Kapitel 10: Ein Pferd der Wildnis

|Liandra|
Das Scheppern von Metall nimmt kein Ende. Wir sind wie versteinert. Ich habe das Gefühl mich nicht bewegen zu können oder erdrückt zu werden. Ein schrilles Wiehern zerreißt erneut die Stille, die sonst von uns ausgeht. Ein weiterer Schlag gegen Metall. Im nächsten Augenblick scheppert die Ladefläche laut auf den Asphalt. Schnell windet sich ein rabenschwarzes Pferd aus dem Hänger. Das Halfter hat er scheinbar schon im Anhänger zerrissen. Er schüttelt sich und lässt es somit über den Hof fliegen. Kurz darauf bäumt er sich auf und schlägt mit den Vorderhufen durch die Luft. Seine Augen sind weit aufgerissen, das eine ist tief schwarz, aber als er mit dem Kopf schlägt sehe ich, dass sein anderes Auge hellblau ist. Solch ein Auge habe ich noch nie an einem Rappen gesehen. Noch immer stehen alle wie festgewachsen an ihrem Platz. Als er mit den Hufen fest auf dem Boden aufschlägt, fühlt es sich an als würde eine starke Druckwelle durch den Boden fahren. Er steht mit gesengtem Kopf und angelegten Ohren da und blickt mich mit wilden Augen an.

Die Geräusche um mich werde abgedumpft und es hört sich an, als müssten die Schallwellen durch dickes Gelee dringen. Der Blick des Pferdes macht mich nervös und ist fast schon angsteinflößend. Die Silhouetten der Anderen bewegen sich nur ganz langsam und die Zeit kommt fast zum Stillstand. "Was ist los mit dir?" Ich horche auf. Diese Stimme ist plötzlich ganz klar und scheint von einer männlichen Person zu kommen. "Was?", frage ich perplex. "Er hat dich gefragt, was mit dir los ist, Süße!" Dieser Satz kommt jetzt allerdings von einer weiblichen Stimme und ich spüre wie mir eine zarte Hand auf die Schulter gelegt wird. Schnell drehe ich mich in die Richtung aus der die Stimme kommt. Nach dieser Drehung klappt mir der Mund auf und ich reiße die Augen auf. Hinter mir stehen doch tatsächlich Aphrodite und ihr Mann Hephaistos: Die Götter zu denen ich eine starke Bindung haben. Ihr Körperumrisse sind klar zu erkennen und als ich die Augen etwas zusammenkneife erkenne ich schwach die Silhouetten der anderen Götter von denen ich abstamme. Ich erkenne sie, weil sie mir, als ich noch ein kleines Mädchen war, sogar ziemlich oft in meiner Hütte im CHB erschienen sind. "Warum zeigt ihr euch jetzt erst? Warum erst nach fast zehn Jahren?", frage ich sofort. "Ach Liandra, in den letzten Jahren hat sich im Olymp viel geändert. Zeus hat nach dem Angriff auf das Camp veranlasst, dass wir erst wieder zu dir können, wenn du volljährig bist.", antwortet Hephaistos. "Wo wart ihr dann während dem Kampf am Strand? Ich bin schließlich nicht erst seit heute neunzehn!", erwidere ich. Meine Stimme erreicht nun einen säuerlichen Unterton. Ich bin wütend, weil meine 'Eltern' mich im Stich gelassen haben. Und einer von ihnen sogar verlangt hat, dass niemand von ihnen mich besuchen darf. "Aber Mäuschen, du musst uns verstehen. Wir hatten ebenfalls sehr viel in den letzten Wochen und Monaten viel zu tun. Schließlich wollten wir doch, dass deine Freunde auch sicher hier ankommen. Und am Strand hatten wir zwei zwar keine Zeit für dich, aber Poseidon und Zeus waren bei dir und haben ihre Hände schützend über dich gehalten. Und als du Skyfall retten musstest hat Hades dir geholfen, oder hast du gedacht, dass Bucephalos in wenigen Minuten an das heilende Königskraut gekommen ist. Wir waren alle bei dir und wir haben auch alle unser Bestes gegeben um dich zu beschützen. Sogar im ersten Jahr deiner Reise haben Hephaistos und ich dir versucht beizustehen, wurden allerdings nach einiger Zeit unvorsichtig und Zeus hat es mitbekommen. Er war der Meinung, dass du das schaffst. Er hat dir vertraut. Wie wir alle!", hält Aphrodite mir einen Vortrag. Tatsächlich habe ich mir über solche Kleinigkeiten nie Gedanken gemacht. Aber sie hat Recht. Ich war nie komplett alleine. Liebevoll schließt meine 'Mutter' mich in ihre Arme und ich erwidere ihre Umarmung. "Sie hat Recht, Lia. Wir haben immer versucht dich zu beschützen und dir mentale Stärke zu geben. Wir alle vertrauen dir und du solltest auch damit anfangen dir selbst zu vertrauen!", kommt jetzt von Hephaistos. Er wendet seinen Blick wieder zu dem Rappen, der noch immer stark pumpend dasteht und uns anstarrt. "Ich verstehe, dass dir dieses Pferd Angst macht, aber du hast eine starke Bindung zu den Tieren. Du kannst ihn ganz sicher beruhigen und ihn zähmen." Das gibt mir tatsächlich etwas Mut und ich löse mich von Aphrodite. "Er sagt die Wahrheit. Dieser Rappe ist ein Pferd der Wildnis. Wenn jemand ihn zähmen kann, dann du!", muntert Aphrodite mich auf. Meine Antwort ist ein selbstbewusstes Nicken und ich drehe mich wieder um. "Wir haben dich lieb! Wir kommen wieder!", höre ich noch dumpf.

