22 | Ambrose McLaren

„Was hast du dir dabei gedacht?" Ambrose knallte die Tür hinter sich zu.

Keavan lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Bett und starrte die Decke an. „Ich war es nicht", sagte er nur und klang dabei beinahe gelassen.

Ambrose sah sich im Zimmer um, um sich zu vergewissern, dass es bis auf Keavan und ihn leer war. „Natürlich warst du es nicht. Deswegen wurde auch Asche am Tatort gefunden", sagte er dann.

„Trotzdem kein Grund, mich auf dem Flur erwürgen zu wollen."

„Ich habe auch sonst einen Grund, dich auf dem Flur erwürgen zu wollen." Ambrose biss die Zähne zusammen. „Aber darum geht es nicht. Wenn du auffliegst, werden sie mich verdächtigen, mit dir zusammengearbeitet haben. Sie werden mich fragen, ob ich gewusst habe, dass du eine Aschefee bist, weil ich mir ein Zimmer mit dir geteilt habe. Und was soll ich dann sagen? Nein? Das macht mich nur noch verdächtiger."

„Ich war es trotzdem nicht!"

„Woher stammt dann die Asche?"

Keavan presste sich eine Hand gegen das Gesicht. „Warum fragen das alle? Es gäbe keine Leiche mehr, wenn es eine Aschefee gewesen wäre. Die Leiche wäre buchstäblich in Asche verwandelt worden."

„Aber wer war es dann?"

„Ich weiß es nicht. Jemand, der der Aschefee die Schuld in die Schuhe schieben will. Vielleicht war es auch der Palast selbst. Ein weiterer Test. Aber egal, wer es war, jetzt werden die Investigationen anfangen und wir müssen vorsichtiger sein denn je. Fürs Protokoll, du hast mich mit Tai im Bett erwischt."

Ambrose zog die Augenbrauen zusammen. „Bitte was?"

Ausgerechnet in diesem Moment wurde die Tür geöffnet und ein Wächter in der bordeauxroten Uniform des Palastes betrat den Raum. „Verzeihung", sagte er und klang dabei nicht, als würde es ihm wirklich leidtun. „Ich muss hier eine Kamera installieren."

„Eine Kamera?", fragte Keavan. Ambrose suchte nach Angst in seinen Augen, fand aber keine.

„Warum bei uns?", fragte Ambrose.

„Wir installieren sie in allen Zimmern. Der Palast will die Aschefee finden." Ohne eine weitere Erklärung zog der Wächter einen Stuhl heran, um sich an einer der oberen Ecken des Zimmers zu schaffen zu machen.

„Aber wenn Sie das so offensichtlich installieren, denken Sie nicht, dass die Aschefee vorsichtiger sein wird?", fragte Keavan.

„Dann wird das die Aschefee hoffentlich davon abhalten, weitere Morde zu begehen, bis wir sie gefunden haben." Der Wächter zog sein Handy aus seiner Hosentasche und überprüfte auf dem Bildschirm, ob die kabellose Überwachungskamera, die er angebracht hatte, das Zimmer filmte. Dann steckte er das Handy wieder ein und stellte den Stuhl zurück auf seinen Platz. „Man sieht sich", sagte er, bevor er das Zimmer verließ.

Keavan und Ambrose warfen sich einen langen Blick zu.

„Also, wo waren wir?", fragte Keavan dann.

„Bei der Tatsache, dass ich es immer noch nicht fassen kann, dass Tai etwas von dir will." Ambrose klang nicht so überzeugend, wie er gehofft hatte.

Keavan lachte. „Mich überrascht das gar nicht."

„Gehen wir schon mal ins Esszimmer?"

„Ja. Ich hab Hunger."

Die Tür zum Esszimmer war noch verschlossen, weswegen sich Keavan und Ambrose spontan entschieden, zum Zimmer von Tai und Ella zu gehen, in der Hoffnung, dem Chaos, das immer noch im Männerflügel herrschte, zu entkommen. Sie erreichten das Zimmer der Mädchen einige Minuten später und öffneten die Tür, ohne zu klopften.

Tai und Ella lagen auf ihrem jeweiligen Bett. Tai las ein Buch, während Ella etwas schrieb, was wie ein Brief aussah.

„Was macht ihr denn hier?", fragte Tai und klang nicht besonders glücklich, die beiden zu sehen.

„Nachfragen, ob sie bei euch auch schon eine Kamera installiert haben." Keavan schloss die Tür hinter sich und Ambrose.

Tai runzelte die Stirn. „Eine Kamera? Warum das denn?"

„Weil sie die Aschefee finden wollen", sagte Keavan.

„Sind sie sich überhaupt sicher, dass die Aschefee es war? Ist das nicht sogar eher unrealistisch?", fragte Ella.

