Schneeglöckchen 🥀 ~ Isahia
~ Isahia ~
by noensparty
Schneeglöckchen - Galanthus nivalis
Das Schneeglöckchen ist ein Zeichen für Trost und Hoffnung
~•••~
Der letzte Morgen in meinem Bett, der letzte Tag in meinem Zuhause - weniger als 24 Stunden trennten mich noch davon, meine Kindheit endgültig abzulegen.
Wie wollte ich sie verbringen? Wie sollte ich versuchen, diese letzten Stunden in Erinnerung zu behalten?
Meiner Mutter hatte ich gesagt, dass ich keinen Besuch will, außer meine Familie - einfach nur meine Ruhe - für mich sein. Es war mies, meine Eltern fanden mein Verhalten womöglich nicht in Ordnung. Doch heute war noch mein verdammtes Leben, über das ich selbst bestimmen konnte - ab morgen war das vorbei.
Die besorgten Augen meiner Eltern verfolgten mich den ganzen Tag, schienen jeden Schritt von mir zu beobachten. Meinen Namen, so oft wie heute hatte sie ihn auf diese Art und Weise selten gesagt: "Fiore", das Lächeln meiner Mutter, ehrlich und mitfühlend, "Soll ich dir noch was kochen, willst du einen Kaffee?"
Mein Vater, der plötzlich ganz versessen darauf war, noch eine Partie Fußball mit mir zu spielen und mein Bruder der meinte mir erklären zu müssen, wie ich mich verteidigen konnte - das war wohl meine geringste Sorge gerade - wenn auch eine bittere Angst tief in mir.
Abends saßen wir einfach da und hatten einen James Dean Film geschaut. Mich störte noch nicht mal, dass es so ein alter Schinken gewesen war, den meine Schwester so liebte, jedoch wie sich in meinem Magen dabei ein so seltsames Kribbeln bildete. ‚Rebel Without a Cause' - hoffnungsloser Teenager, der noch gar nicht gewusst hatte, was er überhaupt sein wollte - bevor schon alles in Trümmern lag und vorbei war. Ein wenig als würde ich gerade meinem eigenen Leben zuschauen...
Da war es wieder, dieses dunkle Gefühl in mir, diese Nervosität, diese Panik. Ich schluckte und schluckte und bekam sie doch nicht weg. Am Ende hatte ich die Augen geschlossen und die Tränen einfach rauslaufen lassen. Der Schmerz blieb und die Angst in mir war nicht mehr zu kontrollieren.
*
Ich war früher wach geworden als sonst, es war gerade einmal sieben Uhr. Noch müde strich ich über das weiche Bettzeug, ließ meinen Kopf noch einmal tief in das Kissen sinken.
Das schlimme war, ich wusste nicht mal, wohin und mit wem ich die letzten Stunden verbringen wollte. Ich fühlte mich bereits jetzt so allein. Es gab niemanden mit dem ich darüber reden wollte, niemand, der das, was mir bevorstand, verstehen würde. Der Abend mit meiner Familie hatte es nicht besser gemacht.
Leise war ich ins Bad geschlichen, wollte niemandem auf dem Flur begegnen, weder meiner Mutter noch meinen beiden Geschwistern, die diese Nacht nur wegen mir hier übernachtet hatten.
Wir hatten noch lange geredet gestern, sie hatten versucht mich zu beruhigen. Diese kaum greifbare Angst in mir - das Bewusstsein das meine letzten 24 Stunden angebrochen waren - zu stillen. Doch im Grunde wusste keiner von ihnen mit meinem Schicksal umzugehen.
Jeder von ihnen, Francesca, Marco, mein Vater und erst recht meine Mum schienen überfordert damit.
Meine plötzliche Panikattacke gestern Abend, die minutenlang meinen Körper durchgeschüttelt - und anschließend in einen bitteren Heulkrampf geendet hatte ... Sie alle hatten mit aufgerissenen Augen da gesessen, mich beobachtet und schienen wie erstarrt.
Am Ende war es meine Schwester Francesca gewesen, die mich einfach nur wortlos in den Arm genommen und gehalten hatte, bis die Tränen und das Beben meines Körpers geendet hatten.
Ich wollte gar nicht so sein! Eine solche Schwäche zeigen, doch an diesem Abend war alles anders gewesen - war ich kaum noch ich selbst. Immerhin, keiner von ihnen machte mir Vorwürfe oder verurteilte mich - selbst mein Bruder verkniff sich jeden Kommentar dazu. Sonst gar nicht seine Art und er um keinen Spruch verlegen.
Nach der Dusche zog ich mich an und verließ das Haus. Die Straßen waren noch leer, Frost lag auf den Scheiben und Autos. Es war so kalt das mein Atem Rauchwolken in der Luft bildete, doch ich spürte die Kälte kaum.
Ich ging ziellos die Straße entlang, in der ich seit über zehn Jahren lebte, in der ich quasi groß geworden war.
Jede Ecke, jedes Fenster, jeden Winkel kannte ich hier, genau wie die Menschen in den Türen dahinter. In einer Kleinstadt wie dieser sicher keine Seltenheit.
Ich war bekannt hier, wie ein bunter Hund - natürlich erst recht nach dem Vorfall vor knapp einem Jahr.
Und wirklich jeder hier in der Straße, die von Einfamilienhäusern und hohen Eichenbäumen gesäumt war, hatte sich bereits sein Urteil zu mir gebildet.
Was sie jetzt über mich dachten, wusste und spürte ich nur zu gut. Jeder hier hatte mich, genauso wie meine Eltern gemieden, kein Wort mehr mit uns gesprochen.
Es war anstrengend schon so verurteilt zu werden, bevor ich selbst wusste, was mich erwarten würde - doch was hatte ich auch erwartet, als ich mich darauf eingelassen hatte? Dass alles so weiter ging wie bisher? Ich hatte nur versucht bis zum Tag X mein Leben möglichst normal fortzuführen, weiter mit der Schule gemacht, gelernt, meine Cousins und Freunde getroffen.
Meine Füße hatte mich wie von selbst, durch den eiskalten Wintermorgen getragen.
Doch jetzt blieb ich abrupt stehen, ich stand vor dem Friedhof. Verwundert blickte ich auf das schmiedeeiserne Tor.
Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich den Weg dorthin eingeschlagen hatte, so sehr war ich in Gedanken versunken gewesen.
Seufzend vergrub ich meine Hände noch tiefer in meiner Jacke, spürte, wie die Kälte der Umgebung jetzt regelrecht unter meine Klamotten, in meine Haut fuhr. Seit einem Jahr war ich nicht mehr hier gewesen. Früher hatte es mich fast jeden Tag hierhin verschlagen, auf der Suche nach Antworten und einen Weg zu finden, um um ihn zu trauern.
Der Tag des Abschieds war gekommen, nicht nur von meiner Familie, sondern auch von ihm - das wurde mir gerade nur allzu bewusst. Von dem Jungen, den ich nur so kurz in meinem Leben hatte, und dem ich mich trotzdem so seltsam verbunden gefühlt hatte.
Elijah war sein Name gewesen. Bis vor wenigen Minuten hatte ich es geschafft ihn in ein Zimmer in meinem Kopf zu sperren, geschafft nicht mehr an ihn zu denken. Es war nicht einfach gewesen, ihn überhaupt dort hineinzubekommen - zu versuchen ihn zu vergessen. Doch die Tür war nie wirklich geschlossen worden.
An manchen Tagen hatten mich seine großen blauen Augen bis in den Schlaf verfolgt, sich in Albträume verwandelt, denen ich mich nicht entziehen konnte und die mich Nacht für Nacht hatten aufschreien lassen.
Niemand wusste was damals zwischen uns war, weder meine noch seine Familie und ganz sicher nicht meine Freunde. Ich hatte mich nie wieder jemandem so verbunden gefühlt, selbst jetzt konnte ich dieses Gefühl noch hervorrufen, dabei war es mehr als vier Jahre her.
Es hätte auch nichts genützt, jemandem davon zu erzählen, niemand hätte es verstanden und niemand einem 13-Jährigen geglaubt, dass er sich einem blonden Jungen so nahe fühlte, wie niemandem sonst.
Ich hatte es so deutlich gespürt - diese Verbindung zwischen uns - selbst mit meinen dreizehn Jahren!
