Stephens Buch
"Wie konnte es sein, dass er das vor uns geheim hielt?", fragte ich mich und auch Martin hatte ein fragendes Gesicht. Ich blätterte in dem Buch und las eine Widmung darin, die mir schon wieder Tränen in die Augen trieb. "Für meine beiden Weggefährten, Amy und Martin...in Liebe für immer und ewig...und dann noch seine geschnörkelte Unterschrift.
Nun hatte auch Martin Tränen im Auge und wir hielten uns aneinander fest, sonst wären wir wohl beide umgekippt. Dann erhielten wir noch jede Menge Papiere, die wir unterschreiben mussten. Das Haus, wo wir meine Kanzlei und Martins Praxis einrichten wollten, hatte Stephen uns bereits gekauft. Er hatte wohl doch mehr verstanden als wir glaubten.
Selbst unter Morphium hatte er mehr mitbekommen und verstanden. Und welche Rolle spielte da der liebe Anwalt? Wie konnte er das Spiel mit den dreihundertfünfundsechzig Briefchen dulden, Stephen nicht verraten? Wir werden es wohl nie erfahren, wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.
Keine Chance, etwas zu ändern. Verträge waren ja bereits rechtsgültig. Was für ein Geheimniskrämer war Stephen? Doch es kam noch besser. Er hatte uns bei einer unserer Touren fotografiert und eben dieses Fotos befand sich jetzt im Buch. Ich konnte mich noch erinnern, dass er gefragt hatte, ob er es veröffentlichen darf. Also wieder alles rechtens.
Wie lange würde es wohl dauern bis man uns belagerte? Das Buch soll in einer Woche herauskommen. Das hatte Stephen alles noch schriftlich fixiert, gehörte zu seinem Vermächtnis. Ich wollte es so schnell wie möglich lesen, musste wissen, was in dem Kopf von meinem Bruder vorgegangen war.
Die Sätze waren anscheinend leicht aus dem Kopf meines Bruders geflossen, erkannte den Fluss der Wörter, seine ureigenste Ausdrucksweise, bestimmte Stichwörter. "Puh, noch immer über dreihundert Seiten"
Nun wussten wir auch, warum er immer etwas in ein kleines Heft gekritzelt hatte. Das waren seine Notizen fürs Buch. Erstaunt war ich, wie viel Wörter er in diesem Buch untergebracht hatte, siebenhunderteinundzwanzig Seiten voll mit seinen Gedanken, Emotionen, seinem viel zu kurzem Leben.
Viele Anekdoten, die wir gemeinsam erlebt haben, waren darin zu finden. Augenblicklich musste ich lachen, als ich etwas mir bekanntes las. Und Martin musste sich auch das Lachen verkneifen. Ja, wir hatten eine Menge zusammen erlebt, nur Stephen hatte es aufgeschrieben.
Unsere ganzen Schandtaten, gebannt auf weißes Papier in einer schnörkeligen Schrift. Doch dafür sollten wir uns nicht schämen, hatte er uns doch zusammen gebracht, den richtigen Weg gewiesen. Er, mein so starker Bruder, viel zu früh von dieser Welt gegangen.
Sein Buch, ein selbst geschaffenes Denkmal nicht nur für ihn, sondern auch für alle Kletterer. Unsere ganzen Touren aufgeschrieben für die Nachwelt. Alles verewigt trotz seiner eigenen schweren Krankheit. Er hatte uns ganz schön hinters Licht geführt, uns aber auch überrascht. Niemals hätte ich meinen Bruder das jetzt zugetraut.
Und auch Martin konnte sich nur über Fähigkeiten seines besten Freundes wundern. Ich hatte nur noch etwas mehr als einhundertfünfzig Seiten zu lesen, es gerade zu verschlungen, dieses Buch mit dem einfachen, aber alles sagenden Titel: "Mein Leben".
Ich erfuhr auch von seinem inneren Kampf mit sich. Nicht nur ein Mal wollte er schon aufgeben, doch er dachte an die schöne Zeit mit uns und an die vielen Berge, die er schon bezwungen hatte. Dadurch rappelte er sich ja immer wieder auf, bis es eben nicht mehr ging und kein Land mehr in Sicht war.
