Silvesternacht einmal anders - Teil 1
«Die Läufer auf ihre Plätze!» Die Stimme des Ausrufers dröhnte durch das Innere des Baumes und überall verstummten die Zuschauer. Fünf traten vor, Seite an Seite und mit ernsten Mienen stellten sie sich auf. Und Adalberth war einer von ihnen. Seine Brust platze schier vor Stolz, er hörte, wie sein Volk ihm zujubelte. Erst in diesem Sommer hatte sein Bart die Brust erreicht und ihn so zu einem echten Gnomen gemacht, einen Erwachsenen. Ehrfürchtig blickte er nach oben. Über die ganze Höhe des ausgehöhlten Baumes waren Häuser und Galerien errichtet worden, die durch ein verwirrendes Netz aus Treppen, Leitern und Brücken verbunden waren. Nun standen auf jeder freien Fläche Gnome - Männer, Frauen und Kinder zugleich - und lauschten den Worten des Ausrufers. Von draußen war das entfernte Knallen der Donnerbüchsen zu hören, die die Menschen zum Jahreswechsel in den Himmel schossen. Adalberth hatte nur Geschichten über die riesigen Geschöpfe gehört. Angeblich hielten sie kein Rennen ab, um das neue Jahr einzuleiten und auch hatten sie keine Könige und Königinnen, sondern Präsidenten und Räte. Die Donnerbüchsen nutzten sie bloß, um deren Farbenpracht zu bewundern, wenn sie im Himmel explodierten. Adalberth verdrängte die Menschen aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf den Ausrufer. «So werden auch zu dieser Jahreswende wieder die Schnellsten und Mutigsten antreten, um die Tradition weiterzuführen. In einem Rennen Gnom gegen Gnom werden sie bis an den Waldrand zu der krummen Eiche eilen. Unsere Krähenreiter berichten von einem großen runden Felsen, welcher einhundert Schritte außerhalb des Waldes liegt. Ein jeder wird seinen Beutel mit dem Staub dieses Steines füllen und ihn seiner Königin überreichen. Doch Vorsicht», mit erhobenem Finger legte er eine dramatische Pause ein, «die Krähenreiter berichten von einem großen Raubvogel, der diesen Platz zu seinem Jagdgebiet auserkoren hat. Ihr müsst also äußerst Flink sein und den Steinstaub mit wenigen kräftigen Schlägen aus dem Stein zwingen.» Ein allgemeines Keuchen ging durch die versammelte Menge. Jedem Läufer wurden ein großer zweihändiger Hammer und ein kleiner Beutel überreicht. Respektvoll nahm auch Adalberth das schwere Werkzeug entgegen und hätte vor Aufregung beinahe gejauchzt. Er fürchtete den Raubvogel nicht, denn er war der Jüngste und schnellste unter den Läufern.
«Und nun», fuhr der Ausrufer fort, «unsere Majestät Königin Edelweiß!» Jubel brach in den Mengen aus, der die Gnome auf dem Boden beinahe taub werden ließ. Vor dem grössten Gebäude, welches auf dem Grund erbaut wurde und sich bis auf die Höhe der zweiten Galerie reckte, bildete sich ein Spalier aus Soldaten. Mit ihren Schilden, welche aus Eichelschalen gefertigt waren, hielten sie die aufgeregte Menge zurück. Die angeschliffenen Rattenzähne auf ihren Speeren wiesen sie als die Rattentöter, die Leibgarde der Königin aus. Als die Soldaten einen Gang durch die Menge, bis hin zum Ausrufer freigemacht hatten, blies die Wache am Tor in ihr Horn. Der tiefe, schwingende Klang stellte Adalberths Armhärchen auf, aufgeregt trat er von einem Fuß auf den anderen. Das Volk verstummte die weit entfernten Donnerbüchsen waren das einzige Geräusch, als die Königin aus ihrem Palast trat. Sie trug ein schlichtes weißes Kleid und die Krone, geflochten aus den Fasern ihres Heimatbaumes auf dem Kopf. Ihr schneeweißes Haar, welchem sie auch ihren Namen verdankte, wurde hinter ihr von sechs Mädchen in zwei Reihen getragen, damit es nicht über den Boden schleifte. Ihre Augen blickten freundlich in die Gesichter ihrer Untertanen, selbst wenn sie die spitze Nase in die Höhe reckte und keinen Zweifel über ihre edle Abstammung zuließ. Als sie den Ausrufer und die Läufer erreichte, hob sie die Arme und wieder brauste Jubel über sie hinweg. Als das Volk endlich verstummte, erhob sie ihre zarte Stimme. «Die Tradition besagt, dass der Sieger dieses Rennens für das kommende Jahr mein persönlicher Bote sein soll. Eine Position von großer Wichtigkeit und Ehre!» Adalberth reckte seine Brust, den schweren Hammer auf seinem Rücken spürte er kaum. Er würde dieses Jahr gewinnen. Der jüngste Bote in der Geschichte seines Volkes werden, dafür hatte er sein ganzes Leben lang trainiert, das war seine Bestimmung. «Nun tretet vor, beugt euer Knie und empfangt meinen Segen für das kommende Rennen.»
