Hornveilchen 🏵 ~ Veilchen enden nicht immer mit einem blauen Auge
~Veilchen enden nicht immer mit einem blauen Auge~
by MFHreads
Hornveilchen - Viola cornuta
Das Hornveilchen steht für Ehrlichkeit, Bescheidenheit aber auch für Verschwiegenheit
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„Ach schau, wie reizend der sich wieder um seine blöden Pflanzen kümmert. Schön abdecken, damit ja nix hinkommt. Nimm den Topf halt gleich mit ins Bett, wenn es draußen zu kalt ist."
Hinter ihm war Lachen zu hören. Alex zögerte kurz. Clemens. Der hatte ihm heute gerade noch gefehlt. Eigentlich sollte er diesem Trottel ja keine Aufmerksamkeit schenken. Trotzdem tat er es auch jetzt wieder. Zu seiner Überraschung war der junge Mann, der ihn seit Tagen allabendlich ungefragt nervte, heute nicht alleine. Und zu Fuß unterwegs – sein Moped hätte er sonst schon viel früher gehört.
„Na, fällt dir nix besseres ein? Was soll denn deine Begleitung von dir denken, wenn du dich mit mir abgibst?", gab Alex genervt zurück. Die beiden jungen Männer ihm gegenüber dachten allerdings noch lange nicht ans Weitergehen. Stattdessen merkte Alex, wie Clemens' Begleiter ihn musterte. Als er aufsah, trafen grüne Augen auf braune. Unbekanntes, doch irgendwie bekannt vorkommendes Grün. Das Alex nicht einzuordnen vermochte, obwohl eine Erinnerung ihn streifte. Einen Moment nur, dann blickte der Unbekannte erneut auf die Töpfchen am Boden, halb vom Fließ verdeckt. „Stiefmütterchen, hm? Die haben doch noch gar keine Saison, die solltest du wirklich nachts abdecken", stellte er fest. „Und was ich von Clemens denke, entscheide ich am liebsten selbst." Ein Blick, der dem scannenden von eben allerdings keineswegs ähnlich war, in Richtung des braunhaarigen Unruhestifters folgte. „Komm, lass uns endlich zu dir gehen, Clem. Sonst ist die Pizza vor uns da", forderte er diesen auf und zog ihn fast schon mit sich, ohne Alex eines weiteren Blickes zu würdigen. Clemens wiederum konnte es nicht lassen, ihm noch einmal kräftig auf die Schulter zu klopfen und ein „wir sehen uns" abzulassen, bevor er seinem Kumpel folgte.
Innerlich verdrehte Alex die Augen. Dann machte er sich daran, die restlichen Töpfchen, die vor der Haustüre des kleinen Einfamilienhauses standen, gut in das Fließ einzupacken. Seit einer Woche machte er das jetzt und fast genauso lange durfte er sich jeden Abend ungefragt einen blöden Spruch anhören. Früher oder später erst nach draußen zu gehen, das hatte er schon versucht, aber Clemens erwischte ihn doch immer. Fast schien es, als warte er schon darauf.
Dabei waren die Blümchen nur der Aufhänger, um seinen Frust irgendwo abzuladen, das wusste Alex. Was konnte er dafür, wenn seinem ehemals seit dem Sandkasten besten Freund gekündigt worden war. Vielleicht sollte er am besten „Ex"-Freund sagen? Dass er überhaupt mit ihm sprach, verwunderte ihn fast noch mehr als das „wie". Er hatte nie damit gerechnet, ihn nach der Schule noch einmal wiederzusehen, bis der junge Bürokaufmann vor einigen Wochen wieder drei Häuser weiter eingezogen war. Sehr zur Freude seiner Mutter. Was Alex wiederum von seiner Mutter wusste, denn die beiden Frauen trafen sich regelmäßig zum Kaffeeklatsch und tauschten die neusten Infos aus. Dass ihre Jungs sich zerstritten hatten, kam demnach einer Staatskrise gleich. Trotzdem hatte Alex' Ma es irgendwann akzeptiert. Und Alex hatte ihr nie den wahren Grund verraten.
Gedankenverloren beendete der 25-Jährige die Arbeit an den Frühblühern. Seine Mutter hatte sie mitgebracht, obwohl sie als Floristin genauso gut wie ihr Sohn wissen müsste, dass man die Viola Ende Februar lieber im Gewächshaus ließ. Aber was sollte man gegen das Argument „Die hat Oma gekauft, bei ihr halten sie sonst auch nie bis Ostern, also hab ich sie genommen" einwenden? Aus gutem Grund hielt Alex sich also normalerweise aus allem heraus, was die heimische Bepflanzung des Eingangsbereichs und des großen Gartens hinter dem Haus betraf. Jetzt waren die beiden Damen jedoch zwei Wochen gemeinsam im Urlaub und sein Vater, der freiwillig sowieso keine Pflanze anfasste, kam praktisch nur zum Schlafen nach Hause, die restliche Zeit des Tages widmete er mit Hingabe seinem Bürojob. Manchmal hatte Alex den Eindruck, er wäre lieber damit verheiratet als mit seiner Frau. Also hatte er die Aufgabe, das Grün heil über die restlichen kalten Wochen zu bringen.