Auch wenn mir die Bedeutung davon erst Jahre später bewusst wurde - dass es etwas anderes als Freundschaft war, etwas das viel tiefer und näher war, als das. Dass wir verliebt waren. Niemals hatte ich den Gedanken ausgesprochen, würde es auch jetzt niemals tun.
Dabei war es wohl eindeutig. Wir hatten kein Problem damit gehabt, einfach dazusitzen, uns zu umarmen, dem anderen durch die Haare zu streicheln oder am Nacken zu kraulen. Es fühlte sich alles so richtig, so vertraut an, mit ihm.
Meine Eltern verstanden nicht, warum ich mit einem deutschen Jungen befreundet sein wollte, dessen Eltern uns nicht mal grüßten. Aber sie wussten auch nicht, wie nah wir uns gestanden hatten. Niemand verstand, warum man mich nach seinem Tod, so oft an seinem Grab gefunden hatte. Es war mein Geheimnis - nein, unser Geheimnis!
So hatten wir es gewollt und so hatte es immer den Anschein gehabt, für Außenstehende - dass wir uns kaum kannten. Wir hatten wohl instinktiv gespürt, dass die Wahrheit nur bittere Fragen aufgeworfen hätte und uns womöglich verboten worden wäre, uns zu sehen. Und das konnte und wollte keiner von uns Beiden riskieren.
Fast jeden Tag nach der Schule hatten wir uns getroffen. Er war anders als ich, nicht so dunkel, mit diesen kantigen Gesichtszügen, nicht mit diesen braunen Augen und dem unausweichlichen Akzent, der immer noch zeigte, dass ich nicht von hier kam.
Er war so anmutig, weich und ganz sanft. Goldblond und mit diesen riesigen blauen Augen. Ich passte auf ihn auf und er ließ mich wissen, dass es mehr gab, als Schulhofprügeleien, Schwänzen und Taschengeld klauen.
Ich hatte begonnen, die Welt durch seine Augen zu sehen - das Gute darin, das Schöne - nur noch ihn gesehen und nicht den Überlebenskampf, den es meine Familie jeden Tag kostete, hier zu sein.
Ich hätte die Augen schließen und sein Grab doch direkt finden können.
Der Anblick davon stimmte mich mehr als traurig - die kleine Kerze auf dem Grab umgefallen und sein Foto auf dem Stein durchnässt und kaum mehr als ein weißer Fleck. Selbst der Efeu hatte einen Weg gefunden und begonnen sich um den Grabstein zu schlängeln.
Es schmerzte mich, es so zu sehen. So vergessen, so verwahrlost.
Seine Eltern waren kurz nach seinem Tod von hier weggezogen. Niemand wusste wohl noch, was damals passiert war, wahrscheinlich war ich auch der Einzige in dieser Stadt, der überhaupt noch an ihn dachte.
Mein Blick fiel neben das Grab. Weiße Lichtpunkte, wie kleine helle Sterne standen sie da - dutzende Schneeglöckchen. Erstaunt blickte ich darauf. Es waren so viele, sie erstreckten sich von Elijahs Grab zu dem kleinen Rasenstück dahinter.
"Was zum...- ?" Verwundert betrachtete ich die zarten Pflanzen, die sich aus dem kalten, frostigen Boden an diesem Wintermorgen gekämpft hatten. Dass ich sie gerade hier fand, bei ihm - unglaublich!
Mir stockte der Atem. "Elijah", hauchte ich.
Ich hockte mich vor sein Grab, versuchte seine Gesichtszüge auf dem verblassten Bild zu erkennen. In meinem Kopf strahlte er noch immer, hatte er nichts von seiner Lebendigkeit eingebüßt, hier, in der Realität - war er kalt und tot, doch nicht in meiner Erinnerung.
Ich hatte sonst immer nur mit meinen Cousins und einer Handvoll Freunden in der Schule Zeit verbracht. Mist gebaut, andere verprügelt, gedacht, das wäre das, was ich zu tun hatte, damit mich alle respektierten, gedacht, dass ich so sein wollte - sein musste.
Doch mit ihm - da war so viel mehr, ein ganz neues Leben, eine neue Welt, die er mir gezeigt hatte und eine Hoffnung, die er in mir gesehen hatte. Wenn Elijah noch hier wäre, bei mir, wie anders wäre mein Leben dann verlaufen? Vor wie vielen Fehltritten hätte er mich bewahrt? Und erst recht vor der Nacht, in der ich meinen größten Fehler tat.
Ich presste meine Hände ins Gesicht. Schluchzte leise vor mich hin.
Es machte mich so wütend, ich hatte ihn immer beschützen wollen, vor meinen Freunden, die am Ende keine richtigen waren, seinen Eltern, die ihn nie richtig verstanden hatten - und doch war ich am Ende gescheitert.
Ich atmete tief ein, bekam den Schwall an Tränen, der sich weiter hinauf pressen wollte endlich in den Griff, schluckte sie runter und keuchte leise. Mein Blick fiel wieder auf die Blumen.
Diese Stille um mich herum, der Schnee, dieser Fleck auf der Welt...
Plötzlich fühlte sich der Ort mit all den Schneeglöckchen um mich herum, wie genau der Platz an, an dem ich sein wollte, bei ihm - nein nicht unter der Erde - bei ihm, in meinen Erinnerungen.
Ich schloss die Augen. Spürte, wie ein kaum merklicher Windstoß aufkam, mich umhüllte, ein leises Flüstern in meinem Kopf erklang.
Was hätte Elijah jetzt zu mir gesagt? Er hätte die richtigen Worte gefunden, um die Panik in mir zu vertreiben, mich in den Arm genommen und das allein hätte schon gereicht, um mich zu beruhigen, wie so oft damals.
Die Ruhe fuhr unter meine Haut, in mein Herz - tauchte ein in meine Gedanken und nicht mal der eisige Wind machte mir noch etwas aus. Ich atmete tief ein und aus, bevor ich meine Augen wieder öffnete.
Die Welt vor mir fühlte sich heller und weicher an, weniger brutal, weniger kalt.
Ich streckte meine Hände aus, griff nach einem Bund der zarten Blumen, hob sie an mein Gesicht. Wie konnte etwas an so einem kalten trüben Wintertag so leuchten? Wie hatte er in dieser Welt so hell strahlen können?
"Hey Elijah, siehst du das?", sagte ich mit einem zerbrochenen Lächeln im Gesicht.
"Blumen! Überall um dein Grab herum!" Ich presste die Lippen zusammen, "Ich glaub', das hättest du gemocht", flüsterte ich.
Blütenblatt für Blütenblatt strich ich mit meinem Zeigefinger nach.
"Ich werd' dich nicht vergessen, hörst du? Auch nicht in den zwei Jahren." Ich schlug auf meine Brust, in der mein Herz wild schlug, "Denn du bist hier! Ganz tief drin! Ich werde immer an dich denken!" Vorsichtig legte ich die zarten Blumen auf sein Grab, betrachtete sie noch einen Moment, bevor ich schwerfällig aufstand.
Ein Windhauch erfasste mich, das Laub der Bäume begann zu rascheln.
"Wir sehen uns wieder, irgendwann und ich werd' das packen, da drin!", wisperte ich - meine Hand glitt an die dünne lange Silberkette mit dem sternförmigen Anhänger um meinen Hals, die ich immer gut versteckt unter meinem Shirt trug.
Ich zog sie hervor und hob sie an meine Lippen. Eine der letzten materiellen Erinnerungen, die ich von ihm noch hatte. Nochmals beugte ich mich hinab, zupfte eine der Schneeglocken ab.
Später würde ich es in einem Buch pressen, eine letzte Erinnerung an diesen Tag - an ihn. Etwas Schönes, etwas Leuchtendes, das mich an dem dunklen Ort womöglich erhellen konnte.
Elijah hatte sein Zimmer unter dem Dach mit Büchern voller getrockneter Blumen gehabt - ein wahres Sammelsurium. Etwas von dem niemand wusste, außer mir und die nach seinem Tod einfach weggegeben wurden. Ein einziges hatte ich vor dem Aufräumwahn seiner Eltern retten können, irgendwie würde ich versuchen, es mit an diesen dunklen Ort zu nehmen, der mich morgen erwartete.
"Mach's gut, Elijah", flüsterte ich, hob Zeige- und Mittelfinger für einen letzten Gruß an die Lippen.
