Silvesternacht einmal anders - Teil 2
Jeder Schritt schien für den Verletzten eine Qual zu sein und Adalberth spürte, wie er immer mehr Gewicht zu tragen hatte, bis er Ranberth praktisch neben sich her schleifte. Nach einer kleinen Ewigkeit und zwei kurzen Pausen erreichten sie endlich die krumme Eiche. Adalberth ließ den Verletzten an daran gelehnt zu Boden gleiten und schritt neugierig zum Waldrand. Er hatte sein ganzes Leben unter den Bäumen verbracht und die Aussenwelt nie zu Gesicht bekommen. Was er nun erblickte verschlug ihm die Sprache. Das silberne Licht des Mondes leuchtete auf scheinbar endlose Hügelkuppen, die sich wellengleich über das Land zogen. In dem kleinen Tal zu ihren Füssen erstrahlte die Siedlung der Menschenwesen in tausenden von Lichtern so hell, dass selbst die Sterne zu verblassen schienen. «Beeindruckend nicht wahr?» Ranberth lächelte erschöpft. Von seinem Platz aus konnte er die Siedlung nicht sehen, doch das musste er nicht. Als Bote der Königin war er durch das ganze Land gereist, um den verschiedenen Gnomenvölker Nachrichten zu bringen. Adalberth konnte sich nicht einmal vorstellen, was der alte Gnom alles gesehen haben mochte. Schwach deutete Ranberth auf den großen Stein, etwa einhundert Schritte vor dem Wald. «Schätze hier endet meine Reise. Ich habe weder die Schnelligkeit um dorthin zu kommen, noch die Kraft meinen Felsstaub zu schlagen. Doch ich danke dir Junge, so kann ich wenigstens den Nachthimmel betrachten, wenn ich sterbe.» Die Worte erschreckten Adalberth. «Du wirst nicht sterben! Ich bring dich lebend zu der Königin zurück und du wirst ihr einen Beutel voll Steinstaub überreichen!» Entschlossen packte er den Verletzten unter dem Arm und zog ihn auf die Beine. Ranberth versuchte sich von ihm loszureißen, doch ihm fehlte die Kraft dazu. «Lass mich hier, so bist du zu langsam. Der Raubvogel wird uns ohne Mühe erwischen!» Adalberth machte prüfend einige Schritte auf den Waldrand zu. «Da hast du recht, wir sind zu langsam.» Ranberth seufzte erleichtert auf und entspannte sich. Doch Adalberth würde nicht einfach aufgeben. Die Entschlossenheit des Veteranen hatten seinen Stolz geweckt. Eher würde er sterben, als ohne Ranberth und ohne Steinstaub vor die Königin zu treten. Seine Ehre erlaubte es ihm nicht anders. Seufzend setzte er Ranberth neben sich auf den Boden und nahm seinen Hammer vom Rücken. Noch heute Morgen hatte er sich einen Dreck um seine Ehre gekümmert und nun würde er wahrscheinlich dafür sein Leben lassen. «Den wirst du tragen müssen, mein Freund», er schnallte Ranberth den Hammer um und lud sich seinen Gefährten auf den Rücken, «halt dich gut fest alter Mann.» Ranberth schlang ihm die Arme um den Hals und kicherte. «Du bist absolut verrückt, Junge. Wie ist dein Name?» «Adalberth Sohn von Balderth dem Schuhmacher.» Ranberth klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. «Nun Adalberth, wollen wir hoffen, dass dein Vater sich auf sein Handwerk versteht.»
Ohne weitere Worte nahm Adalberth Anlauf und sprintete los an der krummen Eiche vorbei und unter den freien Himmel. Er nutzte alle seine Kräfte, den Blick hielt er stier auf den Felsen gerichtet. Nur einhundert Schritte, sagte er sich, nur einhundert Schritte. Doch kaum hatte er den schützenden Wald verlassen, legte sich einen Schatten über sie. «Einfach weiterrennen, ich kümmere mich um das Biest», rief Ranberth auf seinem Rücken, «denke ich.» Sie hatten beinahe die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als das Raubtier auf sie hinabstieß. Ranberth hatte den Hammer gezückt und hielt ihn fest mit beiden Händen. Die Klauen voran stieß die Bestie auf sie hinab. Adalberth hörte das Rauschen der großen Flügel, beinahe hätten sie es geschafft. Ranberth schwang den Hammer mit all seiner verbliebenen Kraft in die Höhe und es knackte fürchterlich. Adalberth hörte den verärgerten Schrei des Raubvogels und anstatt von den großen, messerscharfen Klauen in die Höhe geschleppt zu werden, erreichten die Gefährten einen schützenden Felsen. Erschöpft brach Adalberth in die Knie und die beiden blieben schwer atmend liegen. «Wir haben es geschafft», keuchte Adalberth ungläubig, «aber wie? Was hast du gemacht?» Ranberth grinste erschöpft und zeigte ihm als Antwort den blutigen Hammerkopf. «Habe dem Biest ein paar Zehen gebrochen. Der leckt sich jetzt erst seine Wunden.» Alle Kraft wich aus Ranberths Körper, er hatte seine letzten Reserven aufgebraucht. Alarmiert beugte sich Adalberth über den verletzten Gefährten. Sein Atem ging noch immer flach und Schweiß stand auf der glühenden Stirn. «Halte durch mein Freund, ich bringe uns sicher nach Hause.»