Alex betrat das Haus, das wie zu erwarten leer war. Ihm gehörte die komplette obere Etage mit extra Eingangstüre, die er durchgesetzt hatte, als ihm die ständigen „unbeabsichtigten" Kontroll- und Ordnungsaktionen seiner Mutter während seiner Abwesenheit im Studium endgültig zu viel wurden. Nun war er fertig und dachte trotzdem nicht daran, auszuziehen. Warum auch? Er hatte sein eigenes Reich, einen Job im nahe gelegenen Gartenbau-Versuchszentrum und in der Natur war er auch gleich, sobald er das Ende der Stichstraße, in der sie wohnten, erreicht hatte. Gut, Clemens wäre ein Grund zum Umziehen. Aber insgeheim hoffte der Dunkelblonde, dass sich dieses Problem zeitnah wieder von selbst lösen würde.
Während er sich einen Mix aus Paprika und Zucchini schnibbelte und in der Pfanne anbraten ließ, wie auch beim Verzehr seines Abendessens, musste er mehr und mehr daran denken, was damals alles vorgefallen war. Denn bis zum Abi war „Clem", wie ihn sein unbekannter Begleiter vorhin genannt hatte, auch Alex' Clem gewesen. Er war praktisch bei ihnen ein- und ausgegangen – und Alex bei seiner Familie. Bis sie in die Pubertät kamen, hatten die beiden Jungs nahezu alles gemeinsam gemacht. Wäre Clemens' große Schwester damals nicht dazwischen gegangen und drohte, sie zu verpfeifen, hätten sie sich sogar die Blutsbrüderschaft geschworen.
Danach las es sich wie ein Klassiker aus einem Jugendroman. Der etwas ältere Clemens stellte zuerst fest, dass Mädchen doch mehr waren als Objekte, die man ärgern konnte. Und während er im Sommer am See die Bikinis oder besser, das darunter, zu analysieren begann, merkte Alex schnell, dass ihn die Jungs in der Umkleide beim Fußball viel mehr interessierten.
Bei Clemens stieß sein absolutes Desinteresse an allem, was schlanke Beine und lange blonde Haare hatte (Alex hätte dieses „Beuteschema" auch nicht nachvollziehen können, wenn er hetero gewesen wäre...) bald auf Unverständnis und irgendwann ließ er seinem Freund keine Gelegenheit mehr, der Frage aller Fragen neuerlich auszuweichen. Er hatte zuerst Angst, sich vor der Familie und Freunden zu outen, deswegen hoffte er umso mehr auf die Rückendeckung seines bis dato besten Freunds, als er ihm schließlich, als sie beide wohl etwa 16 Jahre alt gewesen sein mussten und einmal wieder den Sommertag am See verbrachten, das eingestand, was ihm selbst schon einige Zeit zuvor klar geworden war: „Ja, ich stehe auf Jungs."
Zu seiner absoluten Erleichterung ließ sich der Braunhaarige davon augenscheinlich nicht schocken und wechselte das Thema so schnell, wie er sich immer mit anderen Dingen beschäftigte. In der Folge nahm Alex dieses „Geheimnis" dennoch zum Anlass, die Aktionen des Freunds zu decken. Er glaubte zwar nicht daran, aber vielleicht hätte er es ansonsten als Mittel genommen, um ihn unter Druck zu setzen? Outen wollte er sich nämlich noch nicht. Egal, auf wie viele Partys Clem ihn also mitschleppte, egal wie oft er mit dem Alk über die Stränge schlug. Jedes Mal sorgte Alex dafür, dass sie sicher nach Hause kamen und die Eltern möglichst wenig mitbekamen. Er ließ ihn abschreiben, wann immer Clemens unter der Woche alleine unterwegs war und „nicht dazu kam". Dass die Noten des Nachbarn darunter litten, konnte er trotzdem nicht verhindern – Alex machte seine Erfahrungen in Sachen Liebe und Partys zurückhaltend, Clem lief kurz vor dem Abitur in seiner Sturm- und Drangzeit zu Hochform auf. War kaum zuhause, turnte durch fremde Betten – natürlich schlief er offiziell bei Alex – und ließ kaum mehr mit sich reden. Rückblickend hatte ihre Freundschaft wohl zu diesem Zeitpunkt schon Risse bekommen, die zumindest Alex erfolgreich zu verdrängen suchte.
Der Bruch folgte mit dem Abi-Ball. Lange hatte Alex diese Erlebnisse ganz tief in seinem Kopf vergraben, nicht mehr daran gedacht. Aus gutem Grund die Ehrlichkeit, die ihn normalerweise auszeichnete, gegen Verschwiegenheit getauscht. Nun musste er feststellen, dass die vermeintlich überstandenen Geschehnisse ihn immer noch aufwühlten, belasteten. Er schob den halb aufgegessenen Teller von sich. Heute würde er nichts mehr hinunterbringen, der Hunger war vergangen.