„Danke!", rief Keavan. „Nicht mal Ambrose hat das begriffen."

Ella zog die Augenbrauen zusammen. „Warum ‚Nicht einmal Ambrose'?"

Ambrose warf Keavan einen bedrohlichen Blick zu, einen von der Sorte, die aussagte, dass er ihn töten würde, wenn er weitersprach. „Ach, nur so", versuchte Keavan, zurückzurudern, aber es war zu spät.

Ella sah von ihrem Brief hoch und musterte Ambrose. „Dein Mondtattoo ... du warst nicht draußen, als alle sich in der Nacht betrunken haben ... deinen Zusammenstoß mit einem Werwolf, den du irgendwie überlebt hast ..." Sie lachte nervös, aber Ambrose hörte, dass es kein echtes Lachen war. „Man könnte fast meinen, du bist ein Werwolf", sagte sie.

Keavan fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Tut mir leid, es ist zum Teil echt schwer, den Überblick zu behalten, wer was weiß!", verteidigte er sich.

„Du machst alles nur noch schlimmer!", fuhr Ambrose ihn an.

„Wie, wer was weiß?", fragte Tai. „Was weißt du denn alles?"

„Dafür, dass du ein Assassine bist, bist du ganz schön schlecht darin, Geheimnisse für dich zu behalten", kommentierte Ambrose.

„Dass ich ein Assassine war."

„Nicht war. Bist. Wenn du ihnen verrätst, dass ich ein Werwolf bin, verrate ich auch deine Geheimnisse."

„Ambrose ist ein Werwolf?", fragte Tai.

„Keavan ist ein Assassine?", fragte Ella zeitgleich.

„Ihr dürft uns nicht verraten", sagte Keavan. „Sonst verrate ich Tai."

Ella starrte Tai an. „Wieso Tai?"

„Nichts! Hör nicht auf ihn! Er ist ein Assassine! Sicher ist er auch die Aschefee!" Panik schwang in Tais Stimme mit.

„Vielleicht bin ich die Aschefee, aber wenigstens habe ich nicht mein Haus abgefackelt!", rief Keavan. Ausnahmsweise gelang es ihm nicht mehr, seine lockere Fassade aufrecht zu erhalten.

„Woher weißt du das?" Tais Stimme überschlug sich beinahe.

Keavan zog selbstgefällig einen Mundwinkel hoch. „Ich weiß vieles."

„Aber du hast am Anfang trotzdem nicht gewusst, dass ich ein Werwolf bin", sagte Ambrose.

„Dann bist du jetzt wirklich ein Werwolf?", fragte Ella. „Warum werde ich hier eigentlich über alles im Dunkeln gelassen? Ihr scheint alle alles übereinander zu wissen und ich weiß gar nichts!"

„Vielleicht weil auch niemand von uns etwas über dich weiß." Ambrose ballte die Hände zu Fäusten. Er wusste nicht, warum ihm das so sehr zusetzte. Ella war niemand. Sie bedeutete nichts. Es hätte ihm egal sein sollen, dass er praktisch nichts über sie wusste. „Was ist deine Vergangenheit? Warum bist du hier? Und woher hast du diesen furchtbaren Haarschnitt?", fragte er ein wenig zu laut. Seine Wut nahm ihm die Luft zum Atmen, nicht nur Wut auf Ella, sondern Wut auf alle hier, weil sie ein Spinnennetz aus Geheimnissen konstruierten, bei dem wenn jemand in Gefahr geriet, alle in Gefahr gerieten.

Ella griff sich an den Kopf, etwas in ihrem Blick zerbrochen, Eis in ihrer Stimme. „Raus aus meinem Zimmer", sagte sie.

„Nur zu gerne." Ambrose drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen, aber Keavan hielt ihn am Arm fest.

„Hiergeblieben. Wir klären das jetzt, damit niemand irgendjemanden verrät", sagte der dunkelhaarige Junge.

Ambrose riss seinen Arm los. „Wir haben alles geklärt."

„Ambrose, versprich mir ...", setzte Tai an, aber Ambrose hatte bereits die Tür geöffnet und einen Schritt aus dem Zimmer gemacht. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie Keavan Tai einen Blick zuwarf, wahrscheinlich die Bitte, sich darum zu kümmern, dass Ella ihn nicht verriet, dann stapfte Ambrose den Flur entlang.

Scheinbar waren sie jetzt alle Verbündete. Aber er wollte keine Verbündeten. Hatte nie Verbündete gewollt. Er war immer ein Einzelkämpfer gewesen, weil man sich auf andere Menschen nicht verlassen konnte. Sie belogen einen, betrogen einen, enttäuschten einen. Und in diesem Fall spannen sie ein Netz aus Lügen, in dem es unmöglich war, den Überblick zu behalten.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top