Der erste Läufer, der vor der Königin niederkniete und ehrfürchtig ihren Worten lauschte, war Ranberth. Der amtierende Bote der Königin., war ein Volksheld und seit sieben Jahren ungeschlagen. Ein langer ergrauender Bart und ein faltiges Gesicht zeugten von seiner unermesslichen Erfahrung. Nachdem Ranberth wieder an seinen Platz zurücktrat, kniete jeder Läufer nacheinander vor der Königin nieder, um ihren Segen zu empfangen. Adalberth war der Letzte und so aufgeregt, dass das Blut in seinen Ohren rauschte. Die Worte der Königin hörte er kaum. Mit vor Stolz geschwellter Brust und einem zufriedenen Grinsen trat auch er zurück in die Reihe. In seinem Kopf hatte er das Rennen bereits gewonnen, feierte seinen Sieg während des folgenden Festes. Speis und Trank würde in Unmengen aufgetischt werden und sie feierten den Sieger des Rennens, das neue Jahr und die Geister des Waldes, auf dass sie ihnen ein weiteres fruchtbares Jahr schenken mögen. Völlig in seine Tagträume vertieft, bemerkte er eine Bewegung an seiner Seite. Plötzlich stand er alleine da und die Zuschauer starrten ihn verwirrt an. Die Königin schwenkte noch immer die weiße Flagge, welche den Start des Rennens signalisierte und Adalberth begriff. Er hatte den Start verpasst.
Er verfluchte innerlich seine Tagträumereien und machte sich sogleich an die Verfolgung. Rasend schnell flitzte er ins Freie und auf den festgelegten Pfad, den die Läufer nehmen sollten. Es war bei weitem nicht der schnellste oder direkteste Weg, jedoch würden sie so keinem der riesigen Menschenwesen über den Weg laufen. Denn das oberste Gebot aller Gnomenvölker war es, ihre Existenz vor den Riesen geheim zu halten. Es war ein warmer Winter und so lag kein Schnee, sondern bloß wässriger Matsch auf dem Waldboden. Die kahlen Büsche am Wegesrand verschwammen zu braunen Schemen, als Adalberth so schnell es ging hinter den restlichen Läufern herrannte. Er brauchte nicht lange, bis sie in Sichtweite kamen. Zu seiner Überraschung lag Ranberth ein Stück hinter dem Rest zurück. Adalberth sah als einziger, wie der Veteran plötzlich zur Seite schwenkte und den sicheren Pfad verließ. Mehr durch Reflex, als durch eine bewusste Entscheidung schlug auch Adalberth einen Hacken und folgte ihm durch die Büsche. Ranberth hatte sieben Jahre hintereinander als Bote der Königin gedient, bestimmt kannte er eine Abkürzung. Mit genügend Abstand folgte Adalberth ihm und prägte sich den Weg genauestens ein. Auf dem Rückweg würde er den Alten in den letzten Metern überholen und ihm den Sieg unter der Nase wegschnappen.