Wieder da waren die Bilder, präsent in seinem Kopf. Der Abend lief vorbei wie in einem Film. Nach dem offiziellen Teil mit Zeugnisvergabe (bei dem Clemens übrigens gerade so bestanden hatte, Alex hingegen zur Überraschung aller ein, wenn auch knappes, Einser-Abi hinlegte), verabschiedeten sich die Eltern nach und nach, die Schüler blieben zurück und feierten weiter. Clemens natürlich ganz vorne mit dabei. Irgendwann verlor Alex seinen Freund allerdings aus dem Blickfeld. Er hielt sich wie immer zurück, blieb auf dem Beobachterposten und verstand sich gut mit einem gemeinsamen Kumpel, Tobi, der wie viele seiner bald ehemaligen Schulkameraden mittlerweile wusste, dass er schwul war. Zu keinem Zeitpunkt hatte er das Gefühl gehabt, irgendjemand hätte größere Probleme damit, als er sich traute, Sebi, seinen ersten richtigen Freund, in der Schule zu küssen. Seine Ma war sowieso begeistert gewesen, dass ihr introvertierter Junge mal jemanden mitbrachte. Und sein Vater vermutlich insgeheim froh, dass die Chance, irgendwann Enkel betreuen zu müssen, deutlich geschrumpft war.
Es war schon weit nach Mitternacht, als sich die beiden Jungs entschieden, die Feier zu verlassen. Halb am Gehen bemerkte Alex allerdings Clemens, den er aufgrund der Abwesenheit mit irgendeinem Mädchen in einer ungestörten Ecke vermutet hatte. Und zu seiner Verwunderung kletterte der gerade, von vielen Händen unterstützt, auf die Bar. Welches Lied lief, konnte Alex nicht mehr sagen. Nur, dass es lauter gedreht wurde, unheimlich laut. Während Clem begann, einen Striptease auf diesem verdammten Tresen hinzulegen. Nicht, dass Alex diese Situation noch nie miterlebt hatte, immerhin war Clemens die letzten Jahre auch kein Kind von Traurigkeit gewesen. Aber meistens konnte er ihn davon abhalten. Oder er war auf beiden Beinen gestanden – jetzt fiel ihm das sichtlich schwer. ‚Wie dicht mochte der wohl sein?' fragte sich Alex noch, da kippte der junge Mann schon nach vorn über. Seine Mitschüler, ebenfalls im Halbsuff, versuchten ihn aufzufangen. Irgendjemand filmte.
In dem Moment, in dem Alex sich von dem Kumpel löste, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, wusste er, dass Clem es mal wieder geschafft hatte, ihn um eine Bekanntschaft zu bringen. Denn Tobi schien zu seiner anfänglichen Überraschung an diesem Abend durchaus aufgeschlossen für mehr als nur Freundschaft. Aber spätestens mit dieser Aktion war die Anziehung verflogen, verschwunden in der Atmosphäre der stickigen Schulaula. Genauso wie Tobi, der schon wusste, warum er die Aufregung lieber mied und sich verdünnisierte.
Den halb-ohnmächtigen Freund aufrichtend, stützte Alex ihn auf dem Weg nach draußen. Schob sie beide durch tanzende, sich aneinander reibende, schwitzige Körper. Um ihn herum ging die Party weiter. Die Show war vorbei, es kümmerte keinen mehr, was passiert war. Im Zweifel guckte eben doch jeder zuerst auf sich selbst.
Hinterher wusste Alex nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen waren. Es war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Alleine lassen wollte er Clemens nicht, deswegen nahm er den Ersatzschlüssel, bugsierte den Kumpel so leise wie möglich durch den Hintereingang und war zum ersten Mal froh, dass der seine Bude im Keller hatte. So konnte er sich die Treppen sparen und lief wenig Gefahr, den Rest dessen Family zu wecken. Er verfrachtete ihn aus der halb stehenden Position in sein Bett, und zog ihm notgedrungen zumindest Hemd, Schuhe und Anzughose aus. Gerade wollte er nochmal prüfen, ob der Junge überhaupt noch atmete, da murmelte Clemens „ich liebe dich", bevor er anscheinend endgültig ins Koma zu verfallen schien. Alex stockte, meinte sich verhört zu haben. Aber sagten Betrunkene nicht immer die Wahrheit? Andererseits, wusste Clem in seinem Zustand überhaupt, wen er vor sich hatte?
Alex brauchte nicht lange, um auf der Couch des Freunds einzuschlafen, so fertig war er. Dennoch waren es nicht die Geräusche aus dem angrenzenden Bad, die ihn nach kaum vier Stunden Schlaf völlig zerknautscht früh um sechs aufwachen ließen, sondern ein lautes „Fuck" und sein piepsendes Handy. Immer noch nicht ganz wach blinzelte er ein paar Mal, ehe er in der Lage war, das Video zu gucken und die Bilder zu erfassen, die irgendjemand in die noch existierende Kurs-Whatsappgruppe geschickt hatte. Es zeigte nicht nur Clems Auftritt, sondern auch wie Alex ihm half, wieder aufzustehen. Sich seine Arme über die Schultern legte. Und von hinten gefilmt, sah die Pose eindeutig aus. So, als würden sie sich gerade küssen. Alex war schlagartig hellwach. Er wusste, er war am Arsch.
Noch mehr, als sein Sichtfeld auf die Wand hinter Clemens' Schreibtisch fiel: Dort hingen Bilder. Von ihm und seinen Exfreunden oder Partybekanntschaften. Aber...? Was..? „Fuck", zischte er nun leise.
Da knallte die Zimmertür hinter ihm und riss den Dunkelblonden aus seinen verwirrten Gedanken. Der 19-Jährige vor ihm sah buchstäblich aus wie ausgekotzt. Aber auch er hatte sein Smartphone in der Hand. „Ich - ", setzte Alex an, aber wurde durch ein harsches „GEH!" unterbrochen. Dann herrschte erdrückendes Schweigen. Kopfschüttelnd suchte er seine Sachen zusammen. Bevor er ging, drehte er sich allerdings noch mal in der Tür um. Riss die Bilder von der Wand. Sah seinen Freund an. „Warum?", schrie er Clem an. „Sag mir einfach – 'warum'? Dann siehst du mich nie wieder!" Doch der Junge blieb stumm.