Mein letzter Tag in Freiheit war angebrochen, diese Last, die auf mir lag, fühlte sich etwas leichter an. Fast war es, als hätte ich ihn für einen kurzen Moment gespürt, ihn bei mir gewusst. Er hatte diese tiefe Ruhe in mich gebracht.
Ich würde es durchstehen, niemandem sagen, was ich damals gefühlt hatte, das Geheimnis dieser tiefen Verbindung zwischen uns bewahren, denn dort würde es mir nur schaden, doch niemals würde ich ihn vergessen, was auch geschehen mochte.
Und auch die Geschichte warum ich dorthin musste, meine Freiheit eintauschte für acht Quadratmeter, würde ich niemandem erzählen.
*
Meine Mutter stand hinter mir, mein Vater nickte mir nochmal zu. Klar, dass meine Mum Tränen in den Augen hatte, ich war ihr jüngster, dass ich den Mist jetzt auf mich nehmen musste, für die Familie, machte es für sie auch nicht besser.
Der Polizist schritt auf mich zu, beäugte mich kritisch und legte mir dann die Handschellen an.
Ein Vollzugsbeamter in brauner Uniform kam dazu und zusammen führten sie mich durch einen schlauchförmigen Raum. Am Ende lag eine Sicherheitstür. Ich drehte mich ein letztes Mal um, sah die Tränen meiner Mutter, sie hauchte mir einen letzten Kuss entgegen. Scheiße, ich werd' sie vermissen!, dachte ich, selbst mein Dad sah mitgenommen aus und rieb sich mehrfach über die Augen.
Vorwürfe würde es nie von ihnen geben, sie wussten, dass ich es für die Familie tat. Trotzdem, es war mein Leben, das ich hier für die nächsten zwei Jahre einfach wegwarf.
Einzig der Gedanke, dass Dank meines Eingeständnisses, meine Familie weitermachen konnte - vielleicht endlich damit aus den Schulden raus kam - half mir jetzt einen Schritt nach dem nächsten zu machen. Dabei fühlte ich mich bereits wie gelähmt.
Ich war damals mit ganz anderen Erwartungen in die Gerichtsverhandlung gegangen. Bewährung hatte mir mein Anwalt zugesichert, wenn ich nur kooperierte, geständig war. Bullshit! Zwei Jahre hatte ich stattdessen bekommen! Selbst mein Alter von sechzehn Jahren hatte mir nichts genützt. Ein dummes Diebstahldelikt, das keine zwei Jahre zurück lag, hatte mir schlussendlich das Genick gebrochen. Immerhin, in der Zeit, in der wir in die Berufung gegangen waren, durfte ich zu Hause wohnen - unter strengen Auflagen.
Doch jetzt hier zu sein, dem Unausweichlichen gegenübergestellt, vor dem ich seit einem Jahr versucht hatte zu entfliehen - hinter diesen massiven Mauern, es fühlte sich an wie im falschen Film - eine komplett falsche Welt! Ich fühlte mich noch gar nicht richtig hier angekommen - konnte fast noch den Geruch von zartem Frühling dort draußen riechen. Ja, selbst Elijah in mein Ohr wispern hören - und es einfach nicht glauben. Doch ich wurde schneller in die Realität geholt, als mir lieb war.
Zwei Vollzugsbeamte standen wachend neben mir, ich musste alles ausziehen, mein Handy abgeben (richtiger Mist), die letzten Erinnerungen an Elijah, seine Kette und das kleine Buch, meine Ringe, Armbänder, Gürtel, Hose und mich bis auf meine Boxershorts entkleiden.
Dann begutachteten die beiden mich kritisch, ob ich noch irgendwo was versteckt haben könnte.
Der etwas jüngere Polizist streckte mir danach ein Handtuch, mit einem Stück Seife darauf entgegen.
Fragend sah ich ihn an.
"Duschen", sagte er knapp.
Ich schnaubte protestierend auf - hatte ich gerade erst vor 'ner Stunde getan, mehr als ausgiebig.
"Ey, ich stink' nicht!", gab ich empört zurück.
"Ist Vorschrift!", antwortete er nur trocken - sicher war ich nicht der Erste, der sich dagegen sträubte.
"Nein!", protestierte ich, die verdammte Wut war zurück.
"Tu einfach das, was man dir sagt!" Dann stieß der Ältere mich nach vorne und ich taumelte mehr als das ich ging, mit den beschissenen Handschellen an meinen Händen in den großen komplett gefliesten Duschraum.
Zum Glück war er leer. Der Polizist nahm mir die Handschellen ab und machte eine Kopfbewegung auf die Reihe mit den Duschen auf der rechten Seite.
Seufzend ging ich hin, wartete.
"Brauchst du noch irgendwas oder worauf wartest du?" Ich konnte aus seiner Stimmlage hören, dass er bereits genervt war von mir. Doch ich verstand es ehrlich nicht. Warum sollte ich duschen? Warum machten sie überhaupt diese Prozedur mit mir?
Ich drehte mich verwundert um.
"Ja, dass ich hier endlich allein bin!"
Ein gleichgültiges Lachen verließ seine Lippen.
"Gott, Junge, da kannst du lange warten, ich bleib' hier bis du fertig bist, ist Vorschrift."
Ganz tolle Nummer. Ich schloss kurz die Augen. Ich habe kein Problem mit meinem Körper oder damit nackt zu sein, war bis vor dem Vorfall im Schwimmteam der Schule gewesen, aber vor so 'nem alten Typen wollte ich mich sicher nicht ausziehen, damit der mich dann noch schön begaffen konnte.
Er verdrehte die Augen.
"Jetzt mach! Oder muss ich noch helfen?"
Scheiße, war echt wie in 'nem Film - dachte ich und biss mir fest auf die Wangeninnenseite um nicht laut zu schreien.
Die wollen dich hier brechen - Die Worte meines Bruders am letzten Abend - der hatte gut reden, hatte so einen Ort doch noch nie von innen gesehen!
Ich schloss die Augen, fing ohne es kontrollieren zu können an, zu zittern, fühlte mich zornig und voller Fragen. Ich wollte nie hier sein, hätte mich ohne meine Familie niemals darauf eingelassen. Ich wollte am liebsten schreien, und wieder hier raus. Meine Stirn glitt an die kalten Fliesen vor mir. Ich hörte das Gemurmel von dem Wärter hinter mir. Es war mir gerade einfach nur egal.
"Elijah", dachte ich verzweifelt, "Mit dir wäre ich niemals hier gelandet!"
Ein Rauschen, wie ein Flüstern drang plötzlich an mein Ohr. Vielleicht wurde ich ja jetzt verrückt. Vielleicht hörte ich jetzt schon Stimmen, wo gar keine waren. Irritiert drehte ich mich zu dem Vollzugsbeamten um. Er hatte die Lippen zusammen gepresst und wurde immer ungeduldiger mit mir. Ich hielt hier alles auf. Ich war von jetzt an nur eine Nummer im System und die störte gerade gewaltig.
Das Rauschen wurde lauter, ich verstand es nicht, doch mit einem Mal wurde mein Herzschlag wieder ruhiger, versank die Panik in mir.
"Tu was die dir sagen und vergiss nicht, in deinen Kopf können die nicht rein!" - Die Worte meines Bruders Marco hallten in mir wieder. Wir hatten nie ein besonders gutes Verhältnis gehabt, aber ehrlich, wenn er gekonnt hätte, hätte er mit mir getauscht, hätte für mich eingestanden, doch die Beweise gegen mich waren wohl einfach zu erdrückend gewesen, erst recht nach meinem Geständnis.
Aber so war meine Familie, wir hielten zusammen - so sehr man sich manchmal auch stritt und verabscheute, irgendwie fanden wir immer wieder zusammen und hielten aneinander fest. Und das war mit einer der Gründe, warum ich jetzt für das, was passiert war, einstand und damit wenigstens meiner Familie helfen konnte. Das war es, was ich mir hier immer vor Augen halten sollte, ich tat es für sie! Damit sie endlich aus den Schulden raus kamen, die sich seit Jahren mit der Pizzeria angehäuft hatten.
Aber shit, mit siebzehn, sich vor 'nem so alten fetten Kerl ausziehen zu müssen, fühlte sich verdammt mies an und war sicher nichts an das ich mich sobald gewöhnen würde.
Schnell brachte ich es hinter mich, zog mich aus, schäumte mich mit der billigen Seife ein, spülte den Mist wieder ab und trocknete mich ab. Hatte mich nicht einmal dabei umgedreht.
