29 | Elawa Aikaterini Foxwish
Ambrose durfte die Krankenstation vor mir verlassen, aber er wartete trotzdem an der Tür auf mich, bis ich wieder aufstehen konnte. Und als ich mit wackligen Beinen in seine Richtung stolperte, hielt er mir sogar seinen Arm hin, damit ich mich aufstützen konnte.
Ich lehnte die Hilfe ab, schleppte mich allein bis zur Ecke wo ich in meinen Flügel abbiegen musste. Wir sprachen nicht. Es gab nichts zu sagen. Ambrose hatte mir das Leben gerettet.
Ich konnte ihn unmöglich verraten. Noch weniger, als ich es davor gekonnt hatte. Nicht, nachdem ich ohne ihn verdurstet wäre. Der Palast machte kein Geheimnis daraus, dass sie die Teilnehmenden, die es nicht aus dem Raum geschafft hatten, hatten sterben lassen. Sie hatten es uns gesagt, während wir auf der Krankenstation gelegen waren.
„Danke noch einmal", sagte ich, obwohl ich nicht wusste, ob ich mich bereits bedankt hatte. „Ich wäre wahrscheinlich tot ohne dich."
Ambrose hielt meinen Blick einen Moment zu lang fest. Er stand viel zu dicht vor mir und einen Moment lang glaubte ich, dass er sich zu mir hinunterbeugen würde. Einen Moment lang hoffte ich, dass er sich zu mir hinunterbeugen würde. Dass er mich küssen würde. Es wären nur wenige Zentimeter gewesen, die er hätte überwinden müssen. Nur wenige Zentimeter, die ihn davon trennten, meine Welt in Bruchstücke zu zerschlagen.
Ich wusste, dass es gefährlich war, wenn er mich küsste. Dass ich die Kontrolle verlieren würde, für die ich so hart gekämpft hatte.
Aber ich wollte es trotzdem. Ich wollte ihn.
Ich hatte versucht, es abzustreiten. Geglaubt, ich könnte ihn ausliefern, um meine Familie zu retten. Was ich hätte tun sollen. Was ich immer noch tun sollte.
Aber ich wollte ihn. Ich wollte das Eis in seinen Augen zerbrechen, um die Splitter zu einem Puzzle zusammenzusetzen, das irgendeinen Sinn ergab. Ich wollte ihn verstehen, seine Sprache sprechen lernen. Und ich wollte, dass er mich küsste. Ich hatte noch nie so sehr gewollt, dass jemand mich küsste.
„Das wäre sehr schade", sagte Ambrose.
Ich blinzelte. „Was?"
„Wenn du tot wärst." Ohne auf meine Antwort zu warten, drehte er sich um und ging den Flur entlang zu seinem Flügel. Ich sah ihm nach, berührte meine Lippen mit den Fingern.
Ich wusste nicht, warum ich gewollt hatte, dass er mich küsste. Wir waren Fremde. Vor zwei Tagen hatte ich ihn noch verraten, ausliefern, in den Tod schicken wollen. Er war ein Werwolf. Er war gefährlich.
Und trotzdem.
Trotzdem vermisste ich ihn, wenn er nicht mehr neben mir stand. Wenn ich seinen Atem nicht mehr auf meiner Haut spürte.
Die Uhr in unserem Zimmer zeigte acht Uhr an, als ich die Tür öffnete. Tai saß auf dem Bett und las ihr Buch. Ich musterte das Cover. Es sah nach einem Roman aus, war schmutzig, die Seiten zerfleddert. Ich fragte mich, woher sie es hatte und warum es so besonders war, dass sie es in den Palast mitnahm. Zuerst hatte ich gedacht, es wäre eine Art Tagebuch, aber sie schrieb nicht rein. Sie las nur.
„Du hast überlebt", stellte Tai fest.
„Wegen Ambrose", sagte ich nur und setzte mich auf mein Bett. Der Brief, den ich an meine Familie hatte schreiben wollen, lag neben mir und ich sah die wenigen Worte an, die ich bis jetzt geschrieben hatte. Ich wusste weniger denn je, was ich ihnen sagen sollte. Eine Entschuldigung? Weil ich sie hätte retten können und es nicht getan hatte? Wenn ich ihnen das schrieb, würden sie mir wahrscheinlich ein für alle Mal verbieten, nach Hause zurückzukehren.
Aber ich wusste nicht einmal, ob ich das wollte. Ob die Hütte meiner Familie überhaupt ein Zuhause war. Weil viel zu viel passiert war. Weil ich meine Herkunft verraten, mich selbst verloren hatte. Und jetzt auch noch meine Gefühle für Ambrose der Möglichkeit vorzog, sie zu retten.
„Denkst du, ich habe irgendeine Chance bei Ambrose?"
Tai starrte mich an, eine Mischung aus Überraschung und Belustigung in ihrem Gesicht. „Das kommt ganz darauf an. Willst du denn eine Chance bei Ambrose?"
Ich vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich weiß es nicht", nuschelte ich. „Ich kann nicht mehr klar denken, wenn er in der Nähe ist."