Wie im Tunnel lief Alex nach Hause. Duschte, versuchte den Dreck, der nach dieser Nacht an ihm zu kleben schien, abzuwaschen. Fühlte sich danach immer noch schmutzig. Las die Nachricht von Tobi: „Clemens und du, hm?" Antwortete nicht, legte sich nochmal hin. Beantwortete später nur ausweichend die Frage seiner Mutter, wie denn die Party war. Dann versuchte er, den Filmer des Videos zu finden. Schaffte es irgendwie, das Filmchen aus dem Netz zu bekommen. Nicht wegen ihm, sondern wegen Clem. Wie durch ein Wunder hatten seine Eltern nichts davon mitbekommen und fragten auch nicht weiter nach. Sie schienen zu spüren, dass ihr Sohn da etwas mit sich selbst ausmachen musste.
Als die Familien sich etwa eine Woche später zum Grillen trafen, war Clemens nicht dabei. „Er macht eine Ausbildung im Büro. Das Theologiestudium war anscheinend doch nicht das richtige für ihn", lautete der knappe Kommentar seines Vaters. Ob sie das Video gesehen hatten? Alex wusste es nicht. Aber er vermutete es. Theologiestudium? Er hätte ihn gerne gefragt, was es damit auf sich hatte. Von Clemens hatte er seitdem jedoch nie wieder etwas gehört. Bis der vergangene Woche wieder vor ihm gestanden war. Und wieder die Fragen aufgetaucht waren, auf die Alex nie eine Antwort bekommen hatte.
Ein lautes Klopfen riss Alex aus seinem Strudel voll dunkler Gedanken, gerade noch rechtzeitig, bevor diese ihn endgültig verschlingen konnten. Sein Blick fiel auf das mittlerweile kalte Essen, welches er rasch in die Küche stellte, bevor er zur Tür lief.
„Junge Junge, wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken? Ich hab jetzt zum fünften Mal geklopft! Dachte schon, du bist nicht zuhause und hast das Licht brennen zu lassen", mimte sein Vater den Besorgten. Alex fuhr sich kurz mit den Händen über das Gesicht. „Ich muss auf der Couch eingeschlafen sein. Hab' deswegen dein Klopfen nicht gehört. Sorry, war einfach ein langer Tag heute", log er. „Bist du schon zuhause?", wunderte er sich nach einem Blick auf sein Handy allerdings nicht ganz zu unrecht. Denn normalerweise war sein Vater sehr selten vor acht zuhause. „Ihr jungen Leute haltet auch nichts mehr aus", schluckte der die Ausrede jedoch ohne Probleme. „Hör mir auf – wir haben einen Wasserrohrbruch in der Firma und die ganze Technik ist betroffen. Da geht die Woche nichts mehr. Solche unfähigen Handwerker hatten wir selten!", regte sich der Fünfzigjährige auf. „Ich wollte eigentlich noch einen Auftrag fertig machen, aber danach fragt von denen ja keiner. Ist aber jetzt auch schon egal... was ich dich eigentlich fragen wollte, Sohn, ob du die Zeitung da hast. Unten finde ich sie nirgends. Dann kannst du wegen mir weiterschlafen." Er lachte kurz.
„Ach so, ja klar! Ich bring sie dir, einen Moment." Alex war, während er ins Innere der Wohnung zurückging, insgeheim froh, dass sein Vater mal gezwungen war, den Rest der Woche Pause zu machen. Denn alle Warnungen, er arbeite viel zu viel und ein Burn-Out stünde irgendwann im Raum, fruchteten bei ihm nicht. Und statt mit seiner Frau in den Urlaub zu fahren, schob er seit Jahren irgendwelche Weiterbildungen in genau diesen Zeitraum. Ein echter Workaholic eben.
„Hier, kannst du lesen. Muss ich heute früh vergessen haben mit runter zu nehmen." Damit drückte er seinem Dad schließlich die Zeitung in die Hand. „Ah super, danke dir. Gute Nacht!" Und schon war sein Vater wieder verschwunden. Sicherlich wollte er gleich nochmal checken, ob er nicht vielleicht doch von zuhause weiterarbeiten konnte.
„Dir auch eine gute Nacht", seufzte Alex leise und zog kopfschüttelnd die Türe hinter sich zu. Dann beschloss er, wirklich ins Bett zu gehen. Auch, wenn er lange nicht in den Schlaf fand und, als er irgendwann doch abdriftete, krude Dinge träumte und manchmal grüne Augen dazwischen auftauchten.
Am nächsten Morgen half die kalte Dusche wenig. Die Müdigkeit blieb. Alex fühlte sich den ganzen Tag wie gerädert. Das Wetter tat sein Übriges, nass und kalt, so machte es wenig Spaß, die Entwicklung der Anzucht-Pflanzen zu kontrollieren und erste Beete vorzubereiten. Auf Gespräche seiner Kollegen antwortete Alex höchstens einsilbig, sodass diese ihn schließlich auch allein arbeiten ließen. Gedanken ließ er trotzdem nicht zu, sie hätten automatisch wieder zu der Person geführt, die drei Häuser weiter wohnte. Oder zu den faszinierend grünen Augen, von denen der 25-jährige schwören könnte, er hatte sie schon mal irgendwo gesehen, aber die Verknüpfung einfach nicht herstellen konnte.