Allerdings, nur mit dem Handtuch um die Hüften, hatte ich jetzt auch nichts mehr zum Anziehen.
Der ältere Vollzugsbeamte kam auf mich zu, mit einem lauten Seufzen auf den wulstigen Lippen.
"Na endlich", immerhin blieb sein Blick an meinem Gesicht hängen, ging nicht tiefer.
"Dann machen wir jetzt die Leibes-Visite."
Ich starrte ihn an. Nicht. Sein. Ernst.
So etwas hatte ich bisher nur in Filmen gesehen und ich betete, dass es nicht dasselbe war, wie dort.
Die wollen dich damit brechen, zeig nicht, was du fühlst! - Die Stimme kam wie aus dem Nichts - Marco?, dachte ich verwundert.
*
Ich taumelte wieder mit Handschellen und dem Handtuch um die Hüften in den nächsten Raum, ich fühlte die kalten Fliesen unter meinen Füßen, sah einen großen Spiegel zu meiner rechten. Was für ein Mist!
Wieder wurden mir die Handschellen abgenommen und der Polizist zeigte auf mein Handtuch.
"Entfernen und zur Wand drehen."
Kurz darauf stand ich, die Beine gespreizt vor der weiß gefliesten Wand, konzentrierte mich auf die kleinen Einkerbungen vor mir und konnte fast spüren, wie mittlerweile drei Vollzugsbeamte meinen ganzen Körper abcheckten.
Einer der Wichser fuhr plötzlich zwischen meine Pospalte. Es war so verdammt erniedrigend!
"Fuck!", schrie ich auf. Das konnte nicht deren Ernst sein! Diese ungewollten Berührungen dort - ich begann direkt zu zittern. Hatte mich in der Region höchstens mal selbst angefasst, aber ganz sicher durfte dort sonst niemand dran!
Ich biss mir auf die Wange, versuchte diesem Zorn und der Ohnmacht in mir damit irgendwie entgegen zu steuern.
"Umdrehen", kam es von dem Älteren. Ich schloss kurz die Augen, was kommt jetzt noch - dachte ich, fühlte mich so hilflos und allein wie noch nie.
Schnell verschloss ich meine Finger vor meinem Glied. Ich stand nackt und zitternd vor denen und konnte diesen Mistkerlen nicht mal in die Augen blicken!
"Arme hoch", es war ein deutlicher Befehlston, der an mir ohne Reaktion abperlte. Hatten sie nicht schon, was sie wollten? War ich nicht schon fertig genug?
Ich biss mir auf die Unterlippe. Scheiße, ich hatte das Gefühl, ich müsste gleich los heulen, das war einfach zu viel.
Ich schüttelte den Kopf. Wieder und wieder. Nein, das würde ich nicht tun! Nicht vor diesen Fremden!
"Hör mal Junge, da ist nichts, was wir nicht schon gesehen hätten!" Seine Stimme klang ganz ruhig, doch ich konnte dem Idioten immer noch nicht in die Augen blicken.
Wieder glitt mein Kopf hin und her. Und wenn ich hier festfrieren musste! Keinen Millimeter wollte ich meine Hände von meiner Scham wegnehmen, sie hatten in mein Innerstes geblickt, in mein Loch, das sollte ja wohl reichen!
Ein Seufzen war zu hören. Ich hatte ihren eingeplanten Zeitplan sicher schon längst gesprengt. Sollten sie doch wenigstens auch Ärger kriegen. Ich würd' hier noch Stunden stehen, wenn's sein musste!
"Ok, wir können es auf die leichte oder schwere Art machen. Wenn du uns nicht entgegen kommst, bringen wir dich erst mal in Einzelhaft, ohne Hofgang und es kommt in deine Akte." Ich spürte seinen musternden Blick auf mir und presste die Lippen so hart zusammen, dass es schmerzte.
"Junge, untersuchen müssen wir dich so oder so, ob du jetzt kooperierst oder in drei Tagen, mach es dir doch nicht noch schwerer!", der ältere Mann seufzte abermals und sah dabei auf die Uhr. Wenigstens ein Punkt für mich.
Ich starrte ihn an, konnte die Angst, diese verdammte Panik in mir nicht mehr unterdrücken. Ich wollte nur noch nach Hause, in mein Bett, Fuck, zu Elijah! Seine Stimme hören, seine blauen Augen sehen, ihn bei mir haben. Ich wollte zurück in das Jahr 2017, wo all der Mist und mein Leben begann eine falsche Abzweigung zu nehmen.
Tränen liefen mir die Wangen hinab und mit bebenden Armen, löste ich meine Hände vom Schritt.
Er musterte mich nur kurz, brummt etwas dabei, das Rauschen in meinem Kopf wurde immer lauter. Ich wollte was erwidern, Stärke zeigen, dass die Drecksäcke mich ganz sicher nicht so klein kriegen würden mit der Aktion, doch am Ende kriegte ich kein Wort heraus. Versuchte nur noch krampfhaft den Kloß in meinem Hals runter zu schlucken.
Doch er wuchs weiter und weiter. Ich wollte nicht auch noch losschluchzen. Hätte ich den Mist gewusst, Fuck, das alles mal früher durchdacht - hätte ich niemals das Geständnis unterschrieben und die Schuld auf mich genommen! Innerlich fluchte ich auf, wie ein Rohrspatz. Gleichzeitig versuchte ich irgendwie zur Ruhe zu kommen, das nicht weiter an mich ran zu lassen, die Typen nicht so klar spüren zu lassen, was sie bereits für eine Macht über mich hatten.
"Kannst du jetzt bitte deine Vorhaut zurückziehen?" Der nächste Schlag in meinen Magen - Ernsthaft? Reichte es nicht aus, das sie mich schon splitterfasernackt vor sich stehen hatten?
"Gott, Junge, wir machen das hier jeden Tag, musst dich wirklich nicht schämen."
Wenn es doch nur das wäre!
Erwartungsvoll blickten die mich an. Die dachten doch nicht wirklich, dass ich darunter etwas verstecken konnte, was sollte man da auch schon verstecken können? Dann wurde es mir mit einem Schlag bewusst.
"Ich nehm' doch gar keine Drogen!", nuschelte ich fassungslos. Hatte ich bis auf Gras noch nie getan. Was dachten die eigentlich wer ich war? Ein verdammter Junkie?
"Das werden wir gleich noch erfahren, beim Test. Hier wird jeder Neuankömmling so untersucht, um herauszufinden, ob er was reinschmuggeln will."
Der dunkelhaarige Typ lächelte leicht. Wollte mir wohl Mut machen, was wusste ich schon, ich fühlte mich eher, als würde ich gleich ausrasten.
"Ich kann mir vorstellen, dass das nicht ganz einfach für dich ist, aber je eher du kooperierst, desto schneller hast du das hinter dir und kommst in dein Zimmer."
Sie sagten Zimmer, nicht Zelle... irgendwie gab mir das ein winziges Stück Hoffnung zurück. Dort würde ich endlich meine Ruhe haben und allein sein.
Schniefend gab ich nach und tat, was sie von mir verlangten.
Danach folgte noch ein Blick in meinen Mund, sie kämmten durch meine Haare, schauten sogar zwischen meinen Zehen nach. Es fühlte sich an, als wäre ich gar nicht mehr richtig da. Ich bekam ihre Berührungen an meinem Körper gar nicht mehr richtig mit. Dachte wieder an Elijah, unser letzter gemeinsamer Moment kam mir plötzlich in den Sinn.
Es war im Winter gewesen - ein eisiger Tag wie heute - seine Wangen rot wie Weihnachtskugeln. Wir hatten draußen in dem kleinen Park in der Nähe der Schule auf der Bank gesessen und uns eine Coke geteilt, wodurch uns nur noch kälter wurde, er hatte ganz dicht neben mir gesessen, sein Knie berührte meins, sein Arm, seine Schulter war gegen mich gepresst. Trotz der Kälte hatte es sich so gut angefühlt.
"Ich werd' den Winter vermissen", hatte er gemurmelt und mich so merkwürdig angesehen als hätte er den Schatten da bereits auf sich gespürt.
Wortlos hatte er mich in den Arm genommen und einfach festgehalten. Sein Herz hatte so wild und aus dem Takt geschlagen. Dann hat er ein leises "Vergiss mich nicht, Fiore", in mein Ohr gehaucht.
