„Wir haben wieder nichts verkauft, oder?"

Bücher sind mein Leben.

Meine Liebe zu geschriebenen Werken begann schon, als ich nicht einmal lesen konnte. Meine Eltern mussten mir jeden Abend mindestens eine Geschichte vorlesen, wenn nicht sogar mehrere. Nur dann konnte ich ruhig und friedlich einschlafen. Als ich dann endlich die Kunst des Lesens beherrschte, las ich selbst in jeder meinen freien Minuten. Irgendwann wurde es sogar so schlimm, dass meine Mutter alle Bücher vor mir verstecken musste, weil ich nichts anderes mehr tat, als mich in den Welten der unterschiedlichen Geschichten zu vergraben. Meine Noten wurden grausam und sowas wie ein soziales Leben besaß ich nicht mehr. Freunde hatte ich noch nie wirklich welche gehabt, dafür war ich zu still und zurückhaltend. Aber mit den Büchern war es noch schlimmer geworden, denn ich verließ das Haus bald gar nicht mehr. Meine Mutter zog Konsequenzen daraus und verbot mir meine einzige Leidenschaft. Allerdings zog ich mich daraufhin nur noch mehr zurück, weshalb sie schließlich doch wieder nachgab und mir meine Bücher wieder erlaubte. Nicht ohne mich zu warnen, dass sie es durchziehen würde, würden sich meine Noten noch mehr verschlechtern. Also gab ich mir größte Mühe in der Schule und schaffte schließlich sogar mein Abitur, zwar nicht mit Bestnote, aber immerhin. Aufgrund meiner Liebe zu Büchern und dem geschriebenen Wort war dann auch die Wahl meines Studienfaches nicht schwer: Ich schrieb mich für Literaturwissenschaften an der örtlichen Hochschule ein. Was ich mit meinem Studium anfangen wollte, wusste ich bisher noch nicht wirklich, aber das war eh zweitrangig, denn zumindest wusste ich, dass ich etwas tat, was ich gerne mochte. Besonders mein Vater verstand das nicht, er sagte mir immer wieder, ich solle doch etwas „Richtiges" studieren. Was „Richtig" war, konnte er mir aber auch nicht sagen. Also ignorierte ich ihn und seine Kritik. Bis heute, wo ich kurz vorm Ende meines Studiums stand.

An all das dachte ich, während ich behutsam über den Buchrücken von J.K. Rowlings Harry Potter und der Stein der Weisen strich. Ich hatte es einem Vater vorgeschlagen, der auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für seinen jüngsten Sohn gewesen war. Laut seiner Aussage war der kleine Mann gerade neun Jahre alt und hatte größtes Interesse an allem, was mit Fantasiewesen und Zauberei zu tun hatte. Da passte Harry Potter geradezu perfekt, wie ich fand. Dummerweise hatte der Vater dann doch einen Rückzieher gemacht, mit der Begründung, er wisse nicht, ob ein Buch das richtige Geschenk sei.

Ich seufzte.
Ich konnte die Entscheidung des Vaters nachvollziehen, denn leider freuten sich die Kinder heutzutage wirklich mehr über ein Spiel für den Computer oder die neuste tragbare Konsole als über ein schnödes, langweiliges Buch. Es machte mich nur sehr traurig, dass es so war. Der Wert von Büchern war in unserer heutigen, schnelllebigen Zeit immer mehr verloren gegangen und keiner wusste mehr zu schätzen, wie schön es war, es sich mit einem guten Buch vor dem Kamin gemütlich zu machen und in fremde Welten einzutauchen. Das konnte wesentlich spannender sein als es jedes Spiel der Welt zu sein vermochte. Bloß war ich mit dieser Ansicht ziemlich allein und kämpfte auf verlorenem Posten, was mir die gähnende Leere bewusst machte, die in dem alten Buchladen von Frau Meyer herrschte. Der unentschlossene Vater war der einzige Kunde am heutigen Nachmittag gewesen und würde es vermutlich auch bleiben, denn es war kurz vor 19 Uhr und damit bald Ladenschluss. Die Einnahmen beliefen sich auf gleich Null und auch wenn Frau Meyer es mir gegenüber mit keinem Wort erwähnt hatte, wusste ich, wie schlecht es um den Laden stand. Dass sie mich überhaupt noch bezahlen konnte, glich einem Wunder. Wobei ich vermutete, dass sie es sich eigentlich gar nicht mehr leisten konnte, es aber nicht übers Herz brachte, mich zu entlassen. Die Mittfünfzigerin und ich verstanden uns gut und ich arbeitete seit Beginn meines Studiums in dem kleinen Buchladen. Ohne diesen Job hätte ich längst zurück zu meinen Eltern ziehen müssen, da ich mir meine kleine Wohnung sonst mit dem geringen Bafög, dass ich bekam, nicht hätte leisten können. Frau Meyer wusste das und sie wusste auch, wie ungern ich meine Selbstständigkeit aufgeben wollte. Da sie ein herzensguter Mensch war, versuchte sie bis zum bitteren Ende, meine Arbeitsstelle zu erhalten. Meinetwegen.
Dass das bittere Ende aber bald gekommen war, zeigte mir ihr erschöpfter Blick, mit dem sie kurz drauf den kleinen Laden in einer Seitenstraße von Karlsruhe betrat.