Froh, abends endlich wieder zuhause zu sein, vergaß er darüber sogar seine Pflege-Blumen. Zur großen Verwunderung stand sein Vater in der Küche und schien die frei gewordene Zeit mit Kochen zu füllen. „Willst du auch was?", erkundigte er sich. Weil der Gedanke daran, ein Fertiggericht in den Ofen zu schieben Alex genauso wenig reizte, wie die Aussicht, selbst irgendwas zu machen, zögerte er nicht lange. „Gern. Ich zieh mich nur schnell um, sonst hast du Erde im Esszimmer."
Er kam gerade dazu die Arbeitshose gegen eine Jogginghose zu tauschen, da schallte von seinem Vater von unten „Alex, komm mal schnell" herauf. Den Hoodie noch in der Hand, kam er wieder in die Küche mit der Erwartung, seinem Vater beim Umfüllen des Essens oder dergleichen helfen zu müssen. Der lief allerdings aus der Speisekammer und drückte dem verdutzten Sohn ein Päckchen Mehl in die Hand. „Gib das mal dem Typen an der Tür! Ich muss gleich wieder das Essen umrühren!", und schon war er wieder in der Küche verschwunden.
Ohne an den Hoodie zu denken, der noch immer über seinem Arm hing, trat Alex an die Haustür, in Erwartung, den Nachbarn von gegenüber zu treffen, der sich öfter mal etwas auslieh. „Hier, mein Vater meinte, Sie..." Er blickte zum ersten Mal auf. Braun traf auf Grün. Dann musterte sein Gegenüber ihn so intensiv wie schon am Vortag. „Siehst gut aus", meinte der junge Mann leicht grinsend. Da wurde Alex wieder bewusst, dass er oberkörperfrei in der Tür stand. Er merkte, wie er rot anlief. 'Du siehst gut aus'... 'du siehst gut aus'...hallte es in seinem Kopf – da durchfuhr es ihn wie ein Blitz.
„Tobi?"
Der junge Mann vor ihm begann zu lächeln. „Ich wollte dich gestern schon fragen, ob du mich nicht erkennst. Aber Clemens hat sich gleich so auf dich fokussiert, da wollte ich dich nicht zusätzlich verwirren. Wie geht's dir?"
„Ganz gut soweit! Du hast dich verändert – ich habe dich gestern wirklich nicht erkannt. Was machst du hier? Ich glaube, wir haben uns seit Anas Geburtstag nicht mehr gesehen... Und wohnst du jetzt etwa bei Clemens?"
Wenn Tobi ob der Schnelligkeit, mit der Alex ihn mit Fragen bombardierte, überrascht war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, antwortete er dem Schulfreund. „Ich wohne tatsächlich übergangsweise bei Clem. Jetzt guck mich nicht so an! Seine Nummer hatte ich noch und dich konnte ich über Facebook nicht finden – aber ich habe total spontan eine Stelle als Psychotherapeut in der Nähe bekommen und brauchte schnell eine Bleibe, bis ich was Eigenes finde."
Alex merkte, wie die Worte langsam zu ihm durchdrangen. Es klang alles so plausibel, was Tobi da sagte, aber gerade kam es für ihn einfach überraschend. Vor allem, weil es Clemens war, bei dem er untergekommen war. Ausgerechnet Clemens. Ob zwischen den beiden was lief?
„Krieg ich deine Nummer?", entfuhr es ihm, ehe er etwas anderes sagen konnte. „Facebook hab ich nicht mehr seit... naja, du weißt schon", hängte er noch hintendran. Als ob das noch etwas besser machte. Da stand er, nach wie vor halbnackt, vor seinem Jugendschwarm. Der mittlerweile noch heißer aussah, nebenbei bemerkt. Und er fragte ihn ohne Zusammenhang nach seiner Nummer. War das an Peinlichkeit eigentlich noch zu überbieten?
Aber auch dieses Mal schien Tobi die Ruhe selbst zu bleiben. „Rede mit Clemens. Er macht sich wirklich Vorwürfe. Und dann bekommst du auch meine Nummer." Ein Lächeln schlich sich zurück auf die vollen Lippen des Dunkelhaarigen. „Danke fürs Mehl! Das bekommt ihr zurück. Ich hab mich gefreut, dich zu sehen. Aber zieh dir das nächste Mal was über", augenzwinkernd hob er die Hand zum Gruß, bevor er sich umdrehte und den Vorgarten verließ, ohne sich nochmal umzudrehen.
Es dauerte einen Moment, ehe Alex kapierte, was da gerade passiert war. Er blickte dem Freund hinterher, bis dieser auf der Straße nicht mehr zu sehen war. Dann fuhr er sich durch die Haare, streifte sich endlich den Hoodie über und ging zurück ins Haus. Sein Vater wartete sicher bereits mit dem Essen. Wie zu erwarten, stellte er allerdings keine Fragen. Das schätzte Alex so an ihm, denn seine Mutter hätte ihn sicher sofort ausgequetscht und alles wissen wollen. Fragen, auf die ihr Sohn ihr gerade aber auch keine Antwort hätte geben können.