Er schnappte sich Beutel und Hammer und machte sich an die Arbeit. Der Stein war hart und Adalberth erschöpft, doch er ignorierte seine schmerzenden Muskeln, klopfte unermüdlich, bis die beiden Beutel zu bersten schienen. Zufrieden schnallte er sie sich um und hievte sich den Bewusstlosen auf den Rücken. Vorsichtig streckte er den Kopf unter dem Felsen hervor, doch der Vogel war nirgends zu sehen. So schnell es ging, rannte er zu der krummen Eiche hinüber, ohne dass sich der Raubvogel blicken ließ. Der Sicherheit wegen wäre Adalberth gerne auf dem vorgesehenen Weg zurückgegangen, doch Ranberth hatte nicht mehr so viel Zeit. Er musste schleunigst zu einem Heiler gebracht werden. Also schlug Adalberth den Weg ein, den sie schon vorhin genommen hatten. Er legte keine Rast ein und legte die Strecke möglichst rasch zurück.
Als ihr Heimatbaum in Sichtweite kam, legte er Ranberth vorsichtig auf den Boden. Der Verletzte wand sich und hatte übles Fieber. Doch Adalberth wusste, dass er es ihm nicht verzeihen würde, wenn er dies jetzt nicht tat. Also versetzte er Ranberth zwei harte Ohrfeigen, bis die Lider flatterten und schließlich aufsprangen. Ranberth's Augen huschten umher und er benötigte einen Moment, bis er Adalberth erkannte. «Wir sind fast zuhause, alter Freund. Ich dachte mir, du würdest gerne auf den eigenen Füssen vor die Königin treten.» Ranberth nickte dankbar und stützte sich schwer auf Adalberth's Schultern. Der Veteran schien sich nur noch mit bloßer Willenskraft bei Bewusstsein zu halten. Als die beiden durch das offene Tor schritten, streckten sie beide den Rücken durch und die Brust vor. Zusammen mit den beiden Gefährten strahlte auch das erste Morgenlicht in das Innere des Baumes und verkündete so das Ende des Rennens. Tosender Jubel brauste ihnen entgegen, das ganze Volk hatte auf den Galerien auf sie gewartet und auch die Königin stand noch immer pflichtbewusst an ihrem Platz. Langsam schritten Adalberth und Ranberth die Reihe der anderen Läufer ab und traten vor Königin Edelweiß. Kurz zeigte sich Entsetzen und Sorge auf dem Gesicht der Königin, als sie Ranberth's Zustand sah. Doch sie fasste sie rasch wieder und schenkte ihnen ein Lächeln. Adalberth nickte dankbar und kurz trafen sich ihre Blicke, ihre uralten Augen schienen ihm direkt in die Seele zu blicken. Ranberth regte sich an seiner Seite und Adalberth hielt an. «Die letzten Schritte muss ich selber gehen, mein Freund», flüstere er schwach aber entschlossen. Adalberth ließ ihn gewähren und der ehemalige Bote der Königin hinkte schmerzerfüllt die letzten Schritte zu seiner Herrin. Mühsam zwang er sich auf die Knie, Adalberth's Hammer trug er immer noch auf dem Rücken und reichte ihr seinen prall gefüllten Beutel. Die beiden wechselten kurz einige Worte, dann reckte die Königin den Beutel in die Höhe, damit alle Anwesenden ihn sehen konnten. Unter erneutem tosenden Jubel brach Ranberth endgültig zusammen und sofort waren zwei Wachen an seiner Seite. Wie ein Held trugen sie ihn auf ihren Schilden durch die Menge zu dem Palast.
Die Königin richtete ihren Blick wieder auf den jungen Adalberth. Erschöpft und schmutzig wollte Adalberth während des glorreichsten Momentes seines Lebens bloß ein Bad nehmen und eine Nacht durchschlafen. Er trat vor die Königin, kniete nieder und präsentierte ihr seinen Beutel. Seine Herrin nahm ihn entgegen und richtete einige leise Worte an ihn. «Wo ist dein Hammer, junger Adalberth, Sohn von Balderth dem Schuhmacher?» Adalberth war überrascht, ließ sich allerdings nichts anmerken. Er erwiderte das Lächeln der Königin. «Ich habe ihn leider auf dem Weg verloren. Zum Glück war der ehrenwerte Ranberth so freundlich mir den Seinen auszuleihen.» «Ich danke dir», hauchte ihm die Königin zu und reckte seinen Beutel in die Höhe. Als der Jubel verstummte erhob sie die Stimme. «Nun lasst uns unsere Helden gebührlich Feiern!» Sofort stoben die Massen auseinander, Tische wurden aus den Häusern gebracht, Becher weitergereicht und Speisen aufgetischt. Ungesehen von allen anderen wandte sich die Königin noch ein letztes Mal an Adalberth. «Ich erwarte euch in einem Jahr erneut zu sehen, junger Adalberth. Bestimmt wird Ranberth euch gut unterrichten.» Verwirrt blickte er zu ihr auf. «Unterrichten? Wozu denn, eure Majestät?» Sie lächelte ihn strahlend an und Adalberth glaubte sein Herz müsse zerspringen. «Na um mein persönlicher Bote zu werden natürlich. Ich bin sicher ihr werdet diese Aufgabe mit Bravour meistern.» Mit diesen Worten verschwand sie in der Menge und ließ einen überraschten und vor Stolz platzenden Adalberth zurück.
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