Seine Worte - sie hatten sich viel zu ernst und erwachsen für ein Kind angehört, mich damals bis in Mark und Bein erschüttert. Ich hatte meine Augen geschlossen, fest aufeinander gepresst, wollte so etwas nicht hören - nicht aus seinem Mund!
"Warum sagst du so was?!", hatte ich geflüstert und meine Arme so fest um ihn geschlungen, dass es wehtat. Elijah fühlte sich plötzlich so endlich, so voller Kummer an! Dieser Augenblick, den wir teilten - damals spürte ich es, deutlich - alles würde sich von dem Moment an verändern.
In welche finstere Richtung mein Leben danach gehen sollte, wie viele Fehler ich nach Elijahs Tod machen würde - dass alles zusammen - hatte mich zu dem Moment hier - nackt an eine kalte Fliesenwand gepresst und in ein Jugendgefängnis geführt. Ich presste meine Augen fester und fester zusammen, versuchte weiter abzutauchen, in meine Erinnerungen, in die Fantasie mit ihm.
Blinzelnd hatte ich meine Augen wieder geöffnet und mich dabei regelrecht geblendet gefühlt. Ein Meer aus weißen Blumen erstreckte sich hinter Elijah, zart und wunderschön. Schneeglöckchen.
"Wie wunderschön" - selbst jetzt konnte ich seine Worte noch so deutlich hören. Uns hatte etwas verbunden, etwas so Tiefes und Einzigartiges!
Ich wollte ihm nahe sein, wenn keiner hinsah, ihn berühren, wenn wir allein waren - seine Finger an meinen spüren, meine Wange gegen sein Gesicht pressen, den blumigen Duft seiner Haare tief in mich inhalieren.
Am nächsten Tag war er tot. Einfach fort über Nacht. Sein Geheimnis, das er schweigend in sich getragen hatte - eine Last, die zentnerschwer auf ihm gelegen haben muss - er hatte nie die Chance auf ein langes Leben gehabt und es gewusst!
Ein angeborener Herzfehler war der Bastard, der ihn mir in dieser kalten Nacht vor vier Jahren genommen hatte.
Vielleicht hatte sein Herz deswegen so aus dem Takt geschlagen, weil immer ein Stück gefehlt hatte, vielleicht hatte er deswegen auf so besondere Art und Weise in die Welt hinaus geblickt, weil er wusste, dass er es womöglich zum letzten Mal sah, vielleicht hatte er mir deshalb all meine Fehler vergeben - weil sein Leben viel zu kurz war um nachtragend zu sein.
Und vielleicht hatte es sich deswegen mit ihm immer so besonders - so wild und frei angefühlt!
Der Gedanke an seinen Tod, hier, zwischen diesen unüberwindbaren Mauern...
Elijah hatte es schon immer gewusst, sein Leben lang und doch versucht das Beste aus seiner Zeit hier zu machen.
Ich würde jede verdammte Minute mit ihm in Erinnerung bewahren, ihn nicht mehr in das Zimmer in meinem Kopf sperren! Gerade hier nicht, wo ich selbst weg gesperrt war und ich bald vergessen sein würden.
Er hatte mir doch erst gezeigt, was es bedeutete zu leben, wie schön es war, einfach durch den Wald zu laufen, seine Füße in eiskaltes Wasser zu stecken oder eine tiefe Schlucht hinunter zu brüllen. Ich würde es nicht vergessen, wie schön das Leben sein konnte - dort draußen und in meinen Gedanken und meinem Herzen, mit ihm in meinen Erinnerungen, sogar hier drinnen!
Ich wusste genau, was Elijah dazu gesagt hätte, wenn er noch leben würde, wie er zu dem Deal, den ich damals gemacht hatte, gestanden hätte.
Er hätte mich geschüttelt und angebrüllt und gesagt: "Lass es! Tu's nicht, es ist dein Leben, deine Zeit!" Und dann hätte ich ihm Recht gegeben, ihn lachend in den Arm genommen und diesen verdammten Deal niemals angenommen. Ich hätte an mich gedacht und Elijah - unsere Zeit und nicht an meine Familie.
Jetzt hätte ich seinen Rat so dringend gebraucht! Und auch, wenn er mich nicht mehr hören konnte, ich würde ihm schreiben, alles aufschreiben, was mir hier widerfuhr - vielleicht bewahrte es mich davor, hier drinnen auseinander zu brechen.
*
Nach der "normalen" ärztlichen Untersuchung, inklusive Drogentest - reichte mir ein jüngerer Vollzugsbeamter eine in Plastik eingeschweißte Tüte. Darin enthalten, graue unscheinbare Kleidung.
Wenigstens durfte ich mich jetzt ohne Zuschauer anziehen.
Mit grauer Stoffhose und einem grauen, weiten Hemd bekleidet - darauf jeweils eingestickt mein neuer Name - 72612 - trat ich hinaus und wurde direkt wieder in Handschellen gelegt. Mit noch nassem Haar und in meinem neuen Outfit wurde ich in den Gefängnistrakt gebracht.
Alles war hell gestrichen, aber die Türen zu den "Zimmern" waren aus Stahl, mit kleinen Fenster darin. Ein paar meiner zukünftigen Mitbewohner sahen mir neugierig entgegen. Alle wirkten noch so verdammt jung. Ein Typ mit Locken und haselnussbraunen Augen sah mir pickelgesichtig entgegen und streckte mir die Zunge raus. Ein anderer zeigte mir direkt den Stinkefinger.
Es war fast acht Uhr und es gab gerade Frühstück hier drinnen - wie mir der Wärter nuschelnd mitteilte.
Nicht für mich. Ich hätte zu Hause noch etwas essen können, wenn ich doch nur einen Bissen runterbekommen hätte.
Vor der Nummer 117 blieb der Wärter schließlich stehen.
Ich fühlte mich jetzt schon, als hätte ich keine Stimme mehr, keine Rechte mehr. Wer wusste schon, was mich jetzt hinter dieser Tür erwarten würde. Meine letzte Hoffnung war, dass ich ein Einzelzimmer bekommen würde.
Die Tür öffnete sich mit einem lauten metallischen Krachen. Direkt blickte ich mich suchend um.
Ein heller Schreibtisch auf der rechten Seite, darüber an der Wand ein Fernseher, zwei schmale Schränke daneben gequetscht. Hinten in der Ecke ein mit einem weiß lackierten Brett abgetrennter Bereich - wahrscheinlich die Toilette und direkt daneben war ein kleines Waschbecken zu sehen. Es stand eine Zahnbürste darauf. Innerlich seufzte ich auf, allein sein, für mich sein - hier wohl keine Option für mich.
Zögerlich gingen meine Augen zu dem Hochbett. Unten war schonmal niemand. Ich schluckte, ließ meinen Blick weiter hoch gleiten.
Ein Junge, in denselben Klamotten wie ich, mit blondierten Haaren und großen, dunkelbraunen Augen sah mir skeptisch entgegen.
Ich sagte nichts, er sagte nichts. Sein Blick auf mir ließ einen Schauer über meinen Körper fahren. Das Wispern in meinem Kopf war plötzlich wieder da, wie auf dem Friedhof, wie bei der Untersuchung. Verrückt. Ich drehte wahrscheinlich wirklich langsam durch!
Plötzlich fühlte ich die Hand des Wärters an meinem Rücken, der mich weiter in das Zimmer drängte.
"Na, ist's dem Herrn genehm?"
Wichser - dachte ich nur. Der Typ, der mich hier hingebracht hatte, trug eine dicke Brille und hatte so wässrige Augen. Er schien absolut keine Geduld aufbringen zu können. Ohne ein weiteres Wort drehte er mich um, nahm mir die Handschellen ab.
"Na dann beschnuppert euch mal!" Er machte auf dem Absatz kehrt, knallte die Stahltür zu und war weg.
Mein ganzer Körper zuckte zusammen. Ich starrte noch minutenlang auf die schwere Eisentür, durch das Fenster an der linken Seite. Es schien niemand mehr dort draußen zu sein, aber ich hörte das dumpfe Gerede aus den anderen Zellen. Jemand schrie, schimpfte, hustete, der neue Beat meiner Heimat. Schrecklich. Einsam. Verdammt kalt.
Alles in mir zog sich zusammen, ließ mich die Arme um meinen Oberkörper schlingen. Ich wollte am liebsten losheulen, einfach alles raus lassen, aber ich war nicht mal alleine hier, wie ich gehofft hatte.