Das 'Gelee' löst sich und ich werde wieder in die Realität geschmissen. Die Götter hinter mir sind verschwunden, aber ihre Worte hallen in meinem Kopf nach. Sie haben mir Mut gemacht und ich spüre immer noch wie ihre Blicke auf mir ruhen. Noch immer schaue ich dem Rappen tief in die Augen. Er atmet immer noch schwer und stellt sich erneut auf die Hinterbeine. Im Augenwinkel sehe ich, wie Alex sich etwas schnappt und auf das Pferd zuläuft. Leider checke ich erst zu spät, dass er sich ein Lasso genommen hat und versuchen will das Tier einzufangen. Das Pferd steigt bei den kläglichen Versuchen erneut und wird noch wilder. Ich renne dem jungen Mann hinterher. "Alex!", brülle ich ihm hinterher. Meine Stimme ist eine Mischung aus Angst und Empörung. Er blickt verwundert zu mir und damit habe ich mein Ziel erreicht. Naja, fast. Der Hengst nutzt diese Chance und bricht zur Seite hin aus.

Jetzt prescht er allerdings in vollem Galopp auf die Gruppe, bestehend aus Lisa, den Jungs, Blüte und Chrissy, zu. Sie alle stehen wie versteinert da, während das schwarze Pferd auf sie zugaloppiert. "Firefly!", rufe ich jetzt allerdings und mach auf dem Absatz kehrt. Mein Pegasus versteht zum Glück sofort und wirft sich zwischen den Rappen, der zum Glück eine Vollbremsung hinlegt, und die kleine Gruppe und bäumt sich auf. Sofort dreht das Pferd sich und rennt in eine andere Richtung weiter. Ich schnappe im Rennen einen Strick vom Boden und treibe den Rappen weiter in Richtung Reitplatz. Firefly versteht glücklicherweise direkt und steuert ihn auf der anderen Seite mit damit er nicht wieder ausbricht.