Der restliche Abend wurde erstaunlicherweise doch noch ganz entspannt. Sein Vater machte ihnen ein Bier auf und schaltete nach dem Essen im TV auf ein Fußballspiel. Danach redeten sie noch etwas, so tiefgründig wie schon lange nicht mehr, bevor Alex doch wieder merkte, wie müde er eigentlich war und sich in seine eigene Wohnung verabschiedete.
Zwei ereignislose Arbeitstage vergingen. Abends gelang es Alex, jeglichen Begegnungen mit Clemens während der Zuwendung für seine Pflanzen aus dem Weg zu gehen. Es ließ ihn aber nicht los, was Tobi gesagt hatte. Am dritten Abend wartete er so lange und gab vor, an den Blumen zu werkeln, bis sein ehemals bester Freund vorbeikam. Dieser blieb wie zu erwarten stehen, kam aber gar nicht dazu, ihm irgendeine neue Beleidigung an den Kopf zu werfen, weil Alex ihn davor unterbrach.
„Clemens? Lass uns mal reden. Ganz normal, okay? Tobi hat mit mir gesprochen und mittlerweile glaube ich, er hat Recht. Was sagst du?"
Fast traute sich Alex nicht, den anderen anzuschauen. Deshalb war er umso erleichterter, als er das „Ja" hörte, das Clem ebenso schnell über die Lippen kam. Fast schien es, als hatte der Braunhaarige nur auf diese Frage gewartet. „Tobi hat immer Recht", meinte er mit einem leichten Lächeln. „Wann passt es dir denn?"
Nach wie vor konnte Alex nicht einordnen, wie die beiden nun zueinander standen. Waren sie ein Liebespaar? Aber warum flirtete Tobi dann mit ihm? Oder war Tobi nun der gute Freund für Clem, der ihm in Alex mit dieser verhängnisvollen Nacht vor sieben Jahren verloren gegangen war? Sie verabredeten sich schließlich für den darauffolgenden Mittwoch, weil Tobi da anscheinend immer lange arbeiten musste, bei Clemens. Ob das so eine gute Idee war, konnte Alex im Nachhinein nicht mehr sagen. Einzig die Worte „Rede mit Clemens. Er macht sich Vorwürfe." hingen in seinem Kopf und er wusste, wenn er diese Chance nun nicht wahrnahm, würde er sie vielleicht nie wieder bekommen. Und die Fragezeichen würden bleiben.
Obwohl er solange wie möglich versucht hatte, das Treffen auszublenden, war Alex dann doch nervös, als er schließlich drei Häuser weiter vor verschlossenen Türen stand und die schwitzigen Hände an der Hose rieb, ehe er klingelte. Vielleicht sollte er doch umkehren... Es dauerte kurz bis Clemens die Türe aufriss und ihn fast schon schüchtern hereinbat. Wie lang er nicht mehr hier gewesen war, wurde dem jungen Gärtner nun erst so richtig bewusst. Klar, er war noch manchmal mitgekommen, wenn seine Eltern hier zum Grillen eingeladen waren, aber das Haus, geschweige denn die Räume seines ehemaligen besten Freunds hatte er seit der Nacht des Abiballs nie mehr betreten.
Zu seiner Erleichterung schien auch Clemens nervös, während sie diesmal in völlig neu renovierte Räume im unteren Stockwerk traten. „Setz dich doch", meinte er und bot ihm die Couch um den Tisch im Wohnzimmer an. „Magst du was essen? Trinken – Wasser, Cola, Bier?" „Nur Wasser bitte."
Clem stellte ihm eine Flasche Wasser hin und nahm sich selbst ebenfalls eine aus dem kleinen Kühlschrank in der Ecke des Raums, ehe er einige Minuten den Blick unstet durch den Raum schweifen ließ. Unangenehme Stille legte sich über die Szenerie, ehe er sich räusperte und kurz durchzuatmen schien. „Ich glaube, ich bin dir ein paar Erklärungen schuldig", begann er dann und sah auf den Boden.
„Allerdings! Warum die Bilder an deiner Wand? Bist du schwul? Warum hast du dann nie ein Wort gesagt? Und warum bist du einfach so verschwunden? Ist ja nicht so, als ob ich nicht noch versucht habe, dich zu erreichen. Aber du warst wie vom Erdboden verschluckt", brach es aus Alex heraus.
Bis vor zwei Wochen waren diese nagenden Gedanken tief in seinem Kopf vergraben gewesen und nun wieder ans Tageslicht gezerrt. Er wollte endlich Antworten. Hier und heute. Ehrliche Antworten. Sonst wusste er nicht, was er machen würde.
„Du hast ja Recht", seufzte sein Gegenüber. „Ich bin dir noch die ungeschönte Wahrheit schuldig. Wenn du danach erst recht nichts mehr mit mir zu tun haben willst, halte ich dich nicht auf. Aber ich kann sonst genauso wenig mit der Vergangenheit abschließen wie du." Ein weiterer Blick durch den Raum. Sie wünschten sich alle beide ganz weit weg und dennoch hatten sie diese Aussprache vereinbart. Nun würde also alles ans Licht kommen, auf das Alex seit Jahren eine Antwort suchte und doch keine fand. Zumindest hoffte er das.
Clemens schien sich noch einen Moment zu sammeln, dann begann er zu erzählen.