Ohne noch mal zu dem Jungen hoch zu sehen, krabbelte ich in das untere Bett hinein - es roch nach herber Seife, das Laken, das Kissen, der ganze Bettbezug fühlte sich rau und fast wie Schmirgelpapier an.
Ich ließ mich einfach nach vorne in das Kissen fallen, presste die Augen zusammen, versuchte die scheiß Tränen zu unterdrücken. Schaffte es nicht, hatte einfach keine Energie mehr dafür, meine Gefühle zu unterdrücken. Aber immerhin, der Junge über mir sagte nichts - kein Wort und ich versuchte im Gegenzug auch nicht zu schluchzen wie ein totaler Versager und Feigling.
*
Ich schreckte auf und sah im ersten Moment nur Dunkelheit. Etwas knarzte. Meine Augen gewöhnten sich rasch, ein helles Flackern von den rotierenden Scheinwerfern erhellte das Zimmer. Keine Chance beim Aufwachen nicht zu wissen, wo man war. Draußen waren graue, fast schwarze Wolken aufgezogen, es sah nach Regen und Sturm aus.
Ich sah nackte, grazile Füße an der Holztreppe, die langsam und vorsichtig hinunterstiegen.
Aus halb geöffneten Augen erkannte ich, wie der Blonde sich an den Schreibtisch setzte, einen Notizblock aus der Schublade darunter hervor holte und begann etwas dort hinein zu kritzeln.
Immerhin, dachte ich, der Typ sah nicht gefährlich aus, eher etwas schmächtig, nicht klein, jedoch nicht so muskulös wie ich. Schlank und androgyn traf es eher. Er saß ganz gerade auf dem harten Holzstuhl. Seine ganze Haltung wirkte grazil. Elegant. Dazu hatte er diese feinen Gesichtszüge, hohe Wangenknochen, eine gerade Nase, geschwungene rosa Lippen und seine Augen - auch jetzt wirkten sie einfach riesig und dunkel. Das Weiche und Helle das sein Wesen ausstrahlte, wurde von seinen Augen durchkreuzt - es gab seinem Aussehen etwas seltsam Abgerücktes und Geheimnisvolles. Wer wusste schon, was dieser unbekannte Junge alles zu verbergen hatte?
Elijah - ich musste so plötzlich an ihn denken, dass mein Magen sich schmerzhaft zusammen zog. Nein, dieser mysteriöse Blonde vor mir hatte ganz sicher so gar nichts mit dem Jungen gemein, den ich damals verloren hatte. Und doch, auf seltsame Art und Weise erinnert er mich in diesem Moment an ihn.
Vielleicht war es derselbe fragende, fast unschuldige Gesichtsausdruck bei meinem Eintritt in die Zelle gewesen, den Elijah mir damals ebenfalls bei unserer ersten Begegnung zu geworfen hatte, als ich ihn, wie alle Neuankömmlinge zwingen wollte, mir sein Pausengeld zu geben. Mein Magen entspannte sich, mir wurde mit einem Mal ganz warm.
Seltsam fasziniert, beobachtete ich ihn weiter. Seine Augen waren so dunkel, dass man kaum die Pupillen darin erkennen konnte und dazu diese üppigen langen Wimpern. Ein unbewusstes Seufzen verließ meine Lippen und erschrocken über mich selbst, riss ich die Augen auf und stammelte schnell ein, "Warum bist du hier?"
Reden würde mich ablenken, von den ganzen Ereignissen am heutigen Tag und vor allem davon, dass ich gerade einen Jungen angeseufzt hatte.
Kurz zogen sich die Schultern von dem Unbekannten zusammen, doch sonst reagierte er nicht auf mich.
Ich schnaubte missmutig auf - gesprächig war er also nicht oder wollte es einfach nicht. Das konnten ja tolle zwei Jahre werden, wenn wir uns hier nur anschwiegen.
"Hast sicher keinen umgebracht", murmelte ich weiter, stemmte mich auf, stützte meinen Kopf auf die linke Handfläche.
Ich hörte ihn tief einatmen, doch er antwortet nicht. Es nervte.
"Joa... nur damit du es weißt, ich hab' auch keinen gekillt." Die traurige Wahrheit war doch, dass ich dem Jungen, wegen dem ich hier war, nicht mal ein Haar gekrümmt hatte.
Immer noch drehte mein Zellengenosse sich nicht um.
Mir reichte es, ich fühlte mich wütend, müde und ausgelaugt - erst diese verdammte Untersuchung und dann redete nicht mal dieser Typ mit mir. Ich fühlte mich auch so schon wie der letzte Dreck.
"Scheiße Mann, haben sie dir die Zunge raus geschnitten?" Ich stand auf, stellte mich neben ihn, verschränkte die Arme, schaute von oben auf ihn herab. Er starrte weiter vor sich auf die Seiten in seinem dämlichen Notizheftchen.
Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen, etwas war dort hineingezeichnet - eine Blume, die mir sehr bekannt vorkam.
Ein Stich ging genau durch mein Herz bei dem Anblick - noch jemand mit einem so merkwürdigen Hobby...
"Wie heißt du? Sagst du mir wenigstens das?"
Immerhin, dieses eine Mal zuckte er mit den Schultern, starrte aber weiter wie gebannt auf das Blatt und verfeinerte die Blätter mit dem Bleistift gekonnt.
"Ich bin Fiore, nur damit du es weißt", schnaubte ich ungeduldig.
Natürlich antwortete er wieder nicht.
Doch jetzt war es mir auch egal. Ich ging zur Toilette, hatte wohl keinen Sinn das weiter hinaus zu zögern. War doch eh alles egal hier, dann pinkelte ich eben auch vor dem Jungen ohne Namen, wenigstens wirkte er nicht, als würde er mich nachts erwürgen.
Die seltsame Stille in dem Raum, die nur von dem Gekritzel seines Bleistifts unterbrochen wurde, dazu das dumpfe Rappeln und Gerede, das aus den anderen Zellen zu mir drang... Ich lag wieder auf dem Bett und starrte missmutig vor mich hin. Egal wie erschöpft ich mich auch fühlte, ich konnte nicht mal die Augen schließen, erst recht nicht mehr schlafen. Ich fühlte mich so fehl am Platz und von Minute zu Minute wurde mir bewusster, was ich für einen riesen Fehler begangen hatte.
Das laute Klopfen an der Stahltür schreckte mich aus meinen Gedanken.
Unsere Gefangenennummern wurden aufgerufen - nicht unsere Namen, wir hatten uns nacheinander vor der Tür aufzustellen, dann legte uns der Vollzugsbeamte wieder Handschellen an. Ich hätte niemals gedacht, dass es bei Minderjährigen so krasse Sicherheitsvorschriften gab.
Hintereinander liefen wir durch den Gefängnistrakt, unser Weg führte in die Kantine. Kaum einer sprach, es gab Gemurmel, das Rasseln der Handschellen. Jedem um mich herum stand die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Das mit den Handschellen schien nichts Alltägliches zu sein, etwas war geschehen, wie ich aus dem Gemurmel heraus hörte, vor ein paar Tagen. Seitdem gab es die verschärften Sicherheitsvorschriften.
Plötzlich brüllt ein Junge laut: "Ey Fiore!"
Selbst mein blonder Zimmergenosse schaut sich erschrocken um. Panik kroch in mir hoch. Und im nächsten Moment blickte ich in das Gesicht meines Cousins dritten Grades - Philippe.
Erleichterung, pure Erleichterung! Ich wusste nicht, dass er hier untergekommen war, aber dass er es war - es beruhigte mich ungemein! Wenn jemand sich verteidigen konnte, dann Philippe, er war Kickboxer, hatte regelmäßig an Wettkämpfen teilgenommen, bevor er hier reinkam. Bei zweien davon saß ich selbst im Publikum und hatte erschrocken dabei zugesehen, wie schnell und auch hart er seine Gegner auf die Matte geschickt hatte.
Doch das schreckte mich jetzt nicht - das war Familie!
"Hey!", rief ich breit grinsend. Endlich ein bekanntes und vertrautes Gesicht!
"Geil, bist du jetzt echt auch hier!", rief er lachend zurück, als wäre das hier nicht mehr als ein lockeres Feriencamp.
"Ruhe!", brüllte einer der Wärter, die hinter uns liefen und sofort verstummten wir.