„Hallo Ava", begrüßte sie mich und bugsierte einen schweren Karton durch die Ladentür. Das helle Klingeln, was beim Öffnen und Schließen der Ladentür erklang, steigerte mein wehmütiges Gefühl nur noch.

„Frau Meyer, Guten Abend!", begrüßte ich meine Vorgesetzte und eilte ihr entgegen, um ihr den augenscheinlich schweren Karton abzunehmen. Auch wenn sie noch nicht sehr alt war, sah man ihr deutlich an, dass sie vom Leben gezeichnet war und ihr besonders der Stress der letzten Wochen und Monate sehr zusetzte.
Sie überließ mir den Karton bereitwillig und ließ sich mit einem schweren Seufzen auf dem urigen, dunkelgrünen Ohrensessel nieder, der in einer Ecke stand und zum Stöbern in einigen Büchern einladen sollte, allerdings nicht mehr genutzt wurde.

„Danke, mein Mädchen. Das ist sehr lieb von dir", bedankte sie sich bei mir, höflich wie immer. Dann erkundigte sie sich, wie der heutige Tag verlaufen war. Es schmerzte mich, ihr sagen zu müssen, dass wir wieder keine Einnahmen gemacht hatten, weswegen ich nur betreten auf den Fußboden sah. Ich musterte das dunkle Pakett intensiv, als ob sich dort die Lösung für unser Problem befinden würde.

„Wir haben wieder nichts verkauft, oder?", hakte Frau Meyer leise nach.
Niedergeschlagen schüttelte ich langsam den Kopf, woraufhin die ältere Dame nochmals einen tiefen Seufzer von sich gab.

„Mach' dir nichts draus, Ava. Es ist nicht deine Schuld. Du bist die beste Verkäuferin, die ich mir für meinen Laden hätte wünschen können", sprach sie mir Mut zu, obwohl ihr ganz offensichtlich selbst die Hoffnung fehlte. Allerdings war es genau das, was sie ausmachte und weshalb ich sie so bewunderte. Egal wie schlecht es ihr ging und wie hoffnungslos die Situation war, sie kümmerte sich trotzdem rührend um alle in ihrer Umgebung und gab sich größte Mühe, damit sich niemand schlecht fühlte. Mir fiel dennoch auch auf, dass sie in der Vergangenheitsform von mir als Verkäuferin gesprochen hatte. Was das zu bedeuten hatte, wusste ich nur zu gut.

„Sie müssen den Laden schließen, oder?", fragte ich leise und betreten nach.

Meine Vorgesetzte nickte und sah mich bedauernd an.

„Es lohnt sich einfach nicht mehr. Ich habe bereits so viele Schulden, dass mir die Bank unmöglich noch einen Kredit gewähren wird. Und ich bin mit der Miete bereits zwei Monate im Rückstand. Und ein Großteil der Bücher, die sich hierbefinden, sind auch noch nicht bezahlt. Ich fürchte, dass wir nun wirklich am Ende angekommen sind", erklärte sie mir überraschend ehrlich. Es war das erste Mal, dass sie wirklich aussprach, wie schlecht es um meinen Arbeitsplatz gestellt war. Auch wenn ich es geahnt hatte, es war etwas ganz anderes, es von ihr zu hören.

„So leid es mir tut, mein Kind, aber ich fürchte, du wirst dir einen anderen Arbeitsplatz suchen müssen", gab sie von sich und sah mich mit ihren schmalen, grauen Augen entschuldigend an. Dabei musste sie sich nicht dafür entschuldigen, denn sie konnte genauso wenig etwas dafür wie ich. Es lag einfach daran, dass die Menschen kaum noch Interesse an Büchern hatten - zumindest nicht an solchen, wie wir sie hier in der kleinen Buchhandlung verkauften. Echte Klassiker eben. Wenn jemand las, dann nur noch die ganze, teilweise schlechte, moderne Literatur, die es in den großen Ketten zu kaufen gab. Richtige Ahnung von Literatur hatten eben nur noch die Wenigsten.

