbeirrt fort, "der war unheimlich einsam. Er versuchte alles. Rauschende Feste mit seinen besten Freunden, die teuersten Urlaube und Zurückgezogenheit, doch nichts davon funktionierte und der junge Mann wurde immer unausstehlicher. Bald wollten selbst seine besten Freunde nichts mehr von ihm wissen. Tag ein, Tag aus lag er in seinem Bett und träumte davon, endlich ein Gefühl der Zugehörigkeit zu verspüren. Sein Herz wurde immer kälter, bis auch seine Eltern nichts mehr ausrichten konnten. In seiner Hilflosigkeit verspürte er an einem regnerischen Novembertag, welcher genau seiner Stimmung entsprach das Bedürfnis nach frischer Luft. Seine Eltern, die dies für eine Fügung hielten waren so erleichtert, dass sie ihn förmlich aus ihrem Haus heraus jagten. Und so streifte er durch die Wälder, darum bemüht einen Ort zu finden, an dem er innerer Frieden auf ihn warten würde. Nach 7 Stunden, in denen er mindestens 12 Mal überlegt hatte, ob er sich nicht doch wieder in seiner Wohnung verkriechen sollte, entdeckte er ein seltsames Leuchten, welches ihn geradezu in eine bestimmte Richtung des Waldes zog. Das Leuchten wurde immer stärker, bis er plötzlich einer wunderschönen Frau mit schillernden Flügeln gegenüber-"
"Der guten Fee!", unterbrach ihn Lilly mit strahlenden Augen. Es war offensichtlich, dass er nun zu ihrem Lieblingsteil der Geschichte kam.
"Der guten Fee", bestätigte der Großvater still lächelnd, "sie fragte den jungen Mann, warum er denn so niedergeschlagen umherirrte und auf einmal sprudelte aus ihm heraus, dass er einsam war und Angst hatte, nie ein Mädchen zu treffen, welches ihn so sehr liebt wie er sie. Der guten Fee tat der junge und attraktive Mann sehr leid und sie beschloss ihm zu helfen. Bevor er wusste wie ihm geschah, befand er sich zurück in seinem Zimmer, doch auf seinem Fensterbrett lag eine goldschimmernde Einladung zu einem rauschenden Fest in dem Garten der Nachbarn am kommenden Abend. Als der nächste Tag kam, war der junge Mann sehr nervös, denn er hatte das Gefühl, dass heute etwas ganz Entscheidendes geschehen wird. Als er den Garten betrat, sah er schon von weitem das besondere Leuchten, welches er bereits im Wald wahrgenommen hatte. Im Mittelpunkt stand eine wunderschöne Frau, erhellt durch die magischen Strahlen. Doch je näher er kam, desto schwächer wurde das Leuchten, bis die Frau , die vor ihm stand zwar immer noch wunderschön, jedoch auch menschlicher wirkte als durch das Strahlen. Er spürte ein Flattern in seiner Brust, sein Herz tanzte vor Freude und er wusste, dass er nun seine Seelengefährtin gefunden hatte, die er nie wieder würde gehen lassen. Und da die beiden noch nicht gestorben sind, so leben sie noch immer glücklich bis an ihr Lebensende in einem kleinem Haus. So, nun aber husch zu deiner Oma in die Küche, sie hat heute morgen deine Lieblingskekse gebacken, die du dir doch bestimmt nicht entgehen lassen möchtest."
Lilly, noch ganz benommen von den fremden Welten, in die sie sich gerade so bereitwillig hatte entführen lassen, stand langsam auf und ging bedächtigen Schrittes zu ihrer Oma, welche ihr gerade einen Teller mit Keksen und ein Glas frische Milch hinstellte.
"Ganzer Kopf voll mit Geschichten. Unfassbar. Kindskopf", murmelte sie halblaut vor sich hin, strich Lilly liebevoll über den Kopf, schlug ihrem Ehemann sanft auf die Finger als er sich auch einen Keks stibitzen wollte und vergrub anschließend erneut ihren Kopf in der Tageszeitung.
Als Lilly am Abend wieder von ihrer gehetzt aussehenden Mutter eingesammelt wurde, war ihr Kopf immer noch gefüllt von dem Gefühl der unbändigen zärtlichen Liebe, welche im Haus ihrer Großeltern zuhause war, sowie von dem Bild einer wunderschönen Frau, der guten Fee. Ab diesem Tag hielt sie jedes Mal, wenn sie das Haus verließ Ausschau nach dem magischen Leuchten, welches ihr Großvater erwähnt hatte. Doch von Tag zu Tag wurde sie unsicherer, denn sie fand weder ein magisches Leuchten, noch eine wunderschöne Frau. Vielleicht musste sie erst durch den Wald irren bevor sie die Frau treffen konnte. Doch wie sollte sie aus dem Haus und in den Wald kommen, wo sie doch mitten in der Stadt lebte?