In der Kantine bekamen wir endlich die Handschellen abgenommen und ich ging direkt zu ihm, setzte mich an den Tisch mit vier weiteren Jungs in meinem Alter.
Klar wusste ich um Philippes Geschichte, auch wenn unsere Familien nicht so viel Kontakt hatten, zurzeit. Allerdings hatte mir keiner auch nur mit einem Wort gesagt, dass er ebenfalls hier einsaß! Wahrscheinlich hatten sie dafür sogar ihre Gründe gehabt - mein Cousin galt als so was wie das schwarze Schaf der Familie, auch wenn ich ihm gerade den Rang dafür ablief.
Er saß bereits seit einem halben Jahr ein. Wurde damals mit sechzehn beim Pillen verticken erwischt, direkt zweimal hintereinander. War Pech, aber verdammt, ihn jetzt hier zu sehen - es gab mir Hoffnung! Und er sah verdammt gut aus! Durchtrainiert, mit einem entspannten Grinsen auf den Lippen.
Und die Jungs an dem Tisch, "seinem" Tisch, sie klebten förmlich an seinen Lippen. Schnell wurde mir klar, dass Philippe hier etwas zu sagen hatte und zwei von den Jungs waren ebenfalls, wie wir, Italiener. Wir redeten in unserer Muttersprache, es tat so gut - selten zuvor habe ich den Klang meiner Sprache so vermisst und gebraucht - es fühlte sich ein wenig nach Heimat an.
Nach dem Essen legte er kumpelhaft den Arm um mich.
"Ey, musst dir jetzt keine Sorgen machen, passen auf dich auf, ne Jungs?" Bestimmend sah er seine Freunde an und diese nickten rasch.
"In welchem Zimmer bist du?"
"117", gab ich zurück. Philippe schaute wissend zu seinen Kumpels, die schauten genauso skeptisch zurück.
"Fuck, du bist echt zu der Schwuchtel gekommen?" Als würde ihn ein Schauer überkommen, schüttelte sich mein Cousin.
Verwirrt sah ich ihn an. Ist jetzt nicht sein ernst! - dachte ich und rückte instinktiv etwas von ihm ab.
"Keine Ahnung was der ist, kenn' nicht mal seinen Namen. Er redet nicht mit mir", gab ich zurück, versuchte nicht auf seinen dummen Spruch einzugehen.
Plötzlich fingen alle am Tisch an zu lachen, bis auf einen Jungen mit grünlichen Augen, er sah besorgt zu mir.
"Joa, dem haben wir das Labern echt ausgetrieben!"
"Was?" Ich verstand gar nichts mehr.
"Ey! Der war früher so 'ne Quasselstrippe, super nervig! Aber seitdem David sich den letzte Woche vorgeknöpft hat, sagt der nichts mehr. Zumindest nicht zu uns!", lachte mein Cousin weiter.
"Oh", entwich es mir geschockt. Der Junge wirkte alles andere als nervig auf mich.
"Sein Name ist Danny", sagte der dunkelblonde Junge mit den Locken am Tisch, der, der mich eben schon so besorgt angesehen hatte. Er hatte vorhin nicht gelacht, vielleicht kannte er Danny ja besser als mein echt selten dämlicher Cousin. Doch egal was ich gerade von Philippe halten mochte - die bittere Wahrheit war - ich brauchte ihn, um hier nicht als Freiwild, wie scheinbar mein Mitbewohner, zu enden.
Nach dem Mittagessen gab es noch kurz Hofgang, ich suchte instinktiv Danny und fand ihn rasch, vielleicht sah ihn sonst niemand, er verhielt sich unauffällig, redete mit niemandem, war immer dort, wo sonst keiner war, schien zu versuchen Ärger aus dem Weg zu gehen. Seine Augen suchten den Boden ab, als würde er etwas suchen, doch ich vermutete eher, dass er niemanden anschauen wollte, um nicht unnötigen Ärger zu provozieren.
Ich war erst einen Tag hier, doch der Hofgang machte mir schnell klar, wie es hier wirklich ablief. Fast alle standen in Gruppen zusammen, kaum einer lief, wie Danny, alleine herum. Und doch gab es direkt eine Prügelei zwischen zwei Jungs, beide ziemliche Muskelberge, sie gingen nach einem kurzen Wortgefecht heftig aufeinander los, schlugen sich ins Gesicht, in den Bauch, und bis einer der Wärter kam, vergingen mindestens fünf Minuten. Es war nicht gerade unauffällig, fast alle, auch Philippe und "unsere" Gruppe hatten nicht weit weg davon gestanden und sie lautstark angefeuert. Einer von beiden lag danach, mit stark blutender Nase, auf dem Boden und wurde von zwei Wärtern rausgebracht.
Ich war so fertig von dem ersten Tag und den ganzen Eindrücken darin, dass ich abends direkt in mein Bett fiel und direkt einschlief. Doch selbst da war mir keine Ruhe gegönnt.
Mein ruheloser Kopf brachte mich zurück auf den Friedhof, vor den Grabstein von Elijah. Ich sah mich selber davor stehen, sah die Schneeglöckchen, sie leuchteten, sprichwörtlich, und als ich wieder aufsah, befand ich mich plötzlich in dem Park neben der Schule. Elijah stand direkt neben mir und sah mir wütend entgegen.
"Warum hast du das getan?", hatte er mich angefaucht.
Ich hatte nur die Schultern gezuckt und gemurmelt: "Ist doch jetzt eh zu spät."
Er hatte den Kopf geschüttelt, wieder und wieder.
"Wie soll ich dich dort beschützen?" Fragend, aus seinen großen Augen hatte er mir entgegen gesehen.
Wieder konnte ich nur mit den Schultern zucken, mein Mund fühlte sich an wie verklebt.
Meine Hand war nach vorne geglitten, Elijah vor mir wirkte noch immer so jung wie damals und doch lag in seinen Augen ein solches Wissen, ein solcher Mut.
"Zwei Jahre", hatte er gemurmelt und meine Hand berührte seine, strich ganz zart darüber.
"Ich kann dort nicht auf dich aufpassen!" Traurig hatte er mich angesehen, ich wollte meine Finger mit seinen verschränken, doch er zog seine Hand rasch zurück.
Noch immer konnte ich nicht sprechen, versuchte wenigstens zu lächeln.
"Aber du weißt bereits, wem du vertrauen kannst." Ein wissendes Lächeln glitt über seine Lippen, verwirrt hatte ich ihn angesehen. Seine Finger fuhren nach vorne, berührten ganz sachte mein Kinn, ein letztes Mal sah er mich an, lächelte hoffnungsvoll, dann drehte er sich um und ging. Ich wollte schreien, ihm hinterher rufen, doch kein Ton kam mir über die Lippen.
Ich schreckte aus dem Traum hoch, hörte mein Herz heftig gegen die Brust schlagen, strich mir erschöpft über das Gesicht. Dieser Traum - von Elijah, so hatte ich noch nie von ihm zuvor geträumt - es schien so real, war so anders als sonst, kein Albtraum.
Ich blinzelte in die Dunkelheit, der nächtliche, bläuliche Scheinwerfer erhellte kurz die Zelle, plötzlich hörte ich ein deutliches Schluchzen über mir. Danny?
Gestern im Zimmer hatte er mich weiterhin ignoriert, die meiste Zeit an dem Schreibtisch und in seinem Bett verbracht, gelesen.
Das Schluchzen wiederholte sich. Es klang heftig.
Sollte ich etwas sagen?
Er hatte gestern auch nichts zu mir gesagt und dafür war ich mehr als dankbar gewesen, denn damit hätte ich mich nur noch erbärmlicher gefühlt.
Doch das jetzt bei ihm, das klang wirklich ernst, herzzerreißend und war ganz sicher nicht für meine Ohren bestimmt.
"Alles ok?", fragte ich hoch, wusste selbst, wie bescheuert die Frage gerade klang.
"Nein", antwortete er unerwartet für mich.
Ich stand auf und sah zu ihm hoch, wieder wurde es durch die Scheinwerfer hell in der Zelle. Es würde die ganze Nacht so bleiben - Gardinen waren verboten. Schwer sich daran zu gewöhnen.
"Was ist los?" Besorgt musterte ich ihn.
Danny hockte da oben, im Schneidersitz, das Gesicht in die Hände gepresst.
"Kennst du die Typen gut?", murmelte er.
Ich wusste sofort wen er meinte.