Auf dem Platz galoppiert das Pferd noch ein paar Runden und versucht weiterhin auszubrechen. Schnell schaffe ich es das Tor zu schließen. Nun ist er wieder sicher umschlossen. Er tobt immernoch wie besessen über den Sand. Sand und kleine Matschklumpen fliegen durch die Luft. Langsam bewege ich mich Richtung Mitte des Platzes. Ich schließe die Augen und lehne den Kopf in den Nacken. In meinem Kopf höre ich die Stimmen der Götter im Chor sagen:"Du schaffst das! Hör auf dein Gefühl. Dann wirst du es schaffen! Wir vertrauen dir!" Die Worte machen mir Mut und ich muss sogar lächeln. Der Anblick, die Kraft, die Anmut, die Schönheit, der Charakter und die Wildnis. Alles kann ich in diesem Geschöpf der Macht finden. Jetzt gibt es nur noch diesen Hengst und mich. Sein Galopp und seine Bewegungen sind rhytmisch und wunderschön, wie er mit dem Kopf schlägt, wie die Hufe auf den Boden schlagen, wie sein Fell in der Sonne glänzt und wie Mähne und Schweif im Wind wehen. Ich spüre wie er ruhiger wird. Sein Körper ist lockerer und er fliegt geradezu leichtfüßig uber den Boden. Er zeigt mir deutlich, dass er Spaß am Herumtollen hat. Er entspannt und pariert sogar in einen lockeren Trab durch.

Es dauert nicht lange und schon dackelt er im Schritt um mich herum. "Na, Hübscher?! Hast du dich ausgetobt?", murmele ich im zu und strecke eine Hand aus. In dem Moment muss hinter mir irgendetwas passiert sein, denn wie aus dem Nichts spannen sich seine Muskeln an und er steigt vor mir auf die Hinterbeine. Ich versuche langsam und vorsichtig ein paar Schritte nach hinten zu gehen. Aber tollpatschig wie ich bin stolpere ich über einen Sandhügel und fliege auf den Hintern. Das sieht der Hengst wieder als Gelegenheit und galoppiert los. Reflexartig krabbel ich rückwärts auf allen Vieren nach hinten. Mit dem Gesicht nach oben kann ich das Pferd im Blick halten.

Plötzlich knalle ich mit Nacken und Rücken gegen die Holzlatten von der Umzäumung des Reitplatzes. Der Hengst horcht auf und kommt jetzt gerdawegs auf mich zu. Ich bleibe wie versteinert auf dem Boden sitzen und höre nur noch wie jemand meinen Namen ruft. Der Rappe hat mich jetzt fast erreicht. Im nächsten Augenblick landet vor mir jemand, greift mich unter den Armen und hebt mich über den Zaun, wo eine zweite Person mich nimmt. Dann hastet die erste Person wieder über den Zaun. Keine Sekunde später knallt das Pferd fast mit der Brust gegen den Zaun und schnaubt uns wütend an. Schwer atmend liege ich in den Armen einer Person. Das Gespräch um mich herum dringt nicht zu mir hindurch. Meine Augen folgen dem nun wieder wild tobenden Tier auf dem Platz. Warum nur ist er plötzlich wieder losgeschossen? Ich hatte doch fast ein Band zwischen uns hergestellt, hatte schon seinen warmen Atem auf meiner Hand gespürt.

"Was ist passiert?", frage ich laut und die Anderen verstummen. "Nichts! Wir haben uns kaum bewegt.", sagt der Junge, der mich in den Armen hält. Jetzt realisiere ich, dass es Harry ist. Erschrocken rappele ich mich auf und drehe ich um. Er kniet noch immer auf dem Boden und sieht mich mit verwundertem Blick, wahrscheinlich auf meine plötzliche Reaktion, an. Ich werfe einen Blick zur Seite und denke, dass ich die Ursache des Ausrasters entdeckt habe: Am Zaun liegt ein Seil. Es muss der Strick, den ich eben noch hatte, sein, aber ich erinnere mich genau, dass ich es über einen Zaunpfahl gehangen hat. Es muss also wegen entweder einem Windstoß oder einer Bewegung am Holz heruntergefallen sein. Er hat es im Augenwinkel gesehen und für etwas Bedrohliches gehalten oder gedacht, dass er jetzt wieder gejagt wird. "Er hat Angst! Er ist nicht wild, er hat nur Angst!", murmele ich vor mich hin.

