Traubenhyanzinthe ☘ ~ Der Mann hinter der Theke
~ Der Mann hinter der Theke ~
Traubenhyazinthe - Muscari armeniacum
Die Traubenhyanzinthe steht für die Erfüllung langersehnter Wünsche und das Gute.
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Er war geduldig gewesen. Er war schon seit einem längeren Zeitraum geduldig gewesen. Müsste er sich mit einem Tier vergleichen, wäre der Ochse eindeutig das Treffendste. Er arbeitet unermüdlich und den ganzen Tag, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, sich über sein scheiß Leben und seine ihm ausweglos vorkommende Situation zu beschweren.
Mit seinen Fingern streicht er über die Holztheke. Der Brief, auf den er seit Jahren geduldig gewartet hat, brennt ihm förmlich ein Loch in seine Tasche. Mit einem Seufzen zieht er den Umschlag heraus. Dieser zeigt schon deutliche Gebrauchsspuren. Erst heute Morgen ist ihm ein Glas Orangensaft umgekippt und hat eine Ecke aufgeweicht. Gestern ist er ihm im vollen Supermarkt aus der Tasche gefallen und als er ihn endlich wieder gefunden hat, sind bereits mehrere Leute darüber gelaufen und haben ihre dreckigen Schuhabdrücke darauf hinterlassen.
Und das ist nur eines der wenigen Dingen, die der Brief über sich ergehen lassen musste. Man sollte meinen, so geduldig er auf den Brief gewartet hat, müsste er jetzt vollkommen außer sich sein und es gar nicht erwarten können, ihn endlich zu öffnen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Er kann es einfach nicht über sich bringen. Mit seinen Fingerspitzen berührt er die Briefmarke, auf der eine Traubenhyazinthe abgebildet ist und denkt über seine Situation nach.
"Möchtest du etwas trinken?"
Eine warme Stimme holt ihn aus seinen Gedanken und verankert ihn wieder in der Realität. Ein Mann, wahrscheinlich der Barkeeper, da er hinter der Theke steht, guckt ihn abwartend mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
"Eine Cola bitte."
"Ach, leben wir heute etwa gefährlich?", scherzt der Mann mit dem braunen Haar, bevor er sich bückt und eine Flasche aus dem Kühlschrank holt und die Flüssigkeit daraus in das Glas gießt, welches er aus dem Regal hinter sich nimmt. Nachdem er das volle Glas vor ihm abgestellt hat, lehnt er sich abwartend mit seinen Ellenbogen auf die Holztheke. Intensiv betrachtet er die blonden Locken und die braunen Augen von dem Mann, der vor ihm sitzt und jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit den heruntergekommenen Brief in seiner Hand anstarrt. "Was steht drin?"
Überrascht hebt der Angesprochene die Augenbrauen und seine Finger klammern sich kaum merklich stärker an den Briefumschlag, als würde er ihn mit seinem Leben beschützen und ihn mit niemandem teilen wollen. "Entweder gute oder schlechte Nachrichten."
Der braunhaarige Mann legt seinen Kopf schief. "Du spielst gerade also quasi Schrödingers-Katze mit einem Brief? So lange du nicht weißt, was drin steht, kannst du dir also einreden, dass es gute Nachrichten sind oder eben nicht."
Nichtssagend zuckt der Blonde mit seinen Schultern. Doch der Barkeeper guckt ihn weiterhin abwartend an, die Neugierde lässt seine Augen förmlich funkeln. Mit einem Seufzen lockert er den Griff seiner Finger und legt den Brief vorsichtig vor sich ab. "Ich habe hart für eine Sache gearbeitet und dieser Brief offenbart mir, ob diese Sache, mein größter Wunsch, in Erfüllung geht oder eben nicht."
"Und warum bringst du es nicht einfach über dich und öffnest diesen Brief? Danach weißt du es auf jeden Fall und sollte der schlimmste Fall eintreten, kannst du anfangen über einen Plan B nachzudenken."
Doch so einfach ist es nicht. Sollte sein Traum nicht in Erfüllung gehen, hat er die letzten Jahre völlig umsonst dafür gekämpft. Es würde sich anfühlen, als hätte er auf ganzer Ebene versagt.