„Ich bin nicht schwul, keine Sorge. Also nicht so richtig zumindest. Ich fand Mädchen toll, finde Frauen immer noch anziehend – aber irgendwann habe ich festgestellt, dass ich Männer auch interessant finde. Also bi bin. So richtig gemerkt habe ich das, als du mit Seb zusammen warst. Auf den Partys andere Jungs geküsst hast. Du warst so offen! Bist nie mit der Tür ins Haus gefallen, aber hast trotzdem zu deiner Sexualität gestanden, wenn es drauf ankam. Und dann war da ich. Der es nie ausprobieren konnte, weil es niemand hätte mitbekommen dürfen. Deswegen dachte ich, wenn ich nur oft genug mit Mädchen schlafe, kann ich das kompensieren. Aber da warst immer noch du. Ich war verliebt in dich, Alex!
Wir sind zusammen zur Schule gelaufen, du hast mir erzählt, was du machst, wie es dir geht. Andere Jungs konnten das haben, was ich nie hätte haben können, jedoch testen wollte. Und ich wusste auch so, dass du unsere Freundschaft nie dafür aufs Spiel gesetzt hättest. Was hätte ich auch sagen sollen? Erst jahrelang nichts und dann glaube ich plötzlich, ich wäre schwul oder so was? Aber ich hatte einfach Angst, dass du mich irgendwann gegen einen anderen austauschen würdest, weil ich irgendwann merkte, wie stark ich eigentlich von dir abhängig bin. Heute weiß ich, das war völliger Bullshit, aber damals war ich wie besessen davon. Wenn ich dich nicht haben konnte, sollte das auch kein anderer. Egal ob nur als Freund oder mehr."
„Aber du hättest doch etwas sagen können. Was wäre denn so schlimm gewesen, wenn das jemand gewusst hätte?" Alex musste schlucken. Davon hatte er nie etwas geahnt. Nicht im Geringsten wäre er auf diese Idee gekommen. Ja, wenn er es so bedachte, irgendwann hatte sein Freund nichts mehr von seinen Affären, geschweige denn von zuhause erzählt. Beziehungsweise er hatte sich damit abgefunden, dass Clem es anscheinend nicht erzählen wollte. Aber dass das der Grund war, hatte er nie gedacht.
Doch Clem erzählte bereits weiter: „Ich konnte nichts sagen. Mein Vater hat mitbekommen, dass du schwul bist und meinte, er ist froh, dass ich „normal" bin. Aber als ich dann einmal ein Filmposter mit einem Mann als „hübsch" betitelt habe, war es vorbei. Er ist ausgeflippt! Nicht wegen dir, sondern weil er automatisch dachte, ich bin auch homosexuell. Er ist super kirchentreu – auch sowas, dass meine Eltern gekonnt verschwiegen haben, wann immer wir gegrillt haben oder so, erinnerst du dich? Er hat mich vorbeugend in ein Camp gesteckt, als wir im Urlaub waren. Ohne dass ich jemals irgendwas wirklich bestätigt habe. Als mein Opa, der Pfarrer war, starb, entwickelte er die völlig irrsinnige Idee, ich sollte in seine Fußstapfen treten und auch Theologie studieren. Aber wie soll das gehen, wenn du nicht weißt, was du bist? Keinen hast, dem du dich anvertrauen kannst? Und dann noch tagtäglich den Druck deiner Familie hast?
Ich wusste nicht, was ich machen soll und hab das in Partys und Alkohol umgewandelt. Und du hast mich wieder gedeckt, obwohl du gar nicht gemusst hättest! Aber meine Noten haben gelitten und das Abi war der Supergau. Mein Dad wollte nochmal mit einem Freund reden, ob man für die Unizulassung nicht noch was machen könnte. Ich wollte das alles nicht, aber er hat einfach nicht mit sich reden lassen. Da dachte ich, wenn ich mich jetzt richtig volllaufen lasse und den Frust vergesse... du hast mit Tobias geredet, wolltest mich auch nicht mehr. Und auf einmal stand ich auf diesem Tisch, hab getanzt. Der Rest des Abends ist ein Filmriss. Ich weiß nur noch, dass du mich nach Hause gebracht hast. Und am nächsten Morgen war da dieses Video. Meine Eltern haben es gesehen. Für die war die Pose eindeutig. Mein Vater hat mich hochkant rausgeworfen, ohne mich irgendwas erklären zu lassen. Zum Glück kam ich bei meiner Schwester unter und konnte mir ne Ausbildung suchen. Aber ich brauchte Abstand. Hätte dir nie schreiben können, weil ich den Tatsachen nicht ins Auge sehen konnte. Wer ich bin und was ich will.
Später habe ich durch den Job eine Freundin kennengelernt, die mir irgendwann schließlich eine Therapie empfohlen hat. Und so traf ich Tobi wieder. Er hatte in diesem Bereich studiert und in einer Praxis angefangen. Ohne ihn weiß ich nicht, wo ich heute wäre – er hat mir vieles gezeigt und erklärt. Zum Beispiel, dass das zwischen uns keine Liebe war, sondern ich einfach nur um jeden Preis Anerkennung haben wollte und dich irgendwie festhalten. Wie sehr das nachher schief ging, tut mir mittlerweile mehr als leid."
Stille legte sich über die Wohnung. Nicht mehr so bedrückend wie anfangs, dennoch dauerte es, bis Alex sich wieder gefasst hatte. Zu viele Worte, zu viel, was er erst einordnen musste, die Teile wie ein Puzzle zusammenfügen.