"Ich will hier am Zaun keine Bewegung und kein Gespräch mitbekommen! Verstanden?" Als Antwort kommt ein Nicken von allen Anderen. Ich drehe mich wieder um und klettere auf den Zaun. Der Hengst rennt wieder wie ein Gestörter über den Sand. Ich setze mich auf die oberste Holzlatte des Zaunes und beginne zu pfeifen. Eine Melodie, die mir vor einiger Zeit von den Elben des Düsterwaldes beigebracht wurde. Sie beruhigt mich und das versuche ich dann auf den Rappen zu übertragen. Am anderen Ende des Platzes wird er ruhiger und hält inne. Er steht da, mit erhobenem Kopf und gespitzten Ohren. Langsam lasse ich mich vom Zaun gleiten und komme leise auf, noch immer am pfeifen. Der Rappe dreht den Kopf in meine Richtung und blickt mich an. Sein Blick ist angsterfüllt und ich kann jetzt endlich herausfinden warum er solche Panik hat.

Ich verstumme. Das war wohl ein Fehler, denn er reißt den Kopf hoch und rennt wieder los. Diesmal allerdings bleibe ich entspannt und sinke langsam auf die Knie. Ich hocke jetzt also mit gesenktem Kopf im Sand und schließe die Augen. Meine Hände lege ich behutsam vor meine Knie. Deutlich spüre ich wie seine Hufe rhythmisch auf dem Boden aufschlagen. Erst ein deutlicher Galopp, aber dann wird er ruhig und in einem regelmäßigen Trab verkleinert er den Kreis um mich. Langsam hebe ich den Kopf und riskiere einen Blick. Ich erkenne die geballte und nur schwer zurückgehaltene Kraft in seinem Körper. Das Fell an der Flanke und an der Brust wellt sich schon leicht von dem Schweiß auf seinem Körper. "Es ist alles gut Junge! Du kannst mir vertrauen! Ich bin hier und passe auf dich auf!", sage ich ruhig und die Worte erfüllen ihren Sinn: Augenblicklich entspannt er und wird langsamer bis er nur noch Schritt geht und erleichtert abschnaubt. Ich muss lächeln. "Siehst du? Niemand hier will dir was Böses!" Er kommt immer näher auf mich zu und senkt den Kopf.

Vorsichtig strecke ich meine Hand nach vorne und er nimmt die Einladung an. Langsam kommt er auf mich zu und beschnuppert meine Hand. "Na also! War das denn so schlimm?", frage ich und lege meine flache Hand auf seine Stirn. Behutsam drückt er seinen Kopf dagegen und ich lasse ihn näher kommen, bis ich meine Stirn gegen seine lehnen kann. Tief atme ich den Geruch des Pferdes ein.

Ganz langsam versuche ich mich zu erheben. Er folgt mir mit seinem Kopf. Jetzt sind seine Augen nicht mehr voller Angst, sondern er blickt mir tief und warmherzig in die Augen. Ich drehe mich um und gehe langsam ein paar Schritte vorwärts. Und tatsächlich setzt er behutsam einen Huf vor den Anderen. Als ich dann seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren kann muss ich lachen und wie auf Kommando laufe ich los. Spielerisch wirft er den Kopf einmal in die Luft, wiehert kurz und läuft mir dann hinterher. Es ist fast als würden wir uns seit Jahren kennen. Er folgt mir und ich kann ihn mühelos führen.

Er ist nicht wild! Er braucht nur jemanden, der ihn versteht! Und den hat er jetzt gefunden!

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Soooo! Hier ist das nächste Kapitel. Ich weiß, dass es wieder echt lang geworden ist, aber irgendwie hatte ich wieder den übelsten Schreibefluss. Das nächste Kapi wird definitiv kürzer😂

Merry Christmas🎅

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