Eine Weile konzentrierte Adalberth sich bloß auf den Rücken seines Gegners und die verschwommenen Wegmarken an den Seiten des Pfades. Dann geschah plötzlich das Unerwartete. Zwei Menschenwesen brachen aus den Büschen zu ihrer Rechten hervor. Adalberth sah sie aus sicherer Entfernung und konnte sich mühelos in Deckung bringen, doch Ranberth war bereits zu nahe. Die Ferse des ersten Riesen erwischte den Läufer in die Seite und er wurde wie eine Puppe durch die Luft geschleudert. Er landete in einem Gebüsch und blieb, verborgen vor den Augen der Menschen, auf dem Waldboden liegen. Schockiert eilte Adalberth zu dem verletzten Läufer. Ranberth war noch bei Bewusstsein und sah ihn überrascht an, als er an seiner Seite niederkniete. «Ich bin dir gefolgt. Ich dachte du kennst wohl eine Abkürzung», kam ihm Adalberth hastig zuvor. Ängstlich blickte er zu den Menschenwesen auf, doch diese schienen sie nicht bemerkt zu haben. Es waren ein Weibchen und ein Männchen, eng umschlungen während ihre Hände sich ständig bewegten. Die Münder hatten sie aufeinandergepresst und es sah aus, als ob sie sich gegenseitig die Zunge abbeißen wollten. «Sie scheinen miteinander zu kämpfen», flüsterte Adalberth fasziniert. Ranberth lachte kurz, dann verzog er vor Schmerz das Gesicht. «Du bist wirklich noch grün hinter den Ohren, Junge!» Adalberth öffnete beleidigt den Mund, schwieg aber als er Ranberth Verfassung sah. Das rechte Schienbein war gebrochen, der Fuß stand in einem grotesken Winkel davon ab. Außerdem schienen einige Rippen gebrochen oder zumindest geprellt zu sein, den Ranberth's Atem ging nur noch flach. «Ich muss dich zurück zum Baum bringen, dort kann man dich verarzten!» Doch Ranberth stieß ihn wütend von sich, was ein erneutes schmerzerfülltes Grunzen nach sich zog. «Vergiss es Junge, das Bein ist hin, da gibt's nichts mehr zu retten!» Mühsam versuchte er sich auf die Beine zu kämpfen, scheiterte aber kläglich. Adalberth verstand die Sturheit des Alten nicht. «Was soll das heißen? Du kannst den Waldrand so nicht erreichen, geschweige denn den Felsen! Du stirbst eher!» Ranberth sah ihn wütend an, in seinen Augen strahlte seine Entschlossenheit. «Dies wird mein letztes Rennen sein! Ich sterbe lieber, als hier aufzugeben und in Schande zum Baum zurückzukehren!» Adalberth erkannte den eisernen, unbeugsamen Willen des Veteranen. Er konnte ihn nicht umstimmen. Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust. «Na dann lass mich dir immerhin helfen, damit du nicht auf der Strecke bleibst, alter Mann.» Kurz sah ihm Ranberth in die Augen, dann lachte er wieder unter Schmerzen. «Du scheinst mir ein ganz schöner Dickkopf zu sein, Junge! Na schön, bring mir zwei gerade Stücke Holz und einige lange Grashalme», er blickte zu den Menschenwesen hinauf. «Zum Glück gehen die ordentlich zur Sache, da werden sie uns kaum bemerken.» Ohne Widerrede sammelte Adalberth die benötigten Dinge zusammen. Ranberth betrachtete die Sammlung und nickte zufrieden. «Jetzt müssen wir erst mein Bein richten. Ich will, dass du auf mein Zeichen an meinem Fuß ziehst, so fest du kannst.» Adalberth nickte zögerlich, er hatte noch nie einen Bruch gerichtet. Bestimmt würde es schmerzen. Ranberth nahm sich einen der Grashalme und faltete ihn mehrere Male. Dann steckte er sich den behelfsmäßigen Knebel in den Mund und umfasste sein Knie. Auf Ranberths Nicken hin, zog Adalberth mit aller Kraft an dem verletzten Bein. Der Knochen knirschte zurück in eine gerade Position und Ranberth stöhnte auf. Kurz schien er das Bewusstsein zu verlieren, ehe sich seine Augen wieder klärten. Er entfernte den Knebel und hielt die Zweige auf beide Seiten seines Schienbeins. «Jetzt nimmst du die Grashalme und bindest sie kräftig um mein Bein. Doch nicht zu fest, wir wollen nicht, dass mir noch der Fuß abstirbt.» Unter Ranberths Anleitungen band Adalberth drei Grashalme um die Schiene, um den Knochen gerade zu halten. Nachdem Ranberth einige Male prüfend daran gerüttelt hatte, nickte er wieder zufrieden. Schweiß stand auf seiner Stirn und sein Gesicht war aschfahl, doch er gab sich Mühe nichts anmerken zu lassen. «Hast du gut gemacht Kleiner, jetzt hilf mir auf.» Schwer atmend und auf Adalberth's Schulter gestützt, kam der Veteran wieder auf die Füsse. Seinen Hammer hatte er bei dem Sturz zum Glück verloren, sonst hätte es ihm wohl auch noch das Rückgrat zertrümmert. Der Beutel für den Steinstaub hing noch immer an seinem Gürtel. «Machen wir uns auf den Weg», grunzte er und machte den ersten Schritt.
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