Der Barkeeper merkt ihm anscheinend seinen Widerstand an. "Wie wäre es, wenn du mir verrätst, worum es geht und ich diesen Brief für dich öffne. Vielleicht fällt es dir leichter, wenn jemand anderes den Brief aufmacht."
Kopfschüttelnd lehnt der Blonde dieses Angebot ab. "Das muss ich ganz alleine schaffen. Ich muss im schlimmsten Fall damit umgehen können und im Moment fühle ich mich noch nicht dafür bereit."
"Kannst du mir bitte verraten, worum es geht? Ich brenne beinahe vor Neugier und ein mögliches Szenario nach dem anderen rauscht vor meinem inneren Auge vorbei.", gespielt verrückt werdend hält er sich mit seinen Händen den Kopf und wirft ihm um Hilfe bittende Blicke zu.
Ein kleines Lächeln huscht über die Lippen vom blonden Mann. Er schüttelt seinen Kopf und blickt auf den Brief herunter. Sein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und sein Gesicht nimmt wieder einen ernsten Zug an. "Erzähl mir von ihnen.", bittet er den Braunhaarigen und seine Augen flehen beinahe nach Ablenkung.
Einen langen Moment liegen die grünen Augen des Barkeepers auf ihm und suchen in seinem Gesicht nach etwas, was er nicht genauer beschreiben kann. Es fühlt sich an, als könnte er in ihn hinein gucken und seine geheimsten Wünsche lesen. Mit einem Nicken unterbricht er schließlich diesen Austausch und wendet sich der Spülmaschine zu, aus der er mehrere saubere Gläser nimmt und anfängt, diese ordentlich in das Regal hinter ihm zu sortieren.
"Szenario Nummer Eins. Ein Klassiker. Du wirkst noch relativ jung. Anfang, Mitte 20 vielleicht.", er legt seinen Kopf schief und wartet das bestätigende Nicken des Blonden ab, bevor er fortfährt, "Du musstest die letzten Jahre arbeiten, damit du dir Uni Gebühren leisten kannst und in diesem Brief erfährst du, ob sich die harte Arbeit gelohnt hat und du angenommen wurdest."
Lächelnd legt der Blonde seine Hand auf der Theke ab und berührt mit seinen Fingerspitzen die Briefmarke. "Ein Klassiker."
Zustimmend nickt der Barkeeper und fährt damit fort die Spülmaschine auszuräumen. "Szenario Nummer Zwei. Du hattest eine heiße Affäre mit einer Frau und sie wurde schwanger. Doch da sie ein absolutes Miststück ist, weigert sie sich, dich das Kind sehen zu lassen. Dem Amt hat sie irgendeinen Schwachsinn erzählt, so dass sie ihr das alleinige Sorgerecht zugesprochen haben. Das hat dafür gesorgt, dass du dein Kind die letzten Wochen nur alle zwei Wochen für ein paar Stunden am Wochenende gesehen hast. Du hast dir also einen Anwalt besorgt und um das gemeinsame oder sogar alleinige Sorgerecht gekämpft und in diesem Brief steht, ob du erfolgreich warst und dein Kind endlich sehen kannst."
"Wäre es in diesem Fall aber nicht schlecht, sollte ich den Brief nicht so schnell wie möglich aufmachen? Im Falle eines Gerichtsverfahrens könnte ich doch bestimmt Widerspruch einlegen."
Nachdenklich stützt der Barkeeper seine Hände in die Hüfte ab. "Da stimme ich dir zu.". Er nimmt dem Blonden sein inzwischen leeres Glas weg. Er war so durstig, dass er die kalte Flüssigkeit da drin fast in einem Zug ausgetrunken hat. Wenn er sich anstrengt, kann er immer noch das Prickeln der Kohlensäure im Rachen spüren. Der Barkeeper stellt das frisch befüllte Glas wieder vor ihm ab.
"Szenario Nummer Drei. Du bist im Waisenhaus aufgewachsen. Deine Akte wurde fast vollständig geschwärzt. Als du aufgewachsen bist, wusstest du also nicht, wer deine Eltern sind und wieso sie dich abgegeben haben. Das hat dich stark traumatisiert. Du hast eine Bindungsphobie davon getragen, da du denkst, dass jeder der dir wichtig ist, dich irgendwann verlassen wird. Dieser Brief kommt vom Waisenhaus in dem du aufgewachsen bist und er enthält nicht nur deine Akte, sondern auch einen Brief deiner Eltern. Du hast hart gekämpft und dich in die Sache reingekniet, um an diese Unterlagen zu kommen, doch jetzt weißt du nicht, ob du ihn wirklich aufmachen möchtest, aus Angst, was drin stehen könnte."