"Philippe..." Danny nickte.
"Er ist mein Cousin."
"Shit...", keuchte er, starrte mich fassungslos und aus tränenverhangenen Augen an.
"Hey... alles gut! Ich bin nicht wie er, ok?" Warum auch immer, aber ich kletterte hoch zu ihm aufs Bett, setzte mich neben ihn und versuchte ihm zuzulächeln. Er blickte mich jedoch nur erschrocken an, rückte instinktiv etwas von mir ab.
"Hey, ich weiß nicht, was der Idiot mit dir gemacht hat oder was für ein Mist der über dich erzählt, aber ich bin nicht so, ok?" Nicht mehr - fügte ich in Gedanken hinzu.
"Nicht?" Skeptisch blickte er mir aus seinen großen Augen entgegen. Jetzt bei Nacht wirkten sie sogar noch dunkler. Sie funkelten mir wie schwarze Diamanten entgegen.
"Nein, man... ganz sicher nicht" Ich räusperte mich, es war seltsam hier oben auf seinem Bett zu sitzen. Es roch ganz anders als meins, frisch, blumig, schön.
"Aber du solltest echt lernen dich zu verteidigen."
Er schnaubte.
"Denkst du, das hätte ich nicht versucht?"
"Naja, vielleicht musst du einfach noch was trainieren und ich kann dir auch ein paar Moves zeigen, wenn du willst" Es war so seltsam. Während ich die Worte aussprach, hatte ich ein Déjà-vu - ich hatte die Worte schon mal gesagt, zu Elijah.
Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, nur ganz zart, aber endlich schienen seine Tränen versiegt. Er wirkte ganz anders, wenn er so zu mir sah.
Ich konnte mir plötzlich gut vorstellen, wie er war, wenn er hier nicht eingesperrt ist. Bestimmt charmant, liebenswürdig, vertrauenswürdig - jemand, dem du deine Probleme anvertrauen kannst und der sie sicher für sich behielt. So jemanden hätte ich vor ein paar Monaten gebraucht, stattdessen hatte sich meine ganze Familie eingemischt.
"Geht's wieder?" Sein Lächeln wurde breiter, mir wurde auf einmal ganz warm und ich schüttelte kaum merklich den Kopf.
"Ja... danke", hauchte er mir entgegen und unterdrückte ein Gähnen.
"Lohnt es sich nochmal zu schlafen?"
Er zuckte mit den Schultern.
"Schlafen ist doch das Beste hier drin' und träumen...", er nahm sein Kissen und brachte es in Form, sah mich grinsend an.
"Ich geh' dann mal wieder runter", nuschelte ich.
Danny kuschelte sich wieder in sein Bett, zog sich die Bettdecke über seinen schlanken Körper. Ich schaute ihm dabei zu, keine Ahnung warum ich das tat. Ich benahm mich seltsam, vielleicht war es der Stress vom letzten Tag, doch nach dem Gespräch mit Danny konnte ich nicht mehr einschlafen.
Ich lag wieder in meinem Bett, konnte die Augen nicht mehr schließen. Danny schien damit kein Problem zu haben, ich hörte ihn über mir gleichmäßig atmen.
Er schlief.
Er ist süß - ging es mir plötzlich durch den Kopf.
Shit, so einen Gedanken hatte ich das letzte Mal vor vier Jahren! Und daran wollte ich jetzt ganz sicher nicht denken, wo ich eben noch in seinem Bett war. Leise stand ich auf.
Sein Buch lag noch auf dem Schreibtisch. Meine Finger glitten über den rauen und dunklen Einband und schlugen es auf.
Die filigran gezeichneten Schneeglöckchen schienen mir entgegen. Es war so seltsam sie gerade hier und bei dem Jungen zu finden.
Seufzend strich ich mit meinen Fingern die Blätter und Blüten nach. Danny hatte wirklich Talent.
Hoffnung, stand darunter. Ich lachte trocken auf.
An so einem Ort? - dachte ich.
Und blätterte weiter.
Es folgte keine Zeichnung, nur Worte:
Und während die Welt schläft,
starre ich aus dem Fenster und suche dich
Während die Dunkelheit auf mich einbricht,
schaffe ich es endlich und sehe dich
Doch als das Licht wiederkehrt,
bist du weg wie ein Schatten der Nacht
Die Worte und Bilder, die dieses kleine kostbare Büchlein schmückten - es machte mich sprachlos, ließ mein Herz wild schlagen.
Es wirkte so intim, dass ich mich ganz schuldig fühlte, als hätte ich damit einen unbewussten tiefen Einblick in seine Seele erhalten. Schnell schlug ich es wieder zu.
Ich hatte etwas Ähnliches bei mir, als ich hier rein kam. Mit Sätzen und Blumen gefüllt - von Elijah.
Dieses kleine Buch, es hatte mich mit ihm verbunden, wie die Kette. Dass diese Dinge jetzt nicht mehr bei mir waren, ich sie nicht mehr berühren konnte, es ließ mich seltsam nackt und schutzlos zurück.
Ich sollte beginnen ihm zu schreiben - vielleicht würde es mich davor bewahren, hier drinnen durchzudrehen.
"Was tust du da?" Worte so kalt wie Eis.
Erschrocken zuckte ich zusammen, drehte mich um.
Danny sah zu mir hinab.
"Sorry, ich wollt nicht,-"
Sein Blick wurde gleichmütig, er zuckte mit den Schultern.
"Was soll's" Er schnaubte bitter auf, „hier hast du eh nichts mehr, was nur dir gehört... einzig in deinen Kopf", er tippte gegen seine Stirn. „da können sie nicht rein"
Ich schluckte, wie wahr.
"Du hast echt Talent"
"Hmm"
"Dieses Schneeglöckchen..."
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
"Hab' ich gestern im Hof gefunden, bevor es einer der Jungs zertrampeln konnte."
"Hast du es noch?"
Danny kam herunter geklettert.
Wortlos zog er eines der drei Bücher nach vorne, die an der Wand vom Schreibtisch standen.
Dahinter holte er ein welkes Schneeglöckchen hervor. Er berührt es ganz vorsichtig, ließ es auf seine Handinnenfläche gleiten, als wäre es der größte Schatz.
Triumphierend hielt er es mir unter die Augen.
"Schön, oder?"
Meine Mundwinkel zuckten.
Ich nickte.
"Aber bald ist es vertrocknet...", ein Schatten legte sich auf sein Gesicht.
"Du kannst es in das Buch pressen", schlug ich vor.
Zweifelnd sah er mich an.
"Aber dann wird es doch zerdrückt und ist tot!"
"Nun, aber es vertrocknet nicht und die Farben bleiben so."
Nachdenklich betrachtete er mich, schüttelte dann den Kopf.
"Das könnte ich nicht", vorsichtig ließ er die zarte Blume wieder in das Versteck hinter den Büchern gleiten.
"Ist schon ok, ich denke ich bewahr' sie lieber noch ein paar Tage so auf."
Ich lachte leise und überrascht auf.
"Klar, mach wie du magst."
Er musterte mich, eindringlich. Sein Blick, der auf meinen Augen lag, er schien mich zu durchdringen.
"Du bist ok", meinte er schließlich.
"Danke...", sagte ich zögerlich. Fragend.
"Ich bin Isahia", verwirrt sah ich ihn an, warum sagte jeder dann Danny zu ihm?
Doch egal warum, der Hall seines Namens, ich hatte ihn noch nie zuvor gehört. Er war so schön, so selten und irgendwie auch ganz weit weg und fremd. Es machte die Mauern um mich herum etwas dünner.
"Danny... Das ist nur mein Name für die Idioten hier drin." Er blinzelte mir entgegen, jetzt gelang es mir ehrlich und offen zu lächeln - das erste Mal seitdem ich hier drin war.
"Fiore", meine Faust glitt gegen seine, Isahia Mundwinkel zogen sich nach oben.
Ein Freund, etwas was ich hier wirklich brauchte, ein kurzes Flackern erschien vor meinen inneren Augen, ein letztes Bild von Elijah, wie er mir entgegen lächelte und die Hand hob - ich musste loslassen, ihn endlich ziehen lassen. Etwas in mir ließ mich laut aufseufzen.
Isahia sah mich fragend an.
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf.
Dann glitten seine Arme wie selbstverständlich um mich und das Einzige, was ich noch fühlte, war Freiheit und Hoffnung.
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