Und noch einhundert Seiten zu lesen, konnte das Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen. Da lag es nun in meinen Händen, ausgebreitet...das Leben meines Bruders Stephen. Doch wie war er wohl auf das Spiel mit der etwas anderen Schnitzeljagd gekommen, eben diese dreihundertfünfundsechzig kleinen Hinweise für uns?
Darüber fanden wir noch immer keine Notiz. Doch wie ich ihn kannte, würde er die noch irgendwo verstecken, die Auflösung dieses Spiels, was dann zur einzig wahren Realität mutiert war. Und jetzt waren es nur noch etwas zwanzig Seiten zu lesen.
"Stephen, verdammt...wo steht es denn nun?", fragte ich mich und murmelte das in meinen nicht vorhandenen Bart. Im Text kein Hinweis, aber bei der Danksagung, der letzten Seite, stand etwas nur für uns und keiner anderer würde es je verstehen.
Diese zwei Sätze sagten wirklich alles über uns drei aus. "Vielen Dank, dass ich ein Teil des Trios sein durfte und mit euch beiden so viel Spaß in luftiger Höhe haben durfte! Ich werde jetzt immer über euch wachen!" und schon wieder kullerten Tränen über mein Gesicht.
Als Martin das sah, nahm er mich in den Arm: "Was für ein Teufelskerl er doch war, bis in den Tod!" und Bewunderung klang in diesem Satz nach. Und ich schluchzte noch immer, war aber stolz auch ein Teil dieses Trios gewesen zu sein, auch wenn es dies nie wieder so geben wird.
Wir waren nur noch zu zweit, bereit den Kampf zusammen weiterzuführen. Für ein gemeinsames Leben, mit allen Ecken und Kanten. Wir wollten es schaffen, unsere Liebe bis in den Tod zu erhalten. Und wenn es der Plan von jemanden da oben ist, dass da vielleicht auch noch ein paar Kinder dazugehören sollten, warum nicht.
Doch jetzt standen erst einmal die Kanzlei und die Praxis im Vordergrund, die wir nun doch schon sicher hatten. Nur warum hatte der Makler nichts gesagt, uns nicht mal einen kleinen Hinweis gegeben? Alles war nur eine Farce, stand schon längst fest. Oh, was hatte uns mein Bruder an der Nase herumgeführt.
Doch wir waren im sehr dankbar dafür. Eine Sorge weniger für uns. Es musste nur noch der Umzug geplant werden. Doch dafür hatten wir noch ein paar Wochen Zeit. Die Handwerker hatten ja so einiges zu tun und auch das war schon längst alles abgesprochen worden, hinter unserem Rücken.
Auf der einen Seite konnte man darüber zwar wütend sein, doch auf der anderen waren wir ein wenig stolz auf ihn, dass er das so lange hat geheim halten können. Aber auch der liebe Anwalt musste sich wohl nicht nur ein Mal auf die Zunge gebissen haben, damit er nichts verrät.
Nur war uns jetzt klar, warum er mich immer unterstützte, als ich ihm sagte, dass ich dringend einen Ortswechsel bräuchte. Stephen war sein Mandant und er durfte uns keinen Hinweis geben. Nur hätten wir den Schlüssel nicht gefunden, dann...darüber wollten wir jetzt einfach nicht mehr nachdenken.
Stephen hatte uns überrascht und sitzt bestimmt gerade auf einer Wolke, schaukelt mit den Füßen und lacht sich gerade über unsere Gesichter, die wir gerade zogen, kaputt. So war er uns in Erinnerung und wird er auch immer bleiben. Eben ein spitzbübischer junger Mann, der ein großes Geheimnis hatte, dass wir jetzt gelüftet hatten.
Stephen...mein Bruder, mein Freund, mein Seelenverwandter, Mitglied eines Trios, das durch dick und dünn miteinander gegangen war. Und trotzdem hatte er es geschafft, etwas zu hinterlassen...ein Buch seines bewegten, wenn auch kurzem Leben.
Ich vermisste ihn noch immer und mein Kopf neigte sich gen Himmel. Unwillkürlich musste ich an ihn denken und schickte ein leises Gebet nach oben, hoffte dass er jetzt keine Schmerzen mehr spüren würde.
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