Das nervöse Pochen in seinem Hinterkopf, welches mit dem Erhalt des Briefes einhergegangen ist, wird immer ruhiger, bis es fast komplett zum Stillstand kommt. Es scheint, als würde dieses Gespräch ihm genau das geben können, was er so dringend benötigt hat. "Mehr.", bittet er den Barkeeper leise und hofft damit, seine Gedanken vollkommen von seiner Situation und den beschriebenen Seiten vor ihm lösen zu können.
Die Aufzählungen und Beschreibungen der Szenarien werden immer wieder durch das Auftauchen eines Kunden oder eines Kellners für einen kurzen Moment gestoppt. Der blonde Mann kann seine Neugierde auf weitere Szenarien inzwischen gar nicht mehr stoppen. Der Barkeeper hat es mit seinen verrückten Geschichten geschafft, seine Gedanken soweit vom Brief abzulenken, dass dieser nicht mehr wie eine dunkle und erdrückende Wolke über seinem Kopf schwebt.
Mit Schwung dreht der braunhaarige Mann sich ihm wieder zu und schenkt ihm ein offenes Lächeln. "Szenario Nummer Siebenundzwanzig. Du hast der Mafia angehört. Doch in der letzten Zeit hast du herausgefunden, dass das nicht das Leben ist, was du führen möchtest. Du bist also zur Polizei gegangen und hast angefangen als Spitzel zu arbeiten. Doch während eines gigantischen Coups bist du aufgeflogen und musstest flüchten. In diesem Brief steht, ob du ins Zeugen-Schutz-Programm aufgenommen wirst. Du hoffst natürlich, dass das passiert, da dir die Mafia schon im Nacken sitzt und kurz davor ist, deinen momentanen Aufenthaltsort heraus zu finden. Und schließlich magst du deinen Kopf, dort wo er sitzt und zwar auf deinem Hals."
Ein lautes Lachen blubbert aus dem Blonden heraus. Sein Brustkorb hebt und senkt sich in einem schnellen Rhythmus und das Lachen rauscht durch die ganze Bar. Ein paar Leute heben ihre Köpfe und suchen die Ursache dieses Geräusches. Doch das interessiert ihn nicht. In diesem Moment fühlt er sich so gut, wie schon seit langem nicht mehr.
Es ist faszinierend, dass eine Unterhaltung mit einem Fremden seine Laune soweit anheben konnte, dass seine Probleme und Bedenken nicht mehr so groß und doch zu bewältigen sein scheinen. Er ist dem Braunhaarigen dankbar gegenüber, dass er sich die Zeit genommen hat, ihn mit seinen verrückten Geschichten so weit zu beruhigen und abzulenken, dass er nicht mehr alles so negativ sieht.
Immer noch lächelnd wischt er sich eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor er entschlossen den Brief in die Hand nimmt und den Umschlag öffnet.
Er hat das Gefühl, alles schaffen zu können. Doch er muss einfach wissen, ob sein Wunsch in Erfüllung geht, oder ob er mit dem Verlust seines Ziels lernen muss umzugehen. Seine Finger zittern kaum merklich, als er ein letztes Mal über die Briefmarke mit der Traubenhyazinthe streicht.
Er holt tief Luft, bevor er die Seiten Papier aus dem in Mitleidenschaft gezogenen Umschlag zieht und vor sich ausbreitet. Seine Augen fliegen förmlich über den Text, bevor er langsam seinen Blick hebt und den Barkeeper, welcher ihn seit dem Anheben des Briefes gespannt beobachtet, mit einem kleinen Lächeln anguckt. Den Blonden dazu zu bringen den Brief zu öffnen, ist nun einmal das, worauf der Mann hinter der Theke den ganzen Abend hingearbeitet hat.
Schließlich nützt es nichts, vor Sachen fortzulaufen. Man kann sich nicht vor der Realität verstecken. Doch man kann sein Bestes geben und sich richtig in eine Sache hinein knien und hart dafür arbeiten, damit der Wunsch oder das Ziel in Erfüllung geht.
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