„Das ist mir auch passiert. Ich war jahrelang ausschließlich ein rationaler Mensch. Habe mir nicht erlaubt, irgendetwas zu fühlen, weil ich geglaubt habe, dass meine Gefühle nur Dinge kaputtmachen konnten. Und dann habe ich Riya kennengelernt."
Ich sah hoch. „Wer ist Riya?"
Tai lächelte traurig. „Meine Freundin. Oder vielleicht Exfreundin. Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen."
Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ich hatte noch nie Gefühle für jemanden. Nicht solche Gefühle. Und das hier ist die falsche Situation."
„Vielleicht gibt es keine richtige Situation."
„Wie meinst du das?"
„Dass wir nicht planen können, wann und in wen wir uns verlieben. Vielleicht willst du alles unter Kontrolle behalten, aber so funktioniert das nicht. Wenn du denkst, dass du dich nicht in Ambrose verlieben und trotzdem zur Leibgarde gehören kannst, musst du dich eben entscheiden, was dir wichtiger ist."
Ich hätte ihr gern gesagt, dass das nicht so einfach war. Dass es keine Entscheidung zwischen Ambrose und der Leibgarde war, sondern eine Entscheidung zwischen Ambrose und meiner Familie.
Zwischen einem Mann, den ich kaum kannte, aber von dem ich trotzdem das Gefühl hatte, ihn ein wenig zu verstehen. Zumindest den Teil von ihm, der gebrochen war. Der alles verloren hatte.
Und Menschen, von denen ich das Gefühl hatte, sie noch weniger zu kennen. Die mich jahrelang ignoriert hatten, aber selbst wenn sie mir angerufen hätten, hätte ich das Telefon nicht abgenommen.
Andererseits musste ich ohnehin versuchen, zur Leibgarde zu gehören, wenn ich nicht sterben oder im Kerker landen wollte. Aber wenn ich so tat, als würde nur mein eigenes Leben auf dem Spiel stehen, fiel es mir viel leichter, das für Ambrose zu riskieren.
„Dann findest du, ich sollte es mit Ambrose versuchen?", fragte ich.
Tai verzog das Gesicht. „Ich verstehe nicht, warum es überhaupt Ambrose sein muss. Der Typ ist nur Muskeln und kaum Charakter. Aber wenn es dich glücklich macht."
„Wir tun hier so, als wären seine Gefühle für mich in Stein gemeißelt. Ich weiß nicht einmal, ob er mich nicht nur nervig findet." Ich lachte. Es tat gut, mit Tai über solche Dinge zu reden und mich abzulenken. „Außerdem hat Ambrose mehr Charakter, als du denkst."
„Ich bin mir sicher, das hat er. Und sein Aussehen spielt auch gar keine Rolle", erwiderte Tai sarkastisch. „Aber im Ernst, ich habe gesehen, wie Ambrose dich ansieht. Wenn er in der Lage ist, für irgendjemanden Gefühle zu entwickeln, bist es du."
„Ich weiß nicht, ob er überhaupt dazu in der Lage ist."
„Du musst es zumindest probieren. Auf eine seltsame Art und Weise würdet ihr irgendwie zueinander passen." Tai grinste.
„Wie du und Keavan", sagte ich, um sie aufzuziehen. Ich wusste, dass sie nichts von Keavan wollte, auch wenn die beiden viel Zeit miteinander verbrachten. Tai hatte mir bereits vor einigen Tagen erzählt, dass sie lesbisch war, auch wenn sie ihre Freundin nie zuvor erwähnt hatte. Ich wollte sie gerade danach fragen, als die Tür zu unserem Zimmer aufgerissen wurde. Ambrose und Keavan stürmten herein- Beide waren blass geworden. Sie sahen zuerst zu den Kameras, dann zu Tai und mir.
„Jemand Weiteres ist umgebracht worden", sagte Ambrose.
„Was?" Tai sprang von ihrem Bett herunter. „Seid ihr sicher, dass er nicht verdurstet ist?"
„Ja. Er wurde abgestochen. Er lag auf dem Flur, der vom Raum, in dem wir eingesperrt waren, zur Krankenstation führt", sagte Keavan. „Der Mörder muss das Chaos ausgenutzt haben, als wir aus dem Raum gelassen wurden, um ihn umzubringen."
„Und wer ist das Opfer?", fragte Tai.
Keavan rieb sich den Nacken. „Der Typ, der gesagt hat, dass er der Mörder ist."
„Warum würde man so etwas tun? Selbst wenn der Typ nicht der Mörder war, hätte man ihm die Schuld in die Schuhe schieben können!", sagte Tai.
„Wahrscheinlich will er, dass man weiter nach der Aschefee sucht und er Hinweise mitbekommt, mit denen er sie ausliefern kann."
„Aber woher weiß er, dass der Typ nicht die Aschefee war?"
„Ich weiß es nicht. Jedenfalls wurde dieses Mal keine Asche am Tatort gefunden." Keavan ging im Raum auf und ab. „Aber wir sind zu spät dran fürs Essen."
„Es gibt Essen?", fragte Tai.
„Für die, die nicht auf der Krankenstation liegen, schon", sagte Keavan. Dann drückte er die Türklinke hinunter und wir folgten ihm aus dem Raum.
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