Er nahm einen Schluck von seinem Wasser. „Es ist viel Zeit vergangen seit damals. Hätte ich nur annähernd gewusst, was eigentlich in dir vorgeht. Du hast nichts gesagt und ich habe nicht gefragt. Ich denke, es wird noch dauern, bis ich dir verzeihen kann, aber ich bin froh, dass du endlich ehrlich warst."
Auch Clem hatte sich wieder etwas vom vielen Reden erholt. „Das haben wir wohl Tobi zu verdanken", bestätigte er. „Ganz ehrlich, ich bin gerade froh, dass du noch da bist. In meiner Vorstellung warst du spätestens jetzt nicht mehr da oder wir haben uns angebrüllt."
„So gut müsstest du mich kennen, dazu bin ich nicht der Typ. Aber eins muss ich doch noch wissen – Tobi und du, seid ihr zusammen? Ihr wirkt so vertraut."
Seit langem glitt wieder ein kurzes Lächeln über das Gesicht des anderen Mannes. „Er hat mir viel geholfen und wir sind auch privat mittlerweile ziemlich gut befreundet. Mehr haben wir ausprobiert, aber es hat nicht funktioniert. Er ist also frei für dich."
Alex gab sich Mühe, seine Freude darüber zu unterdrücken, aber er war sich sicher, dass dies nicht gut gelang. Trotzdem war er noch nicht ganz fertig mit fragen. „Und gibt es jemand anderen? Bist du glücklich?"
„Ja", kam es wie aus der Pistole geschossen. „Ich bin tatsächlich seit vier Jahren mit der eben erwähnten Freundin zusammen. Sabrina. Wir wollten es langsam angehen lassen, aber dann hat es wohl einfach sein sollen. Wenn ich wieder einen Job habe, möchten wir das Haus umbauen. Meine Ma ist zum Glück offen dafür, sie braucht nicht mehr so viel Platz, seit sie es endlich geschafft hat, sich von meinem Vater zu trennen und freut sich, wenn wieder mehr Leben im Haus ist. Und was ist mit dir?"
„Ich habe meine Wohnung bei uns unterm Dach, bin meistens glücklich mit der Arbeit. Mit einer so tollen Geschichte zu einem Partner kann ich allerdings aktuell nicht dienen."
Clemens musste kurz in sich hinein grinsen, sagte aber nichts zu Alex' letztem Satz. Warum, erfuhr der erst, als er kurz vor Mitternacht wieder vor den eigenen vier Wänden stand. Es war spät geworden, Clem und er hatten noch ein Bier getrunken, waren zu nicht ganz so ernsten Themen übergegangen und begannen langsam tatsächlich wieder, sich anzunähern.
Da stand vor ihm ein Stiefmütterchen in einem Topf auf der Haustreppe. Kurzerhand nahm Alex das Pflänzchen an sich und trug es mit in seine Wohnung. Da fiel ihm der Zettel zwischen den kleinen Blütenknospen auf. Er faltete das kleine Papier auf, auf dem in schräg geschriebener Handschrift stand:
„Hey Alex! Ein weiteres Stiefmütterchen hätte dir jetzt gerade noch gefehlt, oder? Deswegen möchte ich ein Hornveilchen in deine Obhut geben. Selbe Art, etwas andere Blütenform. Aber ich finde die Bedeutung mehr als passend.
Schon immer schätze ich an dir deine Bescheidenheit. Bisher warst du außerdem verschwiegen, hast trotz der großen Last dichtgehalten und euer Geheimnis nie verraten. Ich war damals zu feige, dir zu helfen – vielleicht hätten die Dinge dann einen ganz anderen Lauf genommen? Wer weiß...
Das dritte Merkmal des Hornveilchens ist Ehrlichkeit. Wenn du das liest, warst du schon bei Clemens und ihr habt euch hoffentlich ausgesprochen. Ich hoffe, diese Ehrlichkeit könnt ihr euch zukünftig bewahren, damit keiner mehr eine solche Schuld auf sich nehmen muss.
Ehrlichkeit, Bescheidenheit und Verschwiegenheit also. Ich bin mir sicher, du gibst „viola cornuta" ein gutes Zuhause. Vielleicht darf ich sie mal besuchen kommen? Würde mich freuen!
Hier wie versprochen meine Nummer: +4900123654
Tobias"
Alex war baff ob des kleinen Blümchens da vor ihm. Dennoch, nun erkannte er natürlich die leichten Unterschiede im Vergleich zu den Stiefmütterchen in seinem Vorgarten. Und die Bedeutung hatte er wirklich nicht gekannt.
Ein „Hey" schickte er noch ab an die Nummer auf der kleinen Botschaft, dann fielen ihm die Augen zu. Aber am nächsten Morgen bedankte er sich gleich ausführlich für die kleinen lila-blauen Blüten. Dass Tobi sich einige Nachrichten später selbst einlud, weil er sowieso noch eine Packung Mehl schuldig war, selbstredend kein Problem für Alex.
Denn vielleicht gab es auch für diesen Teil der Geschichte irgendwann ein Happy End. Wer wusste das schon – denn nicht immer bedeuteten Veilchen ein blaues Auge. Manchmal kamen sie auch mit lilanen Blüten daher und blickten mit grünen Augen direkt ins Herz.
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