„Sie brauchen sich nicht dafür entschuldigen, Frau Meyer. Sie können doch nichts dafür!", teilte ich ihr auch sogleich mit und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter, die sie direkt dankbar tätschelte.

„Ach Ava, mein Mädchen. Wenn ich dich nicht hätte. Habe ich dir schonmal gesagt, wie dankbar ich dir bin, dass ich dich hier als meine Unterstützung habe?", erkundigte sie sich und sah mich mit dankbaren Blick an. „Du bist für mich wie eine Enkeltochter!", fügte sie noch hinzu, was auch mich ganz rührselig werden ließ. Da ich es nicht leiden konnte, wenn mich meine Gefühle übermannten, und mir gerade die Tränen in den Augen brannten, versuchte ich die Situation mit einem flapsigen Spruch zu überspielen.

„Frau Meyer, sie tun ja so, als wären sie schon uralt! Sie könnten locker meine Mutter sein!"

Die Mitfünfzigerin lachte kurz auf, aber es war nicht wirklich fröhlich, eher zynisch und irgendwie schmerzlich.

„Erinnere mich bloß nicht an meine Kinder. Das macht den Tag nicht gerade besser!", tadelte sie mich streng. Ich wusste, dass sie es nicht böse meinte, aber ihre Kinder waren ihr wunder Punkt. Ich hatte nicht viele Informationen darüber, nur, dass sie zwei von der Sorte hatte und sich weder ihr Sohn noch ihre Tochter oft bei ihr blicken ließen. Und das, obwohl sie meines Wissenstandes nach beide in der Stadt lebten.

„Entschuldigung", murmelte ich betreten und lehnte mich an den kleinen Verkaufstresen, den Blick erneut gesenkt.

„Schon gut, Schon gut, Kindchen. Das kannst du ja gar nicht wissen", ruderte sie zurück und stützte den Arm auf der Lehne des samtenen Sessels ab. Dabei wirkte sie so alt und gebrechlich, dass ich unwillkürlich sauer auf ihre Kinder wurde. Wie konnte man denn die Gesellschaft seiner eigenen Mutter so dermaßen meiden? Es war bereits Mitte Dezember und wenn ich Frau Meyer richtig verstanden hatte, kammen sie bloß im Mai zu ihrem Geburtstag, weil es die Höflichkeit so gebot und an Weihnachten, um sich ihre Geschenke abzuholen. Obwohl ich die beiden nicht kannte, konnte ich sie nicht leiden. Frau Meyer war so eine liebevolle Frau und ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb man sie nicht besuchen wollen würde.

„Weißt du, Ava, ich habe meinen Sohn vor Kurzem gesehen, als ich in der Stadt war. Er hat mich zuerst nicht mal wahr genommen, war mal wieder am Telefonieren, der Junge. Dann hat er mich gesehen, nur kurz gegrüßt und ist dann weitergeeilt. Als wären wir nicht mehr als flüchtige Bekannte! Dabei bin ich seine Mutter! Ich habe ihn unter Schmerzen auf die Welt gebracht..."
Sie schaffte es nicht, weiterzureden, und ihre letzten Worte gingen in einem herzerweichenden Schluchzer unter. Schnell eilte ich zu ihr und kniete mich vor sie, um ihr beruhigende und aufbauende Worte zu geben.

„Kopf hoch, Frau Meyer. Sie sind doch eine starke Frau! Ihr Sohn hat es gar nicht verdient, dass sie sich so schlecht wegen ihm fühlen. Er scheint ein furchtbarer Mensch zu sein, wenn er sich gar nicht für sie interessiert..."

Frau Meyer schluchzte von meinen Worten nur noch mehr, wie ich bestürzt feststellen musste.

„Sh, schon gut, schon gut", murmelte ich beruhigend.

Nach einer Weile hatte sich meine Vorgesetzte tatsächlich beruhigt und ich fasste einen Entschluss: Wenn ich schon nicht ihren Laden retten konnte, so wollte ich zumindest versuchen, herauszufinden, weshalb das Verhältnis zwischen ihr und ihren Kindern so schlecht war. Ganz vielleicht schaffte ich es ja, ihren beiden Kindern bewusst zu machen, was sie an ihrer Mutter hatten und wie traurig es war, dass sie einander nur so wenig sahen.

Das war ich Frau Meyer schuldig, wo sie doch so viel für mich getan hatte.

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