Als Lillys Mutter sie das nächste Mal in ihr Auto packte um in Richtung Großeltern zu düsen, konnte Lilly es kaum erwarten, endlich ihren Großvater zu sehen. Gewiss würde er mit ihr in den Wald gehen und dann konnte sie endlich mit der guten Fee reden!
"Opa!", rief sie und rannte so schnell sie konnte auf das Haus zu, um sich in seine Arme zu stürzen. Auch wenn sie sich zuletzt vor zwei Tagen gesehen hatten, hatte sie das kleine Reihenhaus ihrer Großeltern vermisst.
"Komm mit", kicherte sie und zog an seiner Hand.
"Können wir in den Wald gehen?"
"Den Wald?", fragte er verwundert und zog verwirrt seine buschigen Augenbrauen zusammen. "Warum möchtest du denn in den Wald gehen?"
"Ach weißt du", sprudelte es da auf einmal aus Lilly heraus, "ich habe die Fee gesucht, das habe ich wirklich. Aber ich konnte sie nicht finden! Ich habe wirklich überall gesucht aber ich konnte auch kein magisches Leuchten entdecken. Ich hab in dem Park neben dem Kindergarten geguckt aber da war nichts... Kannst du mich nicht in den Wald führen?"
"Aber warum möchtest du denn unbedingt diese gute Fee finden?", murmelte er immer noch verwirrt, denn ihre Hintergründe erschlossen sich ihm nur bedingt.
"Ich möchte endlich meinen Märchenprinz finden, ich kann doch nicht für immer allein in meinem Schloss leben!" Am Ende wurde ihre Stimme immer höher durch ihre kindliche Empörung, welche dieser Gedanke verursachte. Er wusste, dass sie auf ihr Plastikschloss anspielte, welches ihre Mutter ihr vor einem Jahr geschenkt hat, um sie über die Trennung ihrer Eltern hinweg zu trösten. Er wusste auch, dass sie es vollkommen ernst meinte, dass sie wirklich daran glaubte, dass sie ihren Märchenprinz jetzt finden musste, doch er konnte nicht anders als zu schmunzeln. Sie war doch erst vier!
"Ach Lilly-"
"Opa", quengelte Lilly und zerrte erneut an seiner Hand, den Blick stur in die Richtung gerichtet, in der sie den Wald vermutete.
"Lilly, ich glaub ich muss dir was gestehen... komm mit, ich erzähl dir eine Geschichte."
"Aber Opa, du kannst mir doch auch später eine Geschichte erzählen. Später, wenn ich mit der guten Fee gesprochen habe." Lilly wollte partout nicht einsehen, was denn nun wichtiger sein konnte, als ihr persönliches Märchen. Denn ihr Schloss war zwar nicht groß, das erkannte sogar eine Vierjährige, jedoch trotzdem groß genug, um sich einen Spielkamerad zu wünschen.
"Ach Lilly, komm mit, ich will dir nochmal die Geschichte erzählen, wie deine Oma und ich uns kennengelernt haben, diesmal aber richtig." Es gefiel Herrmann Dolton nicht, diese Geschichte nun erneut erzählen zu müssen, doch er erkannte durchaus, dass Lillys Neugier gefährlich für sie werden könnte. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was ihr alles geschehen könnte, würde sie beschließen allein in den Wald zu gehen. Sie könnte stürzen und sich verletzen, sie könnte sich verirren! Nein. Er musste ihr erzählen, was damals wirklich passiert war.
Als sich ihr Großvater diesmal in seinen Sessel sinken ließ, wirkte er älter, schwerfälliger, was sogar dem kleinen Mädchen nicht entging. Er nahm seine Brille ab und Lilly kicherte in froher Erwartung dessen was gleich kommen würde. Doch ihr geliebter Großvater seufzte nur und setzte sich schließlich die Brille wieder auf, ohne sich zuvor überhaupt an der Stirn gekratzt zu haben. Plötzlich hatte Lilly ein ganz seltsames Gefühl, wollte sogar die Geschichte gar nicht mehr hören. Doch ihr Großvater begann zu sprechen und schon bald war Lilly erneut ganz verzaubert von seinen Worten. Trotzdem konnte sie ein gewisses Unwohlsein nicht vermeiden, denn ihr Großvater erzählte die Geschichte nicht so, wie Lilly sie kannte und liebte.
"Du musst wissen, dass ich gar nicht in den Wald gehen konnte, zu groß wären die Sorgen gewesen, die sich meine Eltern gemacht hätten. Außerdem schickte es sich nicht für einen jungen Mann meines Standes durch die Wälder zu streifen. Deshalb saß ich Tag ein, Tag aus in unserem Garten und las. Doch eines Abends erreichte mich ein entferntes Leuchten und ließ mich aufschrecken. Ich folgte dem Leuchten und fand meine Mutter mit einer Kerze in der Hand. Du musst wissen, dass es zu dieser Zeit, so kurz nach dem Krieg nur wenige Kerzen gab. Ich fragte meine Mutter, wie es komme, dass sie eine Kerze einfach so, ohne einen ersichtlichen Grund brennen ließ, doch sie lächelte nur und meinte, dass ich lange genug einsam gewesen sei. Ich verstand nicht, was sie mir sagen wollte und stritt ab, dass ich mich nach einer Freundin sehnte. Am nächsten Abend lag ich wieder in unserem Garten, als ich erneut ein Leuchten wahrnahm. Ich folgte dem Leuchten, auch wenn ich zuerst dachte es sei wieder meine Mutter und kam zu dem Garten unserer Nachbarn. Damals die Familie deiner Großmutter. Ich fand sie, umgeben von mindestens 20 Kerzen und sie sah so wunderschön aus, dass ich mich auf der Stelle in sie verliebte. Das Ende ist allerdings nicht so schön. Sie befahl, sie morgen mit Blumen als Geschenk zuhause abzuholen. Sie hätte mir so viele Kerzen geopfert, dass sie nun zumindest eine offizielle Verabredung verdient hätte."
"Die Kerzen schuldest du mir übrigens immer noch", meldete sich Lillys Großmutter zu Wort, die im Türrahmen lehnte und die Szene lächeln beobachtete. Sie liebte diese Momente, in denen all ihre Liebsten vereint waren.
"Guck mal im Küchenschrank nach meine Liebe", meinte der Großvater, bevor er das Ende seiner Geschichte erzählte, "erst später erfuhr ich, dass meine Mutter sie auf die Idee mit den Kerzen gebracht hatte, um uns miteinander zu verkuppeln. Und somit lebten wir bis heute glücklich in unserem kleinen Häuschen-"
"Kerzen", unterbrach ihn ein geschockter Ausruf aus der Küche. Doch er ließ sich nicht beirren, sondern fuhr unberührt fort: "und ich habe keine einzelne Sekunde davon bereut."
"Aber Opa... Die gute Fee", murmelte Lilly noch immer ganz geschockt davon, dass diese magische Geschichte gar nicht so magisch war und zum Entsetzen der Großeltern schimmerten Tränen in ihren Augen.
"Es tut mir Leid Lilly, die gibt es nicht. Zumindest nicht wirklich. Für mich ist meine Mutter eine gute Fee, da sie uns zusammengebracht hat... Aber sie hatte weder Flügel, noch einen Zauberstab."
"A-aber Opa", schluchzte Lilly voller Verzweiflung. Sie würde niemals, wirklich niemals wieder so hartnäckig nachbohren, wenn das bedeutete, dass sich ihre Träume in Luft auflösten.
"W-wie soll ich den jetzt mei-meinen Traumprinzen finden? Ich werde für i-immer allein spielen müssen."
"ich sag dir was Lilly", versuchte die Großmutter sie zu trösten, "morgen holen wir dein Schloss zu uns und dann ist dein Opa dein Märchenprinz. NA, was sagst du dazu?"
In Lillys Augen trat ein abwesender Ausdruck, sie dachte angestrengt nach.
"Aber Opa ist doch viel zu alt für einen Prinzen! Er kann höchstens der Vater des Königs sein."
"Dann laden wir eben Tim, den Sohn unserer Nachbarn ein. Er ist gerade fünf geworden und der geborene Märchenprinz", brummte Herrmann Dolton gespielt beleidigt und sah mit Freude, wie die Augen seiner geliebten Enkelin wieder mit Leuchten anfingen.
"In Ordnung. Du darfst dann meinetwegen der Vater des Königs sein", stellte sie großzügig fest, bevor sie aufgeregt anfing die Hochzeit des Prinzen mit der hübschen und klugen Prinzessin zu planen.
"Ihr werdet meine Trauzeugen", stellte sie noch fest, bevor sie in den Garten stürmte, um Tim zu begutachten.
Zurück blieben ihre Großeltern, welche ihr mit von Liebe erhellten Gesichtern nachsahen. Schließlich wandte sich Lillys Großmutter zu ihrem Mann um und lachte: "Na dann komm mal mit, Vater des Königs und folge der Mutter des Königs in die Küche, sie hat ein Stück Kuchen für dich."
"Oh da lasse ich mich nicht zweimal bitten", strahlte Herrmann Dolton, "aber ich bin mir sicher, dass wir mit Lilly noch ganz viele Märchen erleben werden. Auch wenn sie nun vermutlich nicht mehr so magisch für sie sind, wie vorher."
"Mach dir nichts daraus, wie sagst du immer? Ende gut, alles gut?"
"Und sie leben glücklich bis an ihr Lebensende. Aber dein Ende war natürlich